Kapitel 4

Anvar führte sie über Gänge nach draußen, die sie noch nie zuvor betreten hatte und anhand der dicken Staubschicht zu urteilen, die sich an Fackel- und Kerzenhaltern angesetzt hatte, auch sonst niemand zuvor. Den Weg erleuchteten sie sich mit einer Öllampe, die der Assassine bei sich trug, sodass das Sichtfeld nur in einem kleinen Lichtkegel lag.

Sie verließen das Akademiegebäude durch eine Tür, die in Richtung des Palastes lag, sodass Kari ein imposanter Anblick auf das auch bei Nacht hell erleuchtete, prachtvolle Gebäude bot, das die Perle der ro'akellischen Architektur war, die sonst eigentlich nicht existent war. Wer in so kargem Land lebte, hielt sich nicht lange mit prunkvollen Bauwerken auf, sondern baute so, dass es einem half, den widrigen Bedingungen zu strotzen. Einzig und allein die Königsfamilie wich von diesem Muster ab und stellte sich somit auf einfachem Wege über alle anderen, hob sich von ihren Bürgern ab und präsentierte so glasklar das Herrschaftsverhältnis.

Die Nacht war so kalt, dass Kari fror, obwohl sie sich in ihren Schal eingewickelt hatte und ihn so fest wie möglich um ihren Körper hielt. Anvars Kleidung glich der der Akademie und eigentlich hätte er in dieser auch frieren müssen, aber entweder tat er das wirklich nicht oder er ließ es sich einfach nicht anmerken.

Schnell hatten sie das Akademiegelände durch eines der kleinen Tore verlassen, die sofort auf die Gründe des Palastes führten und durch einen Garten, der trotz der Hitze noch nicht eingegangen war, setzten sie ihren Weg fort.

»Was ist, wenn die Wachen uns entdecken und auf uns schießen, weil sie uns für Eindringlinge halten?«, fragte Kari, die eine Wachablösung auf einem der großen Balkone, die an der gesamten Palastwand zu finden waren, beobachtete.

»Das werden sie nicht«, versicherte der Assassine ihr gelassen. »Das hier ist ein vielgenutzter Weg, vor allem bei Nacht. Hier kann man unbesorgt entlanggehen und die Wachen wissen, dass man Dinge für die Krone zu erledigen hat. Aber sag das nicht unseren Feinden.«

Kari konnte über diesen Witz nicht lachen. Sie würde sich selbst nicht als humorlos bezeichnen, doch ernste Angelegenheiten sollten als solche behandelt werden. Wenn man dies nicht tat, würde dann nicht gleichzeitig alles zu einem Witz werden?

Schweigend setzten sie ihren Weg fort und betraten den Sitz des Königs schließlich durch einen Dienstboteneingang, der nichts weiter war als eine schmale Holztür, die so unauffällig war, dass man sie vor allem bei Dunkelheit schnell übersah.

Dahinter erwartete sie allerdings ein gut beleuchteter Gang und Kari war sich sicher, dass es nicht gewöhnliche Bedienstete waren, die sich hier herumtrieben. Das hier war der Eingang für Spione, Leute die im geheimen wirkten und auch Assassinen.

Sie folgte Anvar durch ein Gewirr aus schmalen Gängen, die in alle Ecken des Palastes zu führen schienen, bis er schließlich vor einer Tür stehen blieb, die ebenso unscheinbar war wie der Eingang.

»Hier geht es zu unseren Räumen. Tritt ein.«

Anvar öffnete die Tür und ließ Kari den Vortritt. Al sie einen Fuß über die Türschwelle setzte, betrat sie nicht nur die Räumlichkeiten der Assassinen, sondern gleichsam die Welt des Palastes, wie sie in ihrer Vorstellung existiert hatte.

Sie befand sich in einem großen Raum, dessen Hinterfront große Fenster enthielt, die einen wunderschönen Blick auf eine von Menschenhand scheinbar unberührte Stelle des Flusses bot. Im Raum selbst gab es mehrere Sitzgelegenheiten und in seiner Mitte stand ein großer runder Tisch, in dessen Beine filigrane Muster geschnitzt waren, ebenso in die der passend dazu angefertigten Stühle. Sie mussten aus der Hand eines wahren Meisters stammen. Regale standen an den seitlichen Wänden und waren gefüllt mit Büchern und Schriftrollen, die ein Vermögen wert sein mussten. Erhellt wurde das Zimmer von diversen Feuerschalen und Kerzen, die in aus Silber gefertigten Haltern von der Decke hingen.

