Kapitel 11
Das Erkennen, das sich im faltigen Gesicht der Frau widerspiegelte, war unverkennbar. Sie erinnerte sich an die junge Frau, die mit einem Bluterguss im Gesicht an ihre Tür geklopft und um Hilfe gebeten hatte. Kari hatte zuvor keinen Verdacht gegen die Alte gehegt, aber dass sie sich so selbstbewusst durch das Getümmel bewegt hatte, als könne es ihr nichts anhaben, zeugte davon, dass sie nicht zu
unterschätzen war. Was würde sie einer Verräterin antun?
Immer noch gefangen von der ominösen Macht, die von dem männlichen Heiler ausging, sollte er jemals einem Menschen auf diese Art geholfen haben, umklammerte Kari ihren Dolch, hoffte, nicht zermalmt zu werden und starrte zu der Alten, die ihr jetzt genau gegenüberstand, gerade einmal einzigen Schritt entfernt, in der potenziellen Reichweite der Stichwaffe.
Alles Ankämpfen gegen den unsichtbaren Griff des Magiers war zwecklos, eine eigenständige Befreiung ausgeschlossen, sodass nichts weiter blieb, als auf die Frau zu hoffen, welche sich, nachdem sie Kari einer eingehenden Musterung unterzogen hatte, dem Mann zuwandte.
„Lass sie los."
Drei Worte, gesprochen mit derselben Autorität, derer sich Anvar gerne bediente, die wie Balsam klangen und denen ein kurzer Augenblick der Erleichterung folgte, denn tatsächlich lockerte sich der Griff der unsichtbaren Pranke immer weiter, nahm ihr den Druck vom Brustkorb und ließ schmerzende Stellen auf der Haut zurück. Jedoch war der Moment des Durchatmens nicht von langer Dauer, denn entgegen Karis kurzweiliger, törichter Hoffnung wollte die Alte sie nicht begnadigen.
Stattdessen war diese genauso wie der andere imstande, den Naturgesetzen zu trotzen und hielt sie in ebenso unbarmherzigem Griff und fast kam es ihr so vor, als würde die so gebrechlich wirkende Frau sie nicht nur von außen festhalten, sondern auch in sie hineingreifen, als könne nicht nur ihr Genick jeden Moment gebrochen werden können, sondern auch ein Herzstillstand jede Sekunde erfolgen. Und dass dies nicht bloß eine vage Ahnung war, sah Kari darin bestätigt, dass man ihre Verletzungen gänzlich geheilt hatte. Diese Menschen, wenn sie denn solche waren, hatten die volle Kontrolle über die Körper anderer, wenn sie es nur wollten.
Nichtsdestotrotz hielt Kari nicht still, hörte nicht auf sich zu winden und dachte nicht daran, aufzugeben. Das Ankämpfen war wie ein Reflex, etwas, das tief in ihr verwurzelt war und das sie trotz rationaler Einschätzung der aussichtslosen Lage nicht aufgeben konnte.
„Das nützt dir nichts", sagte die Alte und trotz der unvermeidbaren Geräusche des Kampfs um sie herum, drang ihre Stimme klar an Karis Ohr. „Verausgabe dich, wie du es für richtig hältst, aber lass dir sagen, dass das nichts weiter ist als das Zucken eines Fischs auf dem Trockenen."
„Aber Euch nützt auch nichts, wenn ihr mich einfach nur sterben lasst. Einen Moment der Ruhe vielleicht, aber Eure Probleme wird es nicht lösen", hörte die Gefangene sich selbst sagen, die Worte in Verzweiflung getränkt und zwischen dünnen Lippen hervorgepresst.
Kari hatte erwartet, dass die Alte sie für den Versuch eines verbalen Konters auslachen würde, weil es so lächerlich und pathetisch war, sich auf diesem Weg die Freiheit zu suchen. Stattdessen blitzte da etwas wie Verständnis in ihren Augen auf, aber dieses Mal lohnte es sich nicht, diesem winzigen positiv auslegbaren Zeichen etwas zuzuschreiben, nur um enttäuscht zu werden.
„Wieso bist du hier?", fragte die alte Frau.
Kari antwortete nicht. Diese Frage strotzte vor Hohn, denn es war ersichtlich, was der Zweck ihres nächtlichen Einbruchs war. Es würde sie erniedrigen, darauf einzugehen und dieser Schande wollte sie sich nicht auch noch hingeben, während sie vergebens danach rang, freizukommen.
Ihr Gegenüber bemerkte diese Einstellung sofort und änderte die Strategie. „Weswegen bist du zurückgekehrt? Du wusstest, was dich hier erwartet. Und du wusstest ebenso, dass diejenigen, die in friedlicher Absicht erscheinen, mit offenen Armen empfangen werden."
