Die Begegnung
Lyla
"Lyla, gehst du bitte auf den Markt, um Gemüse zu kaufen?", hörte ich meine Mutter von unten rufen. Sicherlich stand sie in der Kochstube und bereitete das Essen vor.
Augenblicklich schlug ich das Buch zu, in dem ich gerade gelesen hatte und erhob mich.
Es war schon eine recht alte Ausgabe und ich las sie bestimmt schon zum hundertsten Mal, doch es war nun mal mein Lieblingsstück - mein Einziges, um ehrlich zu sein. Deshalb war es auch schon ganz vergilbt und fiel beinahe auseinander.
Aber man sollte die Dinge schätzen, die man besaß. Das hatte mein Vater immer gesagt, wenn ich wieder einmal getobt hatte.
Somit lief ich die Holztreppen hinunter, eilte zu meiner Mutter in die Kochstube und küsste sie kurz auf ihre Wange, ehe ich mir unseren Korb vom Tisch schnappte. Er war selbst geflochten, das machte ihn für mich zu etwas Besonderem - mein erstes Stück.
Vorher hatte ich auf ganzer Linie versagt und es nicht einmal geschafft, drei Äste miteinander zu verflechten, ohne das sie brachen oder wieder in sich zusammenfielen. Meine Schwester Olivia hingegen übertraf mich auf diesem Gebiet in vollem Maße. Sie war ein Naturtalent.
Ich griff nach meinen grauen Mantel - der schon öfter von Mutter gestopft wurde, als mir lieb war - und machte mich ohne Widerworte auf den Weg zum Markt. Es war ein gutes Stückchen zu Fuß, da unser Hof am Rande von unserem Dorf Alysia lag. Doch ich genoss die Ruhe, die uns umgab. Das machte das Leben ein wenig leichter, obwohl es alles andere als leicht war. Das Leben in diesen Zeiten konnte durchaus schwer und nervenaufreibend verlaufen.
Und das lag einzig allein an unserem Herrscher. Unser Dorf Alysia lag im Königreich Bredinia, welches von Carter Montrose regiert wurde - oder sollte ich lieber ruiniert sagen.
Es grenzte an ein Wunder, dass ich loszog, um auf dem Markt Gemüse zu kaufen. Meist hielten wir uns nicht damit auf, die Mühe und das Geld zu verschwenden, ausgesondertes Gut zu kaufen. Meine Familie lebte größtenteils vom Handel.
Mein Vater war ein einfacher Bauer und meine Mutter arbeitete bei einer Schneiderin im Dorf, damit wir über die Runden kamen. Zudem halfen meine Schwester und ich auf dem Hof mit wo wir nur konnten: Wir molken die Kühe, verarbeiteten die Milch, streuten Saat mit unserem Vater aus und ernteten sie gemeinsam.
Mich nahm er auch gerne mit, wenn er mit den Nachbarn verhandelte. Vater sagte immer, ich würde es einmal weit bringen, da ich sein gutes Auge geerbt hatte und mich nicht so leicht unterkriegen ließ, wie die anderen. Er glaubte fest daran, dass mein Wille stark sei. Ich bezweifelte dies ein wenig, aber er meinte es ja nur gut mit mir.
Meine jüngere Schwester Olivia besuchte nicht einmal den Lehrmeister, der mir schon im jungen Alter lesen, schreiben und rechnen beigebracht hatte. Wir konnten es uns nicht leisten. Nur die Menschen der mittleren und der oberen Schicht konnten ihre Kinder zu einem Lehrmeister schicken.
Vor ein paar Jahren war das noch anders gewesen. Als die alte Königin noch lebte, lebte das ganze Volk im Wohlstand. Mir standen als junges Mädchen die Türen weit offen, sodass ich lernen konnte, mit Zahlen und Buchstaben umzugehen, um im Rang aufzusteigen. Aus eigener Erfahrung wusste ich, dass es nicht leicht war, einen Weg nach oben zu erklimmen.
Und bevor ich auch nur annähernd die Möglichkeit dazu gehabt hätte, verstarb die Königin ohne jeglichen Nachfolger, sodass ihr jüngerer Bruder ihr Amt übernahm und uns in Armut zurück ließ. Wir gehörten nun der Unterschicht an.
Zügig lief ich zum Markt, um das gewünschte Gemüse für meine Mutter zu besorgen. Mutter mochte es ganz und gar nicht, wenn ich trödelte. Und das kam schon häufiger vor. Viel zu oft träumte ich vor mich hin, verlor mich in der Beobachtung von seltenen Vögeln oder traf alte Bekannte und plauderte mit ihnen. Auch heute könnte Letzteres vorkommen.
