Kapitel 8

Der Raum, in den sie trat war stickig und heiß, was kein Wunder bei der Anzahl an Menschen war, die sich allein im Erdgeschoss aufhielten. Kari nahm sich nicht die Zeit, um nachzuzählen, aber es mussten über fünfzehn sein.

Sie ließ den Schal von ihrem Kopf auf ihre Schultern gleiten und sah sich genau um. Es herrschte ein Dämmerlicht, denn die Fenster waren, wie es in Ataris üblich war, mit Stoffen verdeckt, um die Hitze so gut wie möglich auszusperren. Das Stockwerk war offen gehalten und es gab keine abgegrenzten Räume, sondern nur eine Wand, die sich halb durch das Zimmer zog und so eine Einteilung in verschiedene Bereiche nur andeutete.

„Komm mit", wies die Alte sie an und führte Kari hinter diese Wand, wo sie auf dem Boden ausgebreitete Matten und Kissen vorfand, die wahrscheinlich eine platzsparende Sitzgelegenheit darboten. „Setz dich."

Kari nahm auf einem der Kissen Platz. Am liebsten hätte sie es sich im Schneidersitz bequem gemacht, aber das Kleid, was sie trug, bot ihr dafür nicht die nötige Beinfreiheit und so machte sie es sich auf ihrem Unterschenkeln so bequem, wie es eben ging.

Niemand außer ihr befand sich in diesem Teil des Untergeschosses und die Wand bot einen Sichtschutz, sodass es ihr unmöglich war, die Leute auf der anderen Seite des Raumes zu beobachten.

Sie zu verstehen war ebenso nicht machbar. Auch hier kamen die durcheinander redenden Stimmen an, wie das Summen eines Schwarms von Bienen und nicht wie verständliche, artikulierte Laute. Sie wartete ab.

Die Alte war zu den anderen verschwunden, ohne ein weiteres Wort zu sagen und Kari war ganz auf sich allein gestellt. Im Zweifelsfall stand sie allein gegen die große Gruppe im anderen Teil des Raumes. Sie konnte zwar nicht beurteilen, ob es sich um fähige Kämpfer handelte, aber allein ihre Masse würde sie überwältigen. Und dann waren da noch die Berichte ihrer Gefährten, die sie eigentlich von der Torheit, die sie gerade beging, hätten abbringen sollen.

Kari scheuchte die Zweifel schnell wieder beiseite. Es war keine Gelegenheit dafür. Zweifel verursachten Niederlagen und eine solche konnte sie sich nicht leisten. Es war schon schlimm genug sich auszumalen, was sie erwartete, wenn sie Anvar wieder begegnete.

„Du ersuchst unsere Dienste", ertönte auf einmal eine tiefe, raue Stimme über ihr. Sie gehörte zu einem Mann, der sein Haar schulterlang trug, wie es im Norden Mode war, hatte aber sonst das für Ataris übliche Erscheinungsbild. Seine dunklen Augen taxierten Kari streng und sie musste sich dazu zwingen, nicht schuldbewusst wegzusehen, sondern ihn arglos anzublicken.

In diesem Moment war sie niemand anderes als eine junge Frau, die wollte, dass man ihre Verletzungen heilte. Er jedoch war der Mann von der Straße und sollte eigentlich nicht mehr am Leben sein.

„Das tue ich, Herr", antwortete sie ihm höflich.

Er begutachtete die Schwellung in ihrem Gesicht und ging dann in die Hocke, sodass sie auf Augenhöhe waren. „Das ist keine schlimme Verletzung. In wenigen Wochen wird es von alleine spurlos verschwunden sein."

„Es sind auch meine Rippen", entgegnete sie und fasste sich an die Seite, wo ein großer dunkler Bluterguss von ihrem Kleid verdeckt wurde. Die Stelle zu berühren schmerzte und sie verzog unwillkürlich das Gesicht. Gut so. Echter Schmerz unterstützte ihre Glaubwürdigkeit.

„Und du bist nicht gerne unansehnlich", fügte der Mann noch hinzu.

Sie nickte, obwohl ihr Äußeres eine ihrer geringsten Sorgen war. Wenn man die Königliche Akademie besuchte, konnte man froh sein, wenn man die Zeit fand, immer gepflegt und ohne Wunden zu sein.

„Dann werde ich sehen, was ich tun kann."

Der Mann setzte sich vor ihr hin, in derselben Position wie sie und streckte seine Hand nach ihr aus. Kari wich nicht zurück, sondern wartete ab. Mit seinen Fingerspitzen berührte er sanft die schmerzende Stelle an ihrer Rippe, fuhr vorsichtig daran entlang und sah dabei äußerst konzentriert aus. Sie war keine Heilerin, aber sie wusste, dass man das Ausmaß einer Verletzung so nicht ertasten konnte. Was tat er also?

Er wiederholte die Prozedur in ihrem Gesicht. Seine Hand war riesig und doch so sanft und vorsichtig, dass sie kaum etwas spürte.

