Kapitel 12

Zwischen den leisen Geräuschen der Nacht und dem Lärm, der Ataris tagsüber bis in den kleinsten Winkel erfüllte, lag ein himmelweiter Unterschied, wie Kari am nächsten Morgen feststellte. Den Schal, der sie eigentlich gegen die Sonnenstrahlen schützen sollte, hatte sie sich tiefer ins Gesicht gezogen als sonst, hielt den Kopf gesenkt und versuchte, sich in der Masse unsichtbar zu machen. Die erst wenige Stunden zurückliegenden Ereignisse veranlassten sie dazu, zumindest vorerst auf der Hut zu sein und Misstrauen gegenüber jedem zu hegen, der ihren Weg kreuzte.

Die Blicke mancher Leute um sie herum ließen sich dennoch nicht vermeiden und Kari war froh, als sie endlich vor dem Haus ihrer Eltern stand, welches sie vor einer Woche das letzte Mal betreten hatte. Es kam ihr viel länger vor, doch die Sommerhitze, die immer noch über der Stadt brütete, war zumindest ein Beweis dafür, dass es nicht mehr als ein Monat sein konnte.

Kari unterdrückte ein Gähnen, als sie ohne Zögern an die Fronttür klopfte. Selbst wenn diese nicht verriegelt wäre, würde es ihr wie widersächliches Eindringen vorkommen, das Haus eigenmächtig zu betreten. Dabei wartete im oberen Geschoss wahrscheinlich immer noch ein gemachtes Bett auf sie.

Sie wartete geduldig, ob sich etwas regte, aber es musste fast eine halbe Minute vergangen sein und noch immer war niemand zur Tür gekommen. Man hatte sie wohl nicht gehört. Kari könnte sich einfach umdrehen und wieder gehen und für ihre Eltern würde es so sein, als wäre sie niemals hier gewesen. Es wäre so einfach, kehrtzumachen und den restlichen Tag in der Stadt zu verbringen oder direkt in den Palast zurückzukehren. Keine Konfrontation, keine Fragen, die sie nur schwerlich würde beantworten können.

Kari Rakar hatte den einfachsten Weg nie abgelehnt, aber genauso wenig hatte sie sich davor gescheut einen schwierigeren zu wählen. Auch wenn das Gespräch mit ihren Eltern in einer Katastrophe enden konnte, gab es keinen Anlass, sich jetzt davor zu sträuben. Energischer als vorher schlug sie mit dem gusseisernen Klopfer gegen das Holz der Tür.

Diesmal dauerte es nicht lange, bis sie Schritte im Inneren des Hauses vernahm und nur wenige Augenblicke später ihrem Vater ins Gesicht sah, auf dessen Gesicht sich Überraschung abzeichnete. „Kari", sagte er, noch ehe er eine Begrüßung über die Lippen brachte. Es klang fast so, als wäre ihr Besuch ein genauso unwahrscheinliches Ereignis wie eine sofortige Ernennung zur Beraterin des Königs. Eher hatte sie damit gerechnet, dass ihre Eltern sie ungeduldig erwarteten.

„Guten Tag, Vater. Es tut mir leid, dass ich mich vorher nicht angekündigt habe, aber einen Boten zu schicken und die Rückantwort abzuwarten, wäre mir zu langwierig gewesen. Ich hoffe, ich mache euch so keine Umstände, indem ich plötzlich hier bin." Ein Lächeln auf ihren Lippen sollte vergessen lassen, dass sie in der letzten Woche keine gute Tochter gewesen war.

Ihrem Vater hingegen schien es vollkommen gleich zu sein, dass er zum ersten Mal in ihrem Leben mehrere Tage in Unwissenheit darüber ausgeharrt hatte, wo sie sich gerade befand und wie es um sie stand. „Das hier ist immer noch dein Zuhause, Kari. Es ist nicht nötig, dass du dich vorher ankündigst und genauso wenig ist es nötig, dass ich dich jetzt so lange vor der Türe warten lasse, also komm herein und geh deine Mutter begrüßen."

Sie fackelte nicht lange, der Aufforderung zu folgen, der Offenheit der Straße zu entfliehen und sich ins sichere Innere zu begeben, dass zwar kein Zuhause mehr für sie war, mit dem jedoch immer gute Erinnerungen verbunden sein würden.