Denn schon von Weitem erblickte ich Anna an einem Stand. Anna war eine ehemalige Freundin aus der Zeit, in der es uns besser ging und ich zum Lehrmeister geschickt wurde. Es waren nie viele Mädchen da gewesen, da wir zum niederrangigem Geschlecht gehörten, was meiner Meinung nach total absurd war. Wir waren alle gleich. Die meisten Kinder, die teilgenommen hatten, waren Jungen gewesen. Doch mein Vater und meine Mutter hatten keine Jungen bekommen, wie auch die Eltern von Anna, also sollten wir als Erstgeborene lernen, was es heißt, in dieser Welt zu überleben. Anna war nun Verkäuferin und handelte nebenbei mit Nachbarn zu guten Preisen.
Ich durchlief wie gewohnt den Torbogen, der mich ins Innere der Stadt führte und somit auch auf den Markt, der schon mächtig voll war.
Es waren einfache Wagen aus Holz - nicht sehr hochwertig, aber stabil und praktisch - aufgestellt worden und mit allerlei Gut befüllt. Hier konnten die Bewohner nur kaufen und nicht tauschen. Die Tauschgeschäfte fanden eher auf anderem Wege statt.
Das war alles, was uns wichtig war in unserer Heimat. Stabilität und Tauschgeschäfte- ohne die würde hier keiner überleben.
"Guten Tag, Anna.", begrüßte ich sie mit einem kleinem Lächeln. Sie sortierte gerade weiteres Gut ein, um zu zeigen, was sie anzubieten hat.
Sofort sah sie auf und lächelte mich ebenfalls an: "Schön dich zu sehen, Lyla. Was kann ich für dich tun?" Kurzweilig betrachtete ich das Gemüse, um zu sehen welches ich brauchte und deutete dann auf die Gurken.
"Ich hätte gerne zwei Gurken, drei Tomaten und ein wenig Lauch." Sie huschte um den Wagen zu mir herum, suchte nach dem Richtigen und übergab es mir. "Was bekommst du dafür?", fragte ich und deutete auf meine Einkäufe. Sie erwiderte freundlich: "Zwei Taler. Heute ist ein guter Tag."
Und den gab es äußerst selten. Doch sie hatte recht, es war ein guter Tag. Die Sonne schien, die Luft war rein und die Stimmung heiter. Ein Sommertag, wie er im Buche stand. Auch ich fühlte mich heute sehr gut. Vielleicht lag es daran, dass ich es wieder bis zu meiner Lieblingsstelle im Buch geschafft hatte, in der Mary und Lucas, die beiden Hauptcharaktere, endlich zueinander gefunden hatten und nun die ersten schönen Tage als Paar genossen. An dieser Stelle gefiel es mir immer am besten, wenn Mary von ihren Empfindungen gegenüber Lucas sprach und davon schwärmte wie sehr sie ihn liebte.
Ich war eine hoffnungslose Romantikerin, wenn es um Bücher ging. Und leider verlor ich mich viel zu häufig in meiner viel zu lebhaften Fantasie - sowie auch jetzt.
Benommen schüttelte ich den Kopf und gab ich Anna die Taler, verabschiedete mich und lief weiter über den Markt. Ich war nicht unbedingt ein Mädchen zum Tratschen, auch wenn es ab und an mal vorkam.
Zudem gab ich nichts auf Getratsche von den Leuten, denn sie kamen auf die wildesten Ideen, um die Leute bei Laune zu halten. Einmal wurde in der Stadt behauptet, dass Lissi, ein Mädchen von hier, vollkommen entblößt auf einem Esel durch die Stadtgeritten wäre. Ein anderes Mal behaupteten einige Mägde, dass der Sohn des König sogar eine Frau von niedrigem Rang heiraten würde, sollte er sich in diese verlieben. Und Mrs. Tanner, die Frau von unserem Hufschmied solle sich in der Kneipe so sehr betrunken haben, dass sie nur noch in einem Unterkleidchen auf dem Tresen getanzt hatte.
Alles völliger Unfug, da Lissi ein sehr religiöses Mädchen war und auch im Sommer bis oben hin zugeschnürt wurde, damit keiner der ungezogenen jungen Männer einen Blick auf ihre üppige Oberweite werfen konnte. Zudem hatte sie kaum Freunde und blieb den Tag und auch die Nacht im Haus, um Ärger mit ihren strengen Eltern zu vermeiden.
Zudem glaubte ich kaum daran, dass der König es zulassen würde, wenn sein Sohn ein Mädchen weit unter seinem Stand heiraten würde. Niemals!
Bei Mrs. Tanner jedoch war ich mir nicht so sicher, ob die Geschichte eine Lüge war, da sie gerne mal einen über den Durst kippte und zuletzt sogar beinahe den jungen William verführt hätte vor aller Augen.
Bei dem Gedanken musste ich lächeln und sah mich in unserer Stadt ein wenig um. Viele Dorfbewohner nutzten jetzt die Gelegenheit noch ein paar frische Lebensmittel für wenig Taler zu ergattern, bevor der König jegliche Nahrungsmittel für sich beanspruchte. Denn das würde er sicherlich in den nächsten Stunden tun, so wie jedes Mal, wenn eine neue Ernte reif war.