Es wirkte nicht so, wie Kari sich das Quartier einer Gruppe von Assassinen vorgestellt hatte, sondern freundlich, einladend und vor allen Dingen offen. Ganz so, als wolle man hier den Stolz der Krone zeigen. Allein dieser Raum weckte mehr den Eindruck eines Zuhauses, als das Haus ihrer Eltern es tat. Und anstatt einen Stich in der Brust darüber zu spüren, dass ihr altes Heim ihr so wenig bedeutet hatte, breitete sich ein warmes Gefühl an derselben Stelle aus, das ihr bestätigte, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.

»Ich denke, hier kann ich bleiben«, teilte sie Anvar mit, der mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen hinter ihr eingetreten war.

»Dafür, dass du eben auf keinen Fall mitkommen wolltest, wirkst du jetzt hellauf begeistert«, meinte er, sodass man das Lachen in seiner Stimme hören konnte. »Ich hätte dich wohl früher mit unseren Quartieren locken sollen.«

Kari verdrehte die Augen. Es war lächerlich, auch nur im Scherz anzunehmen, ein wenig Luxus könne der ausschlaggebende Faktor für eine richtungsweisende Lebensentscheidung sein.

Ein Schmunzeln huschte über das Gesicht des Assassinen, ehe er zu merken schien, dass es Kari missfiel, wenn er eine so lockere Haltung an den Tag legte und sich um eine ernstere Miene bemühte.

»Komm mit, die anderen beiden sind wohl in unserem Kellerraum.«

Er ging zu einer Tür, die versteckt zwischen zwei Regalen lag und Kari folgte ihm, weil es ihr nicht behagte, alleine in dem fremden Wohnraum zu warten. Ein idiotischer Gedanke, wenn man bedachte, dass sie auf dem sicheren Weg war, eine dem König direkt unterstellte Assassine zu werden.

Die Kellertreppe war nur schwach beleuchtet und Kari strich mit den Fingerspitzen an der rauen Mauer entlang, um den Weg hinunter sicher zu finden. Unten jedoch erwartete sie ein Zimmer, das heller erleuchtet war als der Wohnraum darüber. Sofort fielen merkwürdige Apparaturen auf Tischen und Regale voll mit Flaschen und Kästchen ins Auge, die sie an die Ausstattung einer Apotheke erinnerten. Ein eigenartiger Geruch nach Kräutern, die sie nicht zuordnen konnte, lag in der Luft.

Erst ihr zweiter Blick blieb bei dem Mann und der Frau hängen, die über einen kleinen Tisch in der Mitte gebeugt standen und ein beschriebenes Stück Papier musterten. Sie sahen erst auf, als Anvar einmal in die Hände klatschte, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen.

»Du bist zurück«, stellte der Mann, der vielleicht im Alter von Karis Vater war und dessen einst dunkles, schulterlanges Haar schon von grauen Strähnen durchzogen wurde, fest.

»Ich habe jemanden mitgebracht«, sagte Anvar, zweifelsohne prahlerisch. »Eine vielversprechende Absolventin der Akademie.«

»Und es ist eine Frau«, meinte die kleine Assassine. Ihre olivfarbene Haut und ihre mandelförmigen Augen, sowie ihr Dialekt ließen darauf schließen, dass sie aus dem Südwesten kam, einer Gegend karg an Bewohnern und Wohlstand, was die Frage aufwarf, wie sie an den Königlichen Hof gekommen war. »Ich hatte schon befürchtet, dass unser neuster Gefährte ein Kerl werden würde und ich meine Zeit weiterhin allein unter Männern verbringen müsste.«

Es erfüllte Kari mit einer gewissen Art von Stolz, als Frau bezeichnet zu werden, denn zuvor war von ihr immer als Mädchen gesprochen worden. Vor allem in ihrer Rolle als Schülerin der Königlichen Akademie als auch in der als Tochter. Und auch wenn Mädchen schon mit fünfzehn Jahren mündig wurden und sie diesen Geburtstag vor etwa vier Jahren gefeiert hatte, waren ihr bis jetzt fast alle Entscheidungen im Leben abgenommen worden. Hier würde man sie als die vollwertige Person respektieren, die sie war.

»Das hier ist Kari Rakar«, stellte Anvar sie den anderen beiden vor. »Kari, das sind Daeso und Itani.«

Kari nickte den beiden höflich zur Begrüßung zu, was von den Assassinen erwidert wurde.

»Es ist uns eine Freude, dich willkommen zu heißen«, sagte Itani stellvertretend für beide, denn Daeso hatte sich schon wieder über die Unterlagen gebeugt, schien voll und ganz in ihnen versunken zu sein, den Blick auf sein Gesicht vom graumelierten Haar verborgen.

»Womit seid ihr beide beschäftigt?«, fragte Anvar, der jetzt auch an den Tisch trat, um das dort ausgebreitete Kartenwerk zu begutachten.