Weil sie es musste. Weil sie im Angesicht der Krone einen Eid geschworen hatte, den sie nicht brechen konnte – oder besser gesagt wollte. Sie war eine treue Ergebene, die sich bewusst einen Lebensweg gewählt hatte, der nicht leicht zu bestreiten und zweifelsohne auch moralisch verwerflich war, aber sie hielt an ihren Prinzipien fest. Dennoch war es keine geeignete Antwort, der Alten zu sagen, sie würde handeln, weil sie es musste. Es gab überhaupt keine angemessene Erwiderung, denn alles, was sie sagte, würde gegen sie verwendet werden. Ihr Schweigen war Antwort genug.
Allerdings unterstrich sie es noch, indem sie dem Mann ins Gesicht spuckte. Sie traf nur sein Hemd, aber es war genug, um ihn wütend zu machen. Während die Alte es vermutlich ignoriert hätte, streckte er auf einmal wieder seine unsichtbaren Hände nach ihr aus, den sie spürte, wie der Druck sich verstärkte, als ob er sie langsam zerquetschen wollte.
„Hör auf zu kämpfen, Kari Rakar."
In dem Moment, als der Schock darüber, dass die Alte ihren Namen kannte, der, der sie geheilt hatte, ihn an andere weitergegeben hatte, drang auf einmal ein Dolch in den Schädel der Frau ein, so tief, dass er das Gehirn auch für eine Magierin irreparabel geschädigt haben musste. Sie hatte das Kampfgeschehen gar nicht mehr verfolgt und so war ihr entgangen, dass Daeso sich durch genug Gegner gekämpft hatte, um zu ihr vordringen zu können.
Im scheinbar selben Augenblick, in dem die Alte mit weit aufgerissenen Augen in sich zusammensank, konnte Kari sich wieder bewegen, denn der Magier konnte seine Kraft anscheinend nicht an zwei Stellen gleichzeitig aussenden. Er wandte sich nun Daeso, überrascht, dass jemandem der Angriff gelungen war, denn offensichtlich hatte er sich etwas abseits in Sicherheit gewähnt. Diese Fehleinschätzung bedeutete sein Versagen, denn jetzt stand er allein gegen zwei und Kari zögerte keine Sekunde, ihn anzugreifen.
Leicht strauchelnd und nach Gleichgewicht suchend versetzte sie ihm mit dem Dolch einen Stich zwischen die Rippenbögen. Sie spürte, wie das Fleisch dem Metall nachgab, besser, als sie es sich vorgestellt hatte.
Der darauffolgende Schmerz musste ihren Gegner stark genug getroffen haben, um ihn daran zu hindern, unsichtbare Schläge gegen Daeso auszuteilen. Dieser eilte mit strammen Schritten auf Kari und den Magier zu und beendete das Leben des Letzteren durch einen Stoß mitten durchs Auge. Zwei mehr waren gestorben und es waren nur noch wenige auf den Beinen, wie Kari mit einem Blick in den Flur feststellte, wo sich das Feld mittlerweile auseinandergezogen und auf die Treppe sowie die umliegenden Räume verteilt hatte.
„Danke", flüsterte sie Daeso noch zu, bevor sie Seite an Seite mit ihm zu den anderen beiden ging, die es mit mehreren Magiern gleichzeitig aufnahmen, welche aber allesamt nicht das Können der Alten und des Mannes besaßen, welche tot neben dem Dachaufgang lagen. Jetzt war es nur noch die Masse, die ihnen gefährlich werden konnte und Kari vermutete, dass diese Herausforderung sich als deutlich geringer darstellen würde. Sie war bereit weiterzumachen, die kurze Niederlage, das Gefühl der Wehrlosigkeit waren in Anbetracht des nächsten Kampfes, bei dem sie funktionieren musste, wie sie es immer tat, vergessen.
Ihr nächster Gegner war kaum mehr als ein Junge, wahrscheinlich ein paar Jahre jünger als sie und wahrscheinlich noch nie in ein Gefecht verwickelt gewesen, höchstens eine Prügelei auf der Straße. Er versuchte gar nicht erst, eine Nahkampfsituation entstehen zu lassen, sondern hielt sie sich mit der Kraft vom Leib, die ihm gegeben war. Dabei ging er äußerst defensiv vor und Kari war sich sicher, dass seine Fähigkeiten auch nicht mehr hergaben. Irgendwann würde er einen Fehler machen und dann konnte sie zuschlagen.
