Kapitel 13


Den Palast auf eigene Faust zu verlassen, war eine Sache. Alleine wieder zurückzukehren eine andere. Kari trug nichts bei sich, was ihre Identität bestätigte, denn wie in der Akademie wurde nichts Derartiges verlangt, um das Gelände unbehelligt zu betreten – eine Selbstverständlichkeit, die nun unfassbar naiv erschien. Dennoch fürchtete sie, man würde sie aufhalten, als sie das Tor zum Eingang des Palasts passierte, der neben dem der Akademie lag. Die Wachtposten schenkten der jungen Frau allerdings nur einen kurzen Blick, im Gegensatz zu den Patrouillen, die ihren Weg durch die mit bunten Mosaiken gepflasterten Innenhöfe und Kolonnaden kreuzten, und ihr nicht die geringste Aufmerksamkeit zukommen ließen. Einzig die Bediensteten, trotz allgegenwärtiger Eile, beäugten Kari, bevor sie an ihr vorbeigingen, schienen sich zu fragen, wer der Mensch war, der sich auf sie zubewegte, ganz so, wie sie es selbst tat.

Personen in ungefärbter Leinenkleidung, die Haare entweder kurz geschoren oder im Nacken zusammengebunden, nicht selten Haushaltsgegenstände wie Tücher, Laken, Besen oder Nahrung mit sich tragend, nahmen die Mehrheit derer ein, die tagsüber die Palastgründe dominierten. Diese Merkmale blieben Kari im Gedächtnis haften, während sie das Netz aus Säulengängen durchquerte. Es waren zu viele verschiedenen Gesichter gewesen, als dass sie sich auch nur eines davon hätte merken können.

Als Kari endlich den Gebäudeflügel betrat, in dem ihr Quartier lag, lief ihr niemand mehr über den Weg. Nicht ein Diener huschte durch die fackelbeschienenen Gänge, die sich trotz ihrer Eintönigkeit nicht so sehr in die Länge zogen wie die Strecke, die sie davor zurückgelegt hatte. Bald hatte sie den Flur erreicht, der hinaus in den Palastgarten führte. Sie hatte ihn seit jener Nacht vor einer Woche nicht genutzt, doch in den letzten Tagen war er immer ein Orientierungspunkt für sie gewesen.

Jetzt, da sie sicher war, sich nicht mehr zu verlaufen, beschleunigte Kari ihre Schritte in Erwartung an das heiße Bad, das sie gleich nehmen würde. Wenn sie sich etwas nach der Konfrontation mit ihren Eltern verdient hatte, dann dies. Bis der König zum nächsten Mal seine Assassinen zu sich rief, gab es nichts mehr für sie zu tun, als in Form zu bleiben, während sie dabei den Umgang mit Waffen erlernte, den die Akademie ihren Schülern vorenthielt. Da dies nur den Bruchteil des Tages einnehmen würde, verfügte sie von heute an über etwas, das sie seit Jahren nicht mehr genossen hatte: freie Zeit. Der kleinste Gedanke an diesen Luxus ließ sie unwillkürlich lächeln, als sie ganze zehn Minuten nach Durchtreten des Palasttors die Tür zum Quartier der Assassinen öffnen wollte.

Jemand anderes kam ihr allerdings zuvor und Kari fand sich, bevor sie zur Seite treten konnte, um der anderen Person Durchlass zu gewähren, einem bekannten Gesicht gegenüber, das sie im ersten Moment nicht einzuordnen vermochte. Zum einen lag dies daran, dass ihr Gegenüber neuerdings die Haare bis auf wenige Millimeter gekürzt hatte, zum anderen, dass sie nicht damit gerechnet hatte, einen ehemaligen Mitschüler ausgerechnet hier anzutreffen.

»Mako«, sagte sie überrascht, während er ebenfalls versuchte, seine Überraschung zu überwinden.

»Kari. Hallo.«

Für einen Moment schienen beide weder zu wissen, was sie sagen noch tun sollten. Dann ergriff Kari das Wort, um sich nicht zum zweiten Mal an diesem Tag einer unangenehmen Unterhaltung hingeben zu müssen.

