Kapitel 14
»Was macht ein Gift zu einem Gift?«
Sie waren im Kellerraum. Anvar hatte auf dem Tisch eine Vielzahl an Gläsern, Fläschchen und Phiolen ausgebreitet, gefüllt von Stoffen verschiedenster Art. Von durchsichtigen Flüssigkeiten bis hin zu in Regenbogenfarben schillernden Käfern war alles vorhanden. Kari kannte keinen der Namen, die auf sorgfältig beschrifteten Etiketten Auskunft über die Art der Substanzen gaben.
»Es ist die Wirkung«, fuhr Anvar fort. »Ein Gift ist nur dann ein Gift, wenn es die Gesundheit schädigt. Egal, ob es einen juckenden Ausschlag verursacht, Kopfschmerzen, Herzrasen oder letztlich zum Tode führt, es fällt unter diese Bezeichnung.«
Kari nickte. Diese Tatsache war ebenso wenig eine Neuigkeit wie sie ein sinnvoller Einstieg in den Umgang mit Toxinen zu sein schien. Worauf wollte Anvar hinaus?
»Nun müssen wir uns allerdings die Frage stellen, unter welchen Bedingungen eine Substanz, die wir als Gift bezeichnen, wirklich ein solches ist. Nicht wenige Leute frönen regelmäßig dem Alkohol, ohne dabei in Lebensgefahr zu geraten. Wahrscheinlich erwachen sie das ein oder andere Mal mit Kopfschmerzen oder Übelkeit, doch über diese Wirkungen sieht man gern hinweg. Niemand spricht davon, regelmäßig ein Gift zu konsumieren. Und doch findet das ein oder andere Individuum durch Alkohol den Tod, denn die Einnahme bleibt nicht ohne Auswirkungen auf den Körper. Sie belastet ihn, schädigt ihn und fällt zweifelsohne in die Kategorie Gift. Wenn die Bedingungen stimmen.«
Vor ihnen lagen mindestens dreißig verschiedene Stoffe und Kari bezweifelte, dass dies Anvars ganzes Sammelsurium war. »Soll ich etwa die Bedingungen auswendig lernen unter denen all diese Stoffe giftig sind?«
Anvar schüttelte den Kopf. »Kommt drauf an, wie du es betrachtest. Toxikologie ist eine Wissenschaft. Natürlich kannst du alle wichtigen Daten in deinem Kopf abspeichern, doch dazu wird es ohnehin kommen, wenn du verstehst, wie die Gifte wirken. Es sind gewisse Bestandteile, die in unserem Körper wüten, die sich von Substanz zu Substanz mal mehr und mal weniger ähneln. Es sind Muster zu erkennen, an denen man sich orientieren kann. Alles Weitere lässt sich erforschen. Die Akademie allerdings stellt Forschung in den Hintergrund, weswegen du an dieser Stelle einiges nachzuholen hast.«
Kari nickte. Sie war sich ihrer Defizite bewusst, fürchtete jedoch nicht, dass sie hier an die Grenzen ihres Verstandes stoßen würde. Schlimmer als Escadrisch konnte der Umgang mit Substanzen und deren Auswirkungen auf den menschlichen Körper nicht sein.
»Dann fahre mit deinen Erklärungen fort«, teilte sie Anvar mit und ließ ihren Blick erneut über die Phiolen, Fläschchen und Gläschen streifen. Mit welchem dieser Stoffe würde sie als erstes Bekanntschaft machen? Mit einem besonders auffälligen? Einem besonders tödlichen? Einem, der ihr vielleicht schon bekannt war, nur nicht in seiner vollen Wirkungsvielfalt?