Gedankenverloren schaute ich zum versiegelten Brunnen, der mittig auf dem Marktplatz stand und dachte an die weiter ansteigende Armut unserer einst so schönen Stadt, als wie aus dem Nichts ein junger Mann gegen mich stieß und ich zu Boden glitt.
Mir fielen die Einkäufe aus dem Korb und ich fiel unsanft auf meine Hände.
"Auu", seufzte ich schmerzhaft, sah erst auf die abgeschrabbte Haut an meinen Handballen und dann auf den Boden. Der Boden war bedeckt mit sehr großen, einst sehr schönen grauen Pflastersteinen, die aber nun an einigen Ecken splitterten. Und genau auf eine dieser Ecken war ich gefallen.
Meine Hände sahen schon immer abgearbeitet aus, doch jetzt waren sie auch noch blutig dazu. Das würde bei weiterer Arbeit sicherlich brennen.
"Verzeih mir, es war keine Absicht.", gab der junge Mann peinlich berührt von sich und legte das Gemüse wieder in meinen Korb. "Pass das nächste Mal auf , wo du hinläufst oder denkst du, du wärst der Einzige auf dieser Welt?", erklang meine wütende Stimme.
Schnell erhob ich mich, klopfte den Staub von meinem blauen Kleid und riss ihm empört den Korb aus der Hand. Nun sah ich verärgert auf.
Oh mein Gott. Ich verfiel einen Moment später in seinen Anblick.
Strahlend blaue Augen, umrahmt von dichten Wimpern. Blonde Haare. Breite Schultern. Und auch sonst sah er nicht schlecht aus, sodass ich ihn längere Zeit einfach nur anstarren konnte. Wer war dieser Mann?
Als auch er mich aufmerksam musterte, wurde mir bewusst wie das aussehen musste und mich überkam sofort eine Spur von Scham, sodass mir die Hitze in die Wangen stieg und ich blinzelte.
"Verzeih meine Unfähigkeit. Wie lautet dein Name?", entgegnete der hübsche Junge höflich. Ich musterte ihn verwirrt. Wo kam er denn her? - Mit Sicherheit nicht aus dem Dorf. Denn so geschwollen sprach keiner hier. Nun gut seine Kleidung schien - nicht so wie meine - schon einige Male gestopft worden zu sein, sondern wirkte recht neu und hochwertig.
Ich versuchte ein Lächeln aufzusetzen. "Schon gut. Mein Name ist Lyla Jane und deiner? Ich hab dich hier noch nie gesehen. "
Seine Augen blitzten einen Moment lang vor freudiger Erregung auf und er hauchte meinen Name mit einem breiten Lächeln:"Lyla Jane."
Ehe ich ihn nach seinem Namen fragen konnte, wurden wir in unserem Gespräch unterbrochen. Auf dem Pflaster war schweres Getrappel von Pferdehufen zu hören. Alle Anwesenden wusste direkt Bescheid: Die Männer des Königs.
Ich zählte etwa sechs Reiter, die ohne ihre Pferde zu zügeln in eiligen Tempo durch das Stadttor sausten.
Was wollten sie hier? Etwa die Ernte ausbeuten oder gar die Steuern erhöhen?
Erst letzte Woche wurden die monatlichen Steuern von 8 Münzen auf 12 Münzen erhöht und meine Familie erwirtschaftete gerade einmal 30 Münzen im Monat, also etwa 60 Taler, wenn es gut lief. Es war eine Frechheit!
Kaum merklich schlich sich der Junge davon und flüsterte im Vorbeigehen: "Mein Name ist Matthew" Danach verschwand er am Ende der Straße um die Ecke und somit aus meinem Blickfeld.
Merkwürdig, dachte ich. Ließ dann aber von ihm ab und wandte mich den Reitern zu, die den Anschein erweckten nach etwas oder gar jemanden zu suchen.
Ob ein Sträfling geflohen war?
Als sie dem Anschein nach nichts fanden und davon ritten, machte auch ich mich bereit, den Rückweg anzutreten. Mutter machte sich bestimmt schon wieder Gedanken.
"Mutter, ich hab alles.", meinte ich zufrieden und trat in unser Haus. Sie lächelte ebenfalls zufrieden, nahm mir den Korb ab und begann das Gemüse zu schneiden. Ich half ihr natürlich dabei.
"Wieso hast du solange gebraucht? Ist Jason dir über den Weg gelaufen?", fragte Mutter neugierig und warf die Gurkenscheiben in des Kessel über der Feuerstelle. Diese Woche gab es Gemüse-Eintopf, ein altes Rezept meiner Großmutter.
Beschämt schüttelte ich den Kopf und antwortete zerknirscht: "Ein Junge ist mich umgelaufen und ich hab mich verletzt." Ich zeigte ihr meine Hände und sie schüttelte nur den Kopf.
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