„Es freut mich so sehr, dass du da bist", hörte sie ihren Vater hinter sich sagen, als er ihr durch den Flur folgte. Es klang so aufrichtig wie seit vielen Jahren nicht mehr. Ob das gut war oder nicht, vermochte sie zunächst nicht zu sagen und wollte es auch nicht, denn es war wie Balsam für die Seele, diese Worte aus dem Mund des Mannes zu hören, der ihren Ehrgeiz entfacht und immer nur das Beste von ihr gefordert hatte.

Das plötzliche Hochgefühl, welches sich in ihr ausbreitete, weiter auskostend, suchte Kari zielstrebig den Weg in den Innenhof, wo sie ihre Mutter vermutete, ihren Vater weiterhin im Nacken – etwas, das sie so noch nie erlebte hatte, wenn sie sich recht entsann, denn für gewöhnlich suchte Karar Rakar nur die Nähe seiner Tochter, wenn er etwas von ihr wollte und nicht umgekehrt.

„Areni!"

Kari zuckte vor Schreck zusammen, als die Bassstimme ihres Vaters durch den Flur und vermutlich jeden anderen Raum des Hauses schallte. Er konnte es anscheinend wirklich nicht abwarten, dass auch ihre Mutter vom unangekündigten Besuch erfuhr.

Es dauerte nur drei ruhige Atemzüge lang – Kari hatte diese gezählt, um die Frequenz ihres Herzschlags wieder zu verlangsam, nachdem die unerwartete Lautstärke ihres Vaters diese in die Höhe getrieben hatte – bis Areni durch die Tür trat, die zum Innenhof hinausführte.

Der Flur war nicht gut ausgeleuchtet, sodass Kari zunächst nur die Umrisse ihrer Mutter erkennen konnte, die sich schnellen Schrittes auf sie zubewegten, doch bevor sie in eine feste Umarmung gezogen wurde, konnte sie das strahlende Lächeln ausmachen, das Arenis Lippen umspielte.

„Es ist so schön, dass du gekommen bist, mein Schatz", drückte sie die Freude nun auch noch in Worten aus, bevor sie sich nach einer gefühlten Ewigkeit von der perplexen Kari löste.

Wenn sie diese Begrüßung, nach einer Woche Leben im königlichen Palast, mit der verglich, die sie vor einer Woche erhalten hatte, während die Niedergeschlagenheit über den verlorenen Kampf ihr ins Gesicht geschrieben stand, lag ein Unterschied wie Tag und Nacht vor. Es war, als wären ihre Eltern ausgetauscht worden – oder zurückversetzt in den Zustand, den sie vor dem Vorfall gehabt hatten.

„Lasst uns nach draußen gehen", schlug Karar vor, ohne dass ein Widerspruch geduldet worden wäre.

Sie würden sich dort neben den ausgetrockneten Brunnen setzen, Limonade serviert bekommen und so lange reden, bis Kari vollends von ihrer neuen Position im Dienste der Krone überzeugt hatte. Ein Gedanke, der ihr die trotz der Sommerhitze die Haare zu Berge stehen ließ. Nicht zuletzt, weil er auch die Erinnerungen an die letzte Nacht wieder lebendig werden ließ.

Gerade als sie kurz davor war, die unsichtbaren Finger wieder zu spüren, die durch ihr Fleisch greifen konnten, zog die sanfte Berührung Arenis an ihrem Oberarm sie wieder in die Wirklichkeit zurück und in den Innenhof.

Dort ließ Kari sich auf einen der Stühle sinken und den Schal von ihrem Kopf auf die Schultern gleiten, der dort immer noch geruht hatte, um einerseits die Mittagssonne, andererseits die Blicke der Leute fernzuhalten. Hier drinnen fühlte er sich mehr wie etwas an, das ihre Wahrnehmung dämpfte als ein Schutz. Sie wollte jedes Wort, das ihre Eltern an sie richteten genauestens verstehen, um ihnen nichts Falsches zu antworten.

Das erwartete Kreuzverhör blieb allerdings aus. Areni und Karar hatten sich einträchtig nebeneinandergesetzt. Beiden stand gleichermaßen der Stolz ins Gesicht geschrieben.

„Es ist so schön, dass du gekommen bist", wiederholte Karis Mutter, was sie eben schon gesagt hatte.

„Allerdings", pflichtete ihr Vater seiner Frau bei. „Wir hätten erwartet, dass deine Aufgaben im Palast dich vielleicht zu sehr in Anspruch nehmen. Gerade jetzt zu Anfang, wo es darum geht, dich zu beweisen."