»Ich gebe zu, ich will dich nicht sofort mit langweiligen Vorträgen abschrecken, deren Inhalt du später womöglich gar nicht mehr brauchst. Deswegen beginnen wir heute mit einem Gift, das in der Natur in exakt der Form vorkommt, die ich hier verwende. Völlig unverändert.« Anvar griff nach einer kleinen Flasche in der Mitte des Tischs. Sie enthielt eine farblose Flüssigkeit. »Das hier ist das Gift der Wüstenkobra. Es ruft Lähmungen hervor, lässt deine Atmung erliegen und bringt dein Herz zum Stillstand.« Anvar hielt das Fläschchen in Richtung des Lichts, drehte es hin und her. »Es ist komplett farblos.«
»Farblos und unaufspürbar?«
Anvar schüttelte den Kopf. »Das Gift muss in den Körper gelangen und das zieht eine Einstichstelle nach sich. Wenn die Haut um diese auch noch anschwillt und rot anläuft, ist die Verwendung dieses Toxins genauso unauffällig wie ein Schnitt durch die Kehle.«
»Kann man es nicht ins Essen mischen?«
»Dafür ist dieses Gift nicht konzipiert. Oder hast du schon mal eine Schlange gesehen, die das Futter ihrer Opfer kontaminiert hat?«
»Nein«, sagte Kari und biss sich auf die Unterlippe. »Aber nur weil eine Schlange es nicht so nutzen kann, heißt das doch nicht, dass wir es nicht können, oder?«
Anvar schüttelte den Kopf. »Es entfaltet seine Wirkung im Blutkreislauf und in diesen muss es erst gelangen. Wenn der Vergiftete sich übergibt, ist es allerdings sicher, dass sich nicht die volle Dosis in ihm ausbreitet.«
»In Ordnung.«
Es überraschte Kari nicht, mit welcher Selbstverständlichkeit sie darüber sprach, wie man am effektivsten mit Schlangengift tötete – schließlich musste man über dieses Wissen auch verfügen, wenn es einem darum ging, Leben zu retten. Nein, es war die Vorstellung, dass Anvar gerade aus Erfahrung sprach, die sie Distanz nehmen lassen müsste, doch je länger sie darüber nachdachte, umso mehr faszinierte es sie. Es würde bedeuten, dass es sich um Wissen aus erster Hand handelte und war dieses nicht viel mehr wert als beispielsweise ausgeblichene Sätze auf verstaubtem Pergament? Das hier war keine Unterrichtsstunde, die dazu diente, dass sie jeden König Ro'akells der letzten fünfhundert Jahre in der richtigen Reihenfolge aufzählen konnte. Sie diente ebenfalls nicht dazu, Landkarten des gesamten Kontinents zu memorisieren, ohne überhaupt zu wissen, wie man sich mittels Kompass, Sonnenstand oder Sternbildern orientierte. Außerdem handelte es sich um kein stumpfes Auswendiglernen von Konjugationen, um sich im Norden verständigen zu können. Dies hier war eine Unterrichtsstunde, die ihr etwas vermitteln sollte, was sie später anwenden konnte – oder auch nicht. Es lag in Karis Entscheidung, wie sie ihr neues Wissen nutzen wollte. Bis sich ihr diese Entscheidung auftat, war es Wissen um des Wissens Willen. Diese Erkenntnis machte es ihr auf einmal viel leichter, Anvars Worte im Kopf zu behalten. Sie lernte für sich selbst und für niemanden sonst. Und aus irgendeinem Grund reichte allein das aus, um ihr Interesse zu erwecken. Als der Assassine seine Ausführungen fortsetzte, sog Kari jedes einzelne Wort in sich auf.
»Wie ich jedoch schon zu Anfang sagte, Gift ist nicht gleich Gift. Obwohl die Wahrscheinlichkeit hoch ist, an einem biss der Wüstenkobra zu sterben, ist es kein unumgängliches Todesurteil. Vor allem nicht, da es eine Möglichkeit gibt, sich gegen das Gift zu wappnen, es unwirksam zu machen.«
»Wie?«
Mit einer Drehung aus dem Handgelenk warf Anvar das Fläschchen in Richtung Kari. Gerade noch rechtzeitig gelang es ihr, es mit beiden Händen zu fassen. Erst, als sie auf die klare Flüssigkeit blickte, die sie nun, immer noch durch Glas geschützt, hielt, wurde ihr wieder bewusst, dass es sich um nichts handelte, das man durch die Gegend warf und sei es nur über eine Strecke von zwei Metern.
»Du hast gerade reagiert, ohne zu denken, weil deine Augen und Muskeln geübt sind. Wenn sich dir etwas im Flug nähert, weichst du ihm aus oder fängst es auf. Weil dein Körper über Jahre hinweg darauf vorbereitet wurde.«
Kari nahm das Fläschchen zwischen Daumen und Zeigefinger, wiegte es hin und her, sodass die Flüssigkeit darin sich bewegte. Es behagte der Gedanke nicht, es einfach nur zu halten. Es war Gift. Eine Substanz, kein Muskel. Unkontrollierbar.