»Wir haben einen neuen Auftrag bekommen«, teilte Itani ihm unbefangen mit, als stünde Kari, eine völlig Fremde, nicht wenige Schritte von ihr entfernt

Auch Anvar schien Karis Anwesenheit mit einem Mal nicht mehr wahrzunehmen, denn statt der Sicherheit, mittels der er versucht hatte, ihre Gunst zu gewinnen, hatte sich regelrechte Bestürzung in seine Stimme geschlichen. »Schon wieder?«

»Schon wieder«, gab die Assassine seine Worte bestätigend wieder. »Es kommt mir so vor, als hätte der König ein neues Nest mit Leuten entdeckt, die er aus dem Weg schaffen will. Aber sie haben aus dem Tod ihrer Vorgänger gelernt und sich ein deutlich besser bewachtes Quartier zugelegt.«

Anvar runzelte die Stirn. Es schien ihm ganz und gar nicht zu gefallen, was er da hörte. »Konnten euch die Beschatter keine genaueren Informationen beschaffen?«

»Nein«, antwortete der Assassine namens Daeso und blickte für einen kurzen Moment auf, versank dann aber wieder in seinen Gedanken.

»Sie wollten uns nicht mehr sagen und konnten es auch nicht«, ergänzte Itani mit wenig Verständnis in der Stimme. »Sie fürchteten selber, entdeckt zu werden und es hat ihnen gereicht zu wissen, dass die Gruppe mit der anderen zusammengearbeitet hat. Sie konnten es dem König berichten und der musste keine zweite Sekunde drüber nachdenken, uns den Auftrag zu erteilen.«

Unausgesprochene Fragen brannten auf Karis Zunge, während die Luft um sie herum erkaltete.

»Dann werden wir es eben alleine erledigen müssen«, meinte Anvar. »Und ich nehme an, es soll möglichst schnell vonstattengehen?«

»Ja. Ich habe persönlich mit dem König gesprochen und er meinte, es hätte höchste Priorität. Er war so ernst, dass er nicht einmal versucht hat, mich für sein Bett zu gewinnen.«

Bei dieser Bemerkung, die Kari sich selbst unter allen Umständen verbissen hätte, huschte ein Grinsen über Anvars Gesicht, durchschnitt die Beklemmung und vertrieb die Ratlosigkeit. »Dann werden wir uns jetzt bemühen eine Lösung zu finden. Und wir werden jetzt damit anfangen.«

»Das haben wir schon längst«, antwortete Itani daraufhin und schob sich eine Strähne ihres schwarzen Haares hinters Ohr.

»Gut, dann werden wir jetzt da weitermachen, wo ihr aufgehört habt.«

»Und was ist mit ihr?«, fragte die Assassine und deutete auf die neben dem Treppenaufgang harrende Kari, der es gerade noch gelang, sich aufzurichten, die Schultern zu straffen und sich gegen jeden möglichen Zweifel an ihrer Eignung zu wappnen.

»Sie ist die Beste, die ich in den letzten Wochen finden konnte und ich denke, wenn sie das hält, was sie zu versprechen scheint, dann wird sie uns auch hier eine Hilfe sein.«

Sie vermochte, dem König höchstpersönlich eine Hilfe zu sein. Gab es eine größere Ehre, die einem Untertanen Ro'akells jemals zuteilwerden konnte? Wenn Kari nach denen ging, die sich am heutigen Tag dazu entschieden hatten, sie nicht für gut genug zu befinden, sie abzulehnen, für immer zu diskreditieren, gab es nichts, das dem auch nur nahekam. Die Entscheidung, bei den Assassinen zu bleiben, war getroffen.

Itani jedoch war noch nicht ganz überzeugt. »Ich vertraue dir, dass du jemand Nützlichen ausgesucht hast, aber sie hat noch nicht ihren Schwur geleistet. Wenn wir sie zu viel erfahren lassen und sie sich dann doch noch gegen uns entscheidet, ist das ein Fehler, den wir nicht wieder beheben können und jeder Fehler kann unnötige Leben kosten.«

»Es ist ihre Entscheidung und ich denke, sie ist jetzt bereit sie zu treffen. Wenn sie uns hier und jetzt unterstützen will, dann soll sie das auch tun. Ich dachte du wärst so begeistert davon, nicht länger die einzige Frau zu sein.«

Itani schnaubte zwar, schien sich aber mit seiner Entscheidung zufrieden zu geben. Das überraschte Kari, denn sie schätzte die Frau in ihren späten Dreißigern nicht nur als älter, sondern auch reifer, beherrschter und überlegter als Anvar ein. Und trotzdem war er es, der die Entscheidungen zu treffen schien. Mit der hier herrschenden Hierarchie würde sie sich später noch auseinandersetzen müssen. Jetzt galt es zunächst, Bedeutenderes zu erledigen.

Kari Rakar trat an den Tisch zu den anderen drei heran und blieb.

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