Diese Anmerkung war äußerst suggestiv, jedoch keine direkte Frage, welche eine ebenso direkte Antwort erforderte. Genug Gelegenheit, um davon abzulenken, welche Aufgaben genau Kari ausführte.

„Ich muss glücklicherweise nicht mehr Zeit investieren als in die Akademie", meinte sie und zwang sich, sich zurückzulehnen und die vom zurückliegenden Kampf schmerzenden Muskeln zu entspannen.

„Dann hat sich all die Mühe also gelohnt", bekundete Areni erneut die Euphorie über den Erfolg ihrer Tochter.

„Ich hoffe es doch", steuerte Karar bei, sein Verlangen nach Karis aufstrebender Karriere unausgesprochen genauso klarstellend, wie er es mit Worten zustande gebracht hätte.

„Was gibt es denn da zu hoffen?" warf daraufhin überraschenderweise ein. „Ich glaube fest daran, dass Kari ihren Weg finden wird, jetzt wo sie eine Absolventin ist und noch dazu sofort eine Stelle im Palast ergattert hat."

„Dort kann man auch die gravierendsten Fehler begehen. Es erfordert stete Achtsamkeit eine hohe Position zu halten."

„Und ich weiß, dass es unserer Tochter gelingen wird", erwiderte Areni energisch.

Es überraschte Kari, dass ihre Mutter auf einmal Widerworte bereithielt. Zwar war sie über all die Jahre eindeutig das hoffnungsvollere Elternteil gewesen, doch hatte sie es grundsätzlich vermieden, auch nur eine Kleinigkeit an dem zu bemängeln, was ihr Gatte von sich gab. Wohl um Erhalt des letzten Bisschens Harmonie in ihrem Leben. Umso mehr versetzte es Kari nun einen Stich, dass sie die Erwartungen ihrer Mutter nicht erfüllen konnte.

Sie wollte sich gerade für den überraschenden Zuspruch bedanken, als Areni aufstand und verkündete, den Koch noch schnell etwas Limonade zubereiten lassen zu wollen. Sie könne ihre Tochter schließlich nicht unbewirtet lassen.

Und schon waren Vater und Tochter wieder allein.

Kari rückte auf ihrem Stuhl kurz hin und her, um das Gewicht zu verlagern, doch angenehmer wurde ihre Position dadurch nicht. Es war nicht also nicht ihre Sitzhaltung, die sie dazu brachte, sich augenblicklich wieder angespannter zu fühlen – so wie früher, wenn sie ihren Eltern Rede und Antwort hatte stehen müssen. So wie vor einer Woche.

Keine zwei Sekunden, nachdem Areni verschwunden war, stellte Karar die erste Frage. „Was ist es für eine Stelle, die man dir im Palast gegeben hat?"

Sie könnte lügen. Sie könnte die Antwort verweigern. Doch in diesem Moment war die Wahrheit das, was Kari am leichtesten über die Lippen kam. Sie dachte zuvor nicht einmal darüber nach, ob es ihr überhaupt gestattet war, ihren Vater einzuweihen. Dafür war ohnehin keine Zeit gewesen, denn mit dem nächsten Atemzug, den sie nahm, antwortete sie.

„Ich bin eine der königlichen Assassinen."

Auf einmal klang ihre eigene Stimme wie die einer Fremden. Es war nur der leicht pulsierende Schmerz der Prellungen, welcher ihr versicherte, als Auftragsmörderin der Krone gehandelt zu haben.

Ihr Vater schwieg, doch Worte waren ohnehin nicht sein liebstes Kommunikationsmittel. Seine Stirn legte sich in tiefe Falten, sein Blick ruhte auf ihr, während der Stolz gänzlich aus ihnen gewichen war. Stattdessen konnte sie ein anderes Feuer brennen sehen und dieses würde sie zweifellos als Wut bezeichnen.

Kari wischte sich die auf einmal schwitzigen Handflächen an ihrem Kleid ab und versuchte den Kloß herunterzuschlucken, der sich in ihrer Kehle gebildet hatte. Vergeblich. Wie oft müsste sie beteuern, dass es ihr leidtat, damit ihr Vater ihr verzieh?

„Wie kommst du zu dieser Aufgabe?", regte Karar sich schließlich, direkt wie eh und je.

„Ich hatte keine andere Wahl", gab Kari zurück.