»Ebenso kannst du deinen Körper auch an die Wirkung eines von außen zugeführten Stoffes gewöhnen«, fuhr Anvar fort. »Nicht jede Dosis eines Giftes ist tödlich oder hinterlässt bleibende Schäden. Wenn man die richtige Menge wählt und dem Menschen zuführt, lernt er auf die Substanz zu reagieren. Er produziert sein eigenes Gegengift. Dieser Prozess ist langwierig und auch nicht ungefährlich, aber er ist möglich und wird praktiziert.«
»Bist du hiergegen immun?«, fragte Kari und hielt das Fläschchen hoch.
»Nein, diese Technik gehört denen, die in der Wüste leben. Es wäre töricht auch nur daran zu denken, es auf eigene Faust zu wagen.«
Kari nickte. »Also ist alles, was ich in den letzten Minuten gelernt habe, rein hypothetisch zu betrachten?«
»Fürs Erste, ja. Das heißt allerdings nicht, dass es dadurch weniger essenziell wird.« Anvar streckte seinen Arm aus und hielt Kari die offene Handfläche hin. »Wir haben nun genug über Schlangengift gesprochen. Weitere Details lassen sich am besten im Rahmen praktischer Anwendung erörtern. Jetzt ist es Zeit, einen Schritt weiter zu gehen.«
Kari reichte Anvar das Fläschchen. Es war ein seltsam erleichterndes Gefühl, es aus der Hand zu legen, obwohl es eingeschlossen in Glas und außerhalb ihres Blutkreislaufs keinen Schaden verursachen konnte.
»Man kann die Wirkung von Gift nicht nur mittels desselbigen umgehen«, erklärte Anvar, während er das Schlangengift wegstellte und stattdessen ein Glas nahm, in dem ein dunkelrotes Pulver steckte, »sondern bei manchen so weit gehen, sie als Heilmittel zu nutzen. Zumindest äußerlich betrachtet. Innerlich haben beide wohl nur noch recht wenig miteinander zu tun, doch ihr Ursprung ist derselbe. An was erinnert dich diese Farbe?«
Kari beugte sich vor, um das Pulver im Kerzenlicht besser betrachten zu können. Es war so feinkörnig wie ein Gewürz, doch sie kannte keines, das eine Farbe dieser Art hatte. Diese hier ging fast schon ins Violette über. Es gab zwar kein Gewürz dieser Farbe, das sie kannte, doch ein Nahrungsmittel, welches meist zu medizinischen Zwecken genutzt wurde.
»Sind das Regenbeeren?«
»Getrocknet und gemörsert.«
Kari hatte erst einmal von der Frucht gekostet, die nur zu einer Zeit im Jahr wuchs. In der zwei bis drei Wochen andauernden Regenzeit wandelten sich sonst wie verdorrt aussehende Büsche zuerst in ein Meer aus weißen Blüten, um aus diesen eine dunkelrote Beere wachsen zu lassen, die zwar keine schweren Gebrechen heilte, doch gerne Schwangeren und Kranken gegeben wurde, die zusätzliche Nährstoffe benötigten. Sie war noch ein Kind gewesen, hatte wohl zu lange draußen im Regen gespielt und sich eine Erkältung eingefangen. Nach zwei Tagen des Fiebers hatte ihre Mutter Regenbeeren kaufen und ein Mus aus ihnen kochen lassen. Nach Verzehr dessen, der in Karis Erinnerung dem Naschen einer köstlichen Süßigkeit gleichkam, hatte sie sich stärker gefühlt und tatsächlich gesünder. Doch wer wusste schon, ob dies nicht ein Aberglaube war, der verbreitet wurde, um die aufgrund ihrer Rarität Unsummen kostenden Beeren noch begehrenswerter zu machen. Von ihrer Toxizität wusste Kari nicht, ließ man außen vor, dass sie einem im rohen Zustand den Magen verdarben.