»Was machst du hier?« Ein Hinweis darauf, dass sie hier lebte, der ihr hoffentlich Nachfragen zu ihrem Werdegang ersparte.

»Ich habe ein paar Dokumente vorbeigebracht.«

»Also arbeitest du jetzt im Archiv?«

Er schüttelte den Kopf. »Eigentlich haben sie mich für die Bibliothek eingeteilt, aber die Archivare brauchten jemanden, der diesen Botengang für sie erledigt. Ansonsten lassen sie wohl niemanden an ihre wertvollen Schriftstücke.«

Kari erinnerte sich, dass Mako nie davor gescheut hatte, abwertend über ihm Höhergestellte zu sprechen, ganz so, als sei nicht erst eine Woche vergangen, seit er sich lautstark über die Abschlussprüfung in Escadrisch beschwert hatte. Sie hatte ihm in jedem seiner Punkte zugestimmt, zumal seine Stärke ohnehin nicht in Sprachen lag, sei es einer fremden oder der eigenen.

»Ich habe immer gedacht, du würdest zum Militär gehen.«

Mako verzog den Mund. »Ehrlich gesagt hoffe ich, dass ich eines Tages genau da hinkomme. Nach einer Woche kann ich zwar nicht behaupten, meine Arbeit sei anstrengend, doch im Grunde ist es genau dieses Nichtstun, das mich jetzt schon stört.«

Kari zupfte ihren Schal zurecht. »Ich hoffe, es wird dir gelingen.«

»Danke.« Mako lächelte und verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen.

Da wurde Kari bewusst, dass sie ihm den Weg versperrte. Hastig machte sie einen Schritt zur Seite. »Tut mir leid, ich wollte dich nicht aufhalten.«

Lachend schüttelte er den Kopf. »Du hältst mich nur davon ab, den Rest des Tages in Langeweile zu verbringen. Wenn ich Glück habe, darf ich etwas einsortieren, aber du glaubst gar nicht, wie selten die Bibliothek des Palasts genutzt wird.«

»Ist es wirklich so schrecklich?«, hakte Kari nach.

»War das eine rhetorische Frage?«

Sie musste lachen. »Gut, dann nehme ich das als Antwort hin.«

»Wenn du dir selbst ein Bild machen willst, fühl dich frei vorbeizukommen.«

»Ich weiß nicht, ob mir der Vorschlag gefallen soll oder nicht.« Kari nutzte ein herausforderndes Lächeln, um zu verbergen, dass sie nicht wusste, ob sie ihm zusagen sollte oder nicht. Habe ich nicht eben erst mein bisheriges Leben zurückgelassen? War dies eine rhetorische Frage? Wahrscheinlich, denn den inneren Zwiespalt würde sie nicht allein durch das Abwägen von Argumenten lösen können. Sie musste das wählen, was ihr am ehesten über die Zunge kam. »Ich denke, wenn ich selbst die Zeit finde, werde ich vorbeikommen. Vielleicht brauche ich dann sogar ein Buch, das du erst suchen und dann wieder einsortieren darfst.«

»Es wäre mir eine Freude. Bis bald, Kari.«

Mako trat durch die Tür und verschwand durch den Gang, den selbst eben entlanggegangen war. Sie sah ihm nach, bis er um die Ecke verschwand. Erst jetzt fiel ihr auf, dass er sie wirklich nicht nach dem gefragt hatte, was sie jetzt tat.

Im Wohnraum fand Kari Anvar am großen Tisch vor einem beträchtlichen Berg an Schriftrollen vor.

»Wir werden wahrscheinlich wirklich bald wieder auf die Bibliothek zurückgreifen müssen«, teilte er ihr mit, bevor sie auch nur in der Lage war, ihn zu begrüßen.