„Du meinst, sie haben dir keine andere Stelle offeriert."

Sie nickte.

Ihr Vater seufzte, rieb sich mit beiden Händen durch die Augen und lehnte sich zurück. „Du hast also die erstbeste Chance ergriffen, die sich dir in den Weg gestellt hat."

„Ich habe die Entscheidung nicht leichtfertig getroffen", ging Kari einem plötzlich aufbrandenden Gefühl nach, sich zu verteidigen. „Ich weiß, worauf ich mich eingelassen habe."

„Daran zweifle ich nicht, aber es fällt mir schwer zu glauben, dass du dein restliches Leben damit verbringen willst, die Leben anderer zu beenden."

„Du willst nicht, dass deine Tochter eine Mörderin ist?" Kari begradigte instinktiv ihren Rücken und reckte das Kinn vor. Kratzbürstigkeit stünde ihr nicht gut zu Gesicht, hatte Anvar gesagt, am entscheidenden Tag, eine Woche zuvor. Jetzt machte sie dennoch davon Gebrauch. Es war ihre eigene Entscheidung, wie sie sich gab; ebenso wie es ihre eigene Entscheidung gewesen war, sich den Assassinen anzuschließen.

„Nein, das will ich nicht."

„Gut", Kari holte tief Luft, um ihre volle Überzeugung in den folgenden Satz zu legen, „denn ich bin keine Mörderin, sondern handle im Auftrag der Krone. Für unser Land."

Für ihr Land. Für Ro'akell. Der gesamte Drill der Königlichen Akademie war auf diese Direktive ausgerichtet worden und sie würde sie auf dem geradlinigsten Wege verfolgen. Sie hatte der Krone selbst einen Schwur geleistet, würde ihn nicht brechen, ganz gleich, was ihre Eltern von ihr dachten. Das war es, was sie selbst mit Stolz erfüllen konnte. Sie musste sich nicht erst den der beiden Menschen einholen, die sie immer als letzte Chance betrachten würden, wieder in die höheren Gesellschaftskreise eintauchen zu können.

Kari faltete die Hände im Schoß zusammen und wartete auf die Antwort ihres Vaters.

„Sieh zu, dass du es nicht bereust", lauteten seine letzten Worte zu diesem Thema, denen er noch ein stummes „Wie ich" hinzufügte.

Dann kam Areni mit Glücksgefühl und einem Tablett zurück, auf dem drei Gläser gefüllt mit Zitruslimonade standen. „Bekommt man im Palast eigentlich auch so etwas oder trinken sie dort nur ihr pures Wasser?"

Damit war die Anspannung durchbrochen, wenn auch ihre Überbleibsel weiterhin zersplittert in der Luft hingen – umgehbar, aber potenziell verletzend. Weder Kari noch Karar sprachen an, worüber sie sich in der kurzen Zeit von Arenis Abwesenheit unterhalten hatten und diese selbst war viel zu aufgeregt, um zu bemerken, dass sie eigentlich gar nicht wusste, was ihre Tochter tat. Wahrscheinlich wollte sie es auch gar nicht, um die Glückseligkeit des Erfolgs nicht im Keim zu ersticken.

Als Kari einige Stunden und den Austausch diverser Belanglosigkeiten und Tratschgeschichten später den Weg zurück zum Palast antrat, konnte sie sie sogar noch spüren, die tiefe Zufriedenheit ihrer Mutter. So fiel es leichter, sie zurückzulassen.

***

Mein letztes Update bei dieser Geschichte liegt tatsächlich mehr als ein halbes Jahr zurück und fast genauso lange lag auch das Kapitel fertig auf meiner Festplatte rum (und wurde jetzt quasi komplett umgeschrieben, yey).
Bevor es hier weitergeht, möchte ich aber unbedingt "Blutbraut" zu seinem Ende bringen, um mich dann voll und ganz auf diese Geschichte hier konzentrieren zu können (und sie vorher wahrscheinlich noch einmal zu generalüberholen, inklusive Einfügen eines Charakters in Kapitel 2, der eigentlich erst in der nächsten Szene seinen ersten Auftritt haben sollte).

Ich möchte mich also schon mal für alle weiteren Wartezeiten bei denen entschuldigen, die immer noch dabei sind und gleichzeitig nach Feedback schnorren, damit es hier irgendwann möglichst mühelos weitergehen kann :D

LG, Bird

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