»Also reicht es, sich eine Portion Beeren zu kaufen, sie, sobald der Regen nachgelassen hat, zu trocknen und zu zerkleinern und schon hat man ein Gift?«
Anvar schüttelte den Kopf. »Wenn es so einfach wäre, wüsstest du schon längst davon. Diese Portion Pulver wurde aus einer Menge an Beeren hergestellt, die so viel wiegt wie zehn Männer. Sieh dich also vor, das Glas fallen zu lassen.«
Diesmal war Kari darauf vorbereitet, dass Anvar warf. Doch womöglich gelang es ihr gerade deswegen erst, das Regenbeerenpulver im letzten Moment zu fangen, denn das Warten auf den richtigen Moment hätte fast dafür gesorgt, diesen zu verpassen. Ihr Herzschlag pochte in ihren Ohren, als hätte sie einen Ausdauerlauf um die gesamte Stadt hinter sich gebracht.
»Bitte mach das nicht nochmal.«
Anvar verzog spöttisch die Lippen. »Du hast doch gefangen, oder nicht?«
»Aber das hier ist wertvoller als alles, was ich bisher in Händen gehalten habe.«
»Sieh dich um und sag mir, in was für einem Haus zu lebst.«
Kari sparte sich die Antwort. »Was bewirkt das Pulver?«
»Es ruft innere Blutungen hervor. Kein sonderlich schöner Tod.«
»Und ein teurer noch dazu.«
»Das mag stimmen, doch im Gegensatz zum Schlangengift eignet dieses hier sich dazu, ins Essen gemischt zu werden. Weißt du wie Regenbeeren schmecken?«
Kari nickte.
»Dieses Konzentrat ist deutlich intensiver, da die Beeren nichts an Süße einbüßen. Niemand würde sich daran stören, es zu sich zu nehmen, bis es zu spät ist. Womöglich würde die Person, sobald sie bemerkt, dass es ihr schlecht geht, eingekochte Regenbeeren essen, in der Hoffnung, es ginge ihr dadurch besser.«
»Bitter«, meWätrrkte Kari an.
»Eher süß«, erwiderte Anvar und verbat es sich glücklicherweise, über seinen eigenen Scherz zu lachen, weswegen Kari es ignorieren konnte.
»Wirken die eingekochten Beeren überhaupt oder ist das ein Mythos?«
»Es ist keinesfalls ein Mythos. Durch die hohen Temperaturen beim Einkochen bilden sich wahrscheinlich die Bestandteile heraus, die den Heilungsprozess des menschlichen Körpers unterstützen. Ich vermute, obwohl es nicht bewiesen ist, dass dieselben Teile in roher und konzentrierter Form diejenigen sind, die den Organismus von innen zerstören.«
»Gibt es dann zufällig die Möglichkeit, hier an Regenbeerenmus heranzukommen?«, fragte Kari. »Diesmal kann ich meine Blutergüsse wohl nicht von obskuren Gestalten behandeln lassen, die so gut heilen, wie sie tödlich sind.«
Sie hielt inne. Die letzten Minuten hatte sie damit verbracht über völlig gegensätzliche Wirkung einer Beerenart in verschiedenen Zuständen zu sprechen. Die Letalität dieser war der breiten Masse gänzlich unbekannt, während es sich bei der Heilkraft um eine Tatsache handelte, von der selbst kleine Kinder wussten. Verhielt es sich mit diesen Zauberern nicht genauso? Die ganze letzte Nacht hatten die Assassinen damit verbracht, alte Unterlagen nach Hinweisen auf ungewöhnliche Todesfälle und dergleichen geprüft. Was aber, wenn die Hinweise ganz woanders verborgen lagen?
»Sie sind Heiler«, sagte Kari. »Die... Magier verdienen ihr Geld, indem sie Menschen behandeln als seien sie Ärzte. Vielleicht ist es das, womit sie im kollektiven Gedächtnis überdauert haben. Gibt es in der Palastbibliothek medizinische Schriften?«
Anvar blickte sie zunächst unverwandt an. Dann veränderte sich der Ausdruck auf seinem Gesicht, als er ihren Gedankengang zu verstehen begann. »Ja, die gibt es. Viele sogar.«
Kari hätte nicht gedacht, ihren Besuch in der Bibliothek so schnell in die Tat umzusetzen. Mako würde sich freuen, eine Aufgabe zu haben. Und sie war dankbar, seine Hilfe in Anspruch nehmen zu können und nicht auf sich allein gestellt suchen zu müssen.
»Wäre es möglich, die Lektion für heute abzuschließen? Ich würde den restlichen Tag gerne dafür nutzen, meine Theorie zu überprüfen.«
Anvar nickte.
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