„Wie vermutet handelt es sich nur um leichte Verletzungen. Ich werde sie jetzt heilen. Das Gefühl wird ungewohnt sein und ich muss dich bitten, still zu sein und ruhig zu halten. Sonst könnte ich mehr Schaden anrichten, als momentan vorhanden ist. Hast du verstanden?"

„Ja", sagte Kari und unterstützte diese Aussage durch ein knappes Nicken.

Ohne eine Vorwarnung legte er seine gesamte Handfläche auf ihre linke Gesichtshälfte. Sie konnte nicht sehen, ob er etwas tat, aber er schloss die Augen, sein Gesichtsausdruck wurde konzentriert und auf einmal begann das Prickeln.

Es war wie ein beginnender Juckreiz unter ihrer Haut, ein Gefühl, das sie so noch nie erlebt hatte und sie sich erneut fragen ließ, wozu diese Menschen in der Lage waren. Das hier war nichts, das sie sich erklären konnte. Es musste Magie sein. Und Magie hielt Kari als pragmatisch und realistisch Denkende für den Stoff, aus dem man Geschichten spann.

Ohne sich auch nur einen Millimeter zu bewegen, harrte sie in dem stickigen, halbdunklen Raum aus und wartete, dass es vorbei war. Irgendwann begann sie, um sich zu beschäftigen, zu zählen und als sie bei vierhundertdrei angelangt war, öffnete ihr Gegenüber seine Augen und nahm die Hand aus ihrem Gesicht, die dort mit solcher Selbstverständlichkeit verweilt hatte.

„Das Erste wäre geschafft", sagte er. „Es sollte alles wie vorher sein."

Als Kari das Ergebnis selbst befühlte, war sie mehr als erstaunt. Ihre Hand konnte keine Schwellung mehr ertasten und die Schmerzen waren fort. Sie war wie neu. Sie brauchte nicht einmal einen Spiegel, um sich des beeindruckenden Ergebnisses sicher zu sein.

„Vielen Dank." Mehr zu sagen, wäre falsch gewesen, denn geheilt zu werden, war nicht ihr primäres Ziel. Das durfte sie unter keinen Umständen vergessen.

Nun wandte er sich ihren Rippen zu und wiederholte das Prozedere. Zum Glück musste sie sich dafür nicht entkleiden und es reichte ihm schon, die Hand auf den Stoff ihres Kleides zu legen. Dieses Mal war das Prickeln deutlich stärker und teilweise ziepte es sogar kurz. Trotzdem ging auch dieser aufwändigere Vorgang schnell vonstatten und Kari wollte am liebsten sofort aufspringen und sich wieder frei bewegen, als sie bemerkte, dass der Schmerz sich auch hier in Luft aufgelöst hatte.

Sie kam nicht umhin zu lächeln. „Nochmals vielen Dank."

Dennoch blieb ein ungutes Gefühl zurück. Wenn dieser Mann in der Lage war, durch bloßes Auflegen seiner Hände zu heilen, welchen Schaden konnte er dann anrichten? Bis jetzt deckte es sich mit den Berichten der anderen Assassinen, die von ungewöhnlicher Heilung gesprochen hatten. Aber auch vom absoluten Gegenteil. Diese Menschen hier waren wahrlich eine Gefahr.

Und wie viele von ihnen waren wohl fähig, Übernatürliches zustande zu bringen? Wären es alle, käme es einem Todesurteil gleich. Kari war sich jetzt sicher, wichtige Informationen in Erfahrung gebracht zu haben. Anvar musste ihr dafür vergeben.

Aber auch jetzt war die Gefahr für sie noch nicht gebannt.

„Ich erfülle lediglich die mir vorbestimmte Aufgabe", erwiderte der Mann. „Und nun zur Bezahlung."

Eine Sekunde lang setzte Karis Herz aus. Sie hatte nicht daran gedacht, die Dienste dieser Leute bezahlen zu müssen. Es war lächerlich naiv von ihr gewesen, aber im Eifer des Gefechts übersah man die offensichtlichsten Dinge. Sie hoffte, dass das Geld, was sie bei sich trug ausreichte.

„Der Preis für diese Behandlung beträgt fünf kleine Münzen und deinen Namen."

Das Geld hatte sie dabei. Es war ein geringer Preis, wenn man bedachte, dass sie eine kleine Münze für zwei Portionen Eintopf bezahlt hatten. Ein lächerlicher Preis für die Gesundheit. Aber wieso wollte er ihren Namen als Bezahlung? Wenn er sich hätte vergewissern wollen, dass sie niemand war, der ihm schaden konnte, hätte er von vornherein fragen können.

Um Zeit zu schinden, holte sie den Geldbeutel hervor, den sie um ihren rechten Arm gebunden trug und holte die fünf Münzen heraus. Dann war die Zeit gekommen, sich zwischen Wahrheit und Lüge zu entscheiden.