Diese Gedanken erwiesen sich allerdings als rein theoretisch, denn es blieb nicht bei diesem Gegner. Ein anderer versetzte ihr einen Schlag von hinten mithilfe der unsichtbaren Kraft, den sie nicht hatte kommen sehen, weil er in zu großem Abstand zu ihr stand. Kari taumelte nach vorn, musste dem Jungen ausweichen und fand sich urplötzlich selbst in einer Situation wieder, die zunächst nur defensives Handeln zuließ.
Sie wich aus parierte, die Angriffe auf sie, die sie immer nur erahnte so gut es ging und war froh, als Itani kam und sie aus ihrer Lage befreite. Die Assassine hatte sich unbemerkt genähert und dem Jungen mit einer schnellen und geübten Bewegung von hinten die Kehle durchgeschnitten, sodass Blut spritzte und auch Kari traf, die sich davon aber nicht länger aufhalten ließ als nötig, ihren Blick dem anderen Angreifer zuwandte, der perplex in Richtung seines toten Kameraden sah und somit unachtsam war. Eine Chance, die sie sich nicht nehmen ließ und ihm einen gezielten Tritt versetzte. Es wäre ein Leichtes gewesen, ihm nun den Garaus zu machen, diesem Mann, dem sie nicht mal in die Augen gesehen hatte und den sie nicht wiedererkennen würde, liefe er ihr erneut über den Weg.
Allerdings musste Kari sich keine weiteren Gedanken darüber machen, denn die Zeit, in der sie gezögert hatte, ihm ihren Dolch in den Kopf oder die Schlagader zu treiben, hatte erneut Itani genutzt, um dem Leben des Magiers ein Ende zu bereiten.
Die nächsten tauchten auf, sodass es letztlich fünf verschiedene waren, mit denen Kari sich gemessen hatte. Sie waren allesamt unterschiedlich ausgebildet und manche wiesen wirklich Übung in den Kampfkünsten auf und verließen sich nicht auf das Übernatürliche, über welches sie verfügten. Es war ein ständiges Hin und Her, weswegen es auch nicht verwunderlich war, dass sie am Ende des Gemetzels, wie sie es wohl nenne musste, im Hinblick auf die toten Körper und das Blut, welches in der gesamten oberen Etage zu finden war und an jeder Bodendiele Wand zu kleben schien, niemandem den Todesstoß versetzt hatte. Sie hatte verletzt, hatte Knochen gebrochen, Wunden zugefügt, aber keiner war durch ihre Hand gestorben. Immer war da ein anderer Assassine gewesen, der diese Aufgabe übernommen hatte. Das war immer rein zufällig geschehen und sie war sich nicht einmal sicher, ob die anderen sich dieser Tatsache überhaupt bewusst waren.
Sie standen zwischen den Leichen, die den Fußboden übersäten und kontrollierten, ob sich noch einer von ihnen regte. Dem war nicht der Fall.
„Das war's", teilte Anvar mit gedämpfter Stimme mit. „Sie sind alle tot und wir leben noch und das sogar unverletzt. Vielleicht sollten wir öfter um unser Glück würfeln."
Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln.
„Wir sollten verschwinden", meinte Itani. „Ein Wunder, dass noch keine Wachen oder Schaulustige hier sind."
Dem Widersprach keiner und so verließen sie das Haus der Magier auf dem Wege, wie sie es auch betreten hatten und suchten durch die dunklen, verlassenen Gassen ihren Weg zurück zum Palast.
Entgegen jeder Vernunft war Kari auf dem Rückweg entspannter, auch wenn sie blutbeschmiert und schweißüberströmt war und es genoss, dass die kalte Nachtluft sie frösteln ließ. Selbst die Aussicht, dass doch noch eine Wache sie sehen könnte, jagte ihr keine Angst ein. Nichts konnte schlimmer sein, als wehrlos an eine Mauer gepresst zu werden und auf die Gnade anderer angewiesen zu sein, an denen man selbst versucht hatte, ein Mordattentat zu begehen.
Diese von der Erleichterung hervorgerufene Entspannung hielt an, bis sie in ihrem Bett zwischen frischen Laken lag, sich in ihre Decke eng um den Körper schlang und die Augen schloss, in der Hoffnung, dass sich keine schrecklichen Bilder vor ihrem inneren Auge auftaten.
Das geschah auch nicht, denn ein anderer Gedanke ließ sie auf einmal aus dem Halbschlaf aufschrecken. Der, der sie geheilt hatte, war nicht da gewesen. Der, der ihren Namen kannte, lebte noch und er konnte ihr jederzeit auf die Schliche kommen.
Noch größer als die Angst, dass er sie aufspürte, war aber, dass die anderen herausfanden, was sie in ihrem Leichtsinn getan hatte und dass das Kapitel mit den Magiern noch nicht zu Ende geschrieben war.
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