Kari trat an den Tisch und warf einen Blick auf den handschriftlich verfassten Text, den Anvar gerade las. Sie hatte Probleme, die verschnörkelten Buchstaben zu erkennen. »Was ist das?«

»Das sind Aufzeichnungen der Assassinen aus den letzten sechzig Jahren.«

»Werden bei aller Geheimhaltung Dokumente dieser Art nicht hier aufbewahrt? Und«, Kari beschloss den Berg an Schriftrollen zum Hügel umzubenennen, »ist das für mehr als ein halbes Jahrhundert nicht zu wenig?«

Die Antwort kam, bevor sie die Frage danach stellen konnte, wozu das Ganze diente. »Nein, diese Dokumente hier stehen unter Verschluss. Eigentlich. Aber wer sollte sie einsehen dürfen, wenn nicht wir?« Anvar seufzte. »Was ich damit sagen will, ist, dass eigentlich nur der König Zugang hierzu hat und ich den diensthabenden Archivar nur mit Mühe und Not überzeugen konnte, das alles hier für einen Tag zur Verfügung gestellt zu bekommen. Also, setz dich hin, nimm dir eine der Rollen und sieh nach, ob du Dokumentationen auffälliger Aufträge vorfindest oder Hinweise auf das plötzliche Versterben eines Assassinen.«

Da begriff Kari. »Müssen wir etwa schon wieder...«

»Keine Sorge«, schnitt Anvar ihr das Wort ab. »Solange niemand weiß, wo diese Leute ihr neues Quartier bezogen haben, bleibt uns unsere Ruhe erhalten. Allerdings schadet eine zeitige Vorbereitung nie.«

»Gut.« Kari ließ sich auf dem Stuhl neben Anvar nieder und nahm sich eine Rolle, die noch nicht allzu alt aussah. »Kannst du genauer spezifizieren, worauf ich achten soll?«

»Wenn ich wüsste, wonach ich suche, könnte ich das...«

»In Ordnung...«

Kari öffnete das Band, welches das Papier in Form hielt und begann zu lesen. Dahin war die Vorfreude auf ein entspannendes Bad.

***

Bis spät in die Nacht saßen sie vor den Schriftrollen, die mal mehr und mal weniger ausführlich Ereignisse, Erkenntnisse und selten auch private Eindrücke aus dem Leben der Assassinen der letzten sechzig Jahre enthielten.

Gegen Abend stieß auch Daeso zu ihnen, der im Gegensatz zu Kari und Anvar keine Zeit dadurch einbüßte, die alte Schreibschrift zu entziffern, die weniger auf Effizienz als auf Artifizität abzielte. Itani kam in etwa zur selben Zeit zurück ins Quartier, doch da von ihr niemand Beteiligung an der Suche eines Brunnens in der Wüste, von dem man nicht einmal wusste, ob er existierte, verlangte, schloss Kari, dass sie entweder gar nicht oder nur sehr schlecht lesen konnte. Bildung außerhalb von Ataris war ebenso rar wie fruchtbarer Boden.

Sie schafften es auch zu dritt, sich vorm Morgengrauen durch alle Texte durchzuarbeiten, doch einen Hinweis auf frühere Begegnung mit diesen den Naturgesetzen strotzenden Menschen gab es nicht. Sie schienen – zumindest seit dem Letzten Krieg – die einzigen zu sein, die einen solchen Auftrag auszuführen hatten.

»Machen wir an einem anderen Tag weiter«, sagte Anvar, nachdem er am Ende des letzten Schriebs angelangt war und ihn frustriert auf den Tisch geworfen hatte, ohne ihn wieder zusammenzurollen. »An einem, an dem mir eine bessere Idee kommt, als sinnlose Aufzeichnungen zu studieren.«

Kari nahm die Aussage wie Daeso wortlos hin. Sie war zu müde, um Anvars Zorn zu ertragen, weil sie die Sinnlosigkeit des von ihm initiierten Unterfangens bestätigte. Sie war außerdem zu müde, um jetzt noch das Bad zu nehmen, das sie sich eben, vor einigen Stunden, herbeigesehnt hatte. Ohne Umschweife ging sie ins Bett und hoffte darauf, dass morgen mehr von der Freiheit enthielt, die sie such selbst versprochen hatte.



Eigentlich sollte das hier noch Teil des vorherigen Kapitels werden und aus Faulheit habe ich diesen Teil erst jetzt fertiggestellt. Aber immerhin geht es weiter und ich hoffe, dass ich die Geschichte bald gänzlich und mit allen Handlungsfäden ins Rollen bekomme. 

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