Kari legte die kleinen Geldstücke aus einer minderwertigen Metalllegierung in seine ausgestreckte Handfläche. „Mein Name ist Kari Rakar."

Mit diesen Worten erhob sie sich. Ihr linkes Bein war eingeschlafen, aber sie ignorierte das Taubheitsgefühl und ging in Richtung Tür, ohne dorthin geleitet worden zu sein. „Auf Wiedersehen."

Es war ein befreiendes Gefühl das Haus wieder zu verlassen. Erst hier draußen fiel ihr auf, wie stickig es dort drinnen wirklich gewesen war. Ein Wunder, dass sie aus Sauerstoffmangel nicht in Ohnmacht gefallen war.

Kari zog den Schal wieder auf ihren Kopf und eilte mit gesenktem Blick die Straße entlang. Sie wollte diese Höhle voll Raubtiere so schnell wie möglich hinter sich lassen.

Erst jetzt im Nachhinein wurde ihr bewusst, was sie da eigentlich getan hatte und langsam meldete sich auch ihr Schuldbewusstsein. Es war kein Fehler gewesen, den sie begangen hatte, aber ein Risiko, dessen Wert sich nicht gelohnt hätte, wäre ihr auch nur ein kleiner Fehler unterlaufen.

Zusätzlich kannten diese Übermenschen nun ihren Namen. Es war kein großer Verlust, wie sie fand, denn niemand wusste, dass es seit gestern eine Assassinin gab, die den Namen Kari Rakar trug. Wenn der Mann nachforschen würde, stieße er lediglich auf ihre Abschlussprüfung bei der Akademie, der sie ihre Verletzungen zu verdanken hatte.

Und noch dazu wurde sie abgelehnt. Es war eine perfekte Gelegenheit, um gegen das Königshaus zu rebellieren, indem man die Dienste von Geächteten aufsuchte, deren Existenz der Öffentlichkeit zwar geheim, dem König selbst aber ein Graus im Auge war. Sie wähnte sich in Sicherheit und von diesem kleinen Detail würde sie den anderen auch nicht berichten.

Ihre Füße trugen sie zu ihrem Treffpunkt und nur wenige Schritte, nachdem sie in das Dunkel der Gasse getreten war, griff sie jemand grob am Arm und presste sie gegen die nächstgelegene Hauswand. Ihr erster Instinkt war es, sich zu werden, aber sie kam nicht gegen den starken Griff an. So nahm sie sich die Zeit zu gucken, wer es überhaupt war, der sie so unsanft behandelte und stellte fest, dass es Anvar war, der sie zornig anfunkelte.

„Du weißt, dass du einen großen Fehler begangen hast, nehme ich an?"

Sie schwieg. Er fuhr fort.

„Wage es ja nicht noch einmal meine Befehle zu missachten und so unser aller Leben zu riskieren. Hast du das verstanden?"

Sie schwieg weiter, ertrug seine vor Wut kochende, eindringliche Stimme und seinen harten Griff. Sie war sich sicher, dass sie wieder neue Blutergüsse bekommen würde.

„Das war keine rhetorische Frage. Ich möchte eine Antwort hören. Andernfalls können wir es auch hier und jetzt beenden."

Es schockierte sie, dass er andeutete bis zum Äußersten zu gehen, aber eine Antwort hätte sie ihm auch ohne diese Androhung gegeben. „Ich habe es verstanden und glaub mir, ich werde so etwas Dämliches nie wieder tun."

Er ließ sie los, ging einen Schritt zurück und verschränkte die Arme.

„Aber sieh dir mein Gesicht an. Es ist alles verschwunden. Ich spüre nichts mehr von den Prellungen. War es das nicht wert?"

Er schüttelte den Kopf. „Nein, eigentlich nicht. Außer, dass du jetzt wieder voll belastbar bist. Ich werde dich nicht bestrafen, weil es nichts gäbe, das ich tun könnte, ohne uns anderen zu schaden. Dafür wirst du in fünf Tagen mitkommen, als vollwertiger Teil unserer Gruppe. Du weißt ja jetzt, worauf du dich mit diesen Menschen einlässt und glaube ja nicht, dass wir dich mehr beschützen werden, weil du neu und ungeübt bist. Dass du bereit bist, Grenzen zu überschreiten, habe ich heute zur Genüge erkennen dürfen. Ich hoffe du setzt diese Eigenschaft ab jetzt klüger ein."

Mit diesen Worten drehte er sich abrupt um und ging mit schnellen Schritten los. Kari beeilte sich, ihm hinterherzukommen. Aber das stellte ja jetzt, wo sie körperlich wieder unversehrt war, kein Problem dar.

Anvars Zorn jedoch war noch deutlich spürbar und sie fragte sich, was in den nächsten Tagen alles auf sie zukommen würde. Dass es sich um die Vorbereitung für ein Selbstmordkommando handelte, versuchte sie schon jetzt zu verdrängen.

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