Sonnenblumenkerne für Willy

Der Tag hatte großartig angefangen. Eine extra große Portion Sonnenblumenkerne, das hätte ihm eigentlich zu denken geben müssen.

Dann kam sie. Diese Wahnsinnige im weißen Laborkittel. Mit den funkelnden Augen, den wallenden roten Haaren und der Stimme, die zu süß klang, um ehrlich zu sein. Evelyn Marks. Seine Peinigerin. Seine unfreiwillige Forschungspartnerin. Er kannte sie und ihre Tricks. Erst schmeichelte sie ihm, dann folgte die Kälte der Wissenschaft – oder die Hitze, je nachdem.

»Wow, Willy, die Werte sehen gut aus!«, rief sie und klatschte in die Hände. Wie konnte sie sich freuen, wenn sie ihn in Lebensgefahr brachte? Er wusste, was kommen würde. Und er wusste, was er zu tun hatte. Ihre Finger griffen nach ihm, doch diesmal war er schneller. Seine scharfen Schneidezähne fanden ihr Ziel – ein sauberer Biss dorthin, wo es wirklich wehtat. Er genoss das Quieken, das sie unterdrückte. Selbst schuld.

»Na, na, na, mein Lieber«, tadelte sie ihn mit dieser gespielten Geduld. Ihr Griff wurde schmerzhaft fest, sodass er kaum atmen konnte. »Wer wird denn gleich ...«

Er. Er würde. Er wollte. Ihre dicken Handschuhe verhinderten das Schlimmste, und schon schwebte er in der Luft. Sein Herz hämmerte, als sie ihn zu der verdammten Kiste trug. Das Ding sah aus wie ein Sarg für Kleintiere. Es roch nach verbranntem Fell und er wusste warum. Keines seiner Geschwister war zurückgekommen. Sein lautes Protestieren und Strampeln halfen nichts, ihre Finger waren wie eiserne Klammern. Keine Chance. Sanft, fast liebevoll – von wegen! – setzte sie ihn in den Käfig. Mit einem dumpfen Klicken schloss sich das Gitter. Schnell kletterte er nach oben, krallte sich an den Gitterstäben fest. Gab es irgendwo eine Schwachstelle? Vielleicht hier ... vielleicht dort ...

»Ja, ich weiß, es riecht ein bisschen streng hier«, hörte er sie murmeln. »Aber ich bin sicher, bei dir klappt es besser als bei den anderen.«

Sein Schwanz zuckte. Das klang nicht nach einer guten Prognose. Er sah ihr hinterher, als sie durch ihr chaotisches Reich schritt. Ihr Labor war eine dunkle Kathedrale des Wahnsinns. Überall blinkten Monitore, auf denen Diagramme in verrückten Farben flackerten, als würden sie tanzen. In dicken Glaszylindern brodelten seltsame Substanzen – manche funkelten wie Sternenstaub, andere schienen von innen heraus zu glühen. Kabelschlangen krochen über den Boden und verbanden leise summende Metalltürme mit der grotesken Maschinerie, in der er sich gerade befand, in der Mitte des Raumes.

Evelyn wirkte seltsam ... berauscht. Trunken von ihrer Idee. Sie trat an ihre Alchimistenecke, wo Kolben mit blauen und braunen Flüssigkeiten blubberten. Ein spiralförmiges Glasrohr leitete den Dampf zu einem Gefäß, in dem sich ein zäher schwarzer Tropfen nach dem anderen sammelte. Darunter stand ihre Kaffeetasse mit der Aufschrift: Wenn du das lesen kannst, existierst du noch. Na, vielen Dank auch.

Sie zog den Behälter heraus, schnupperte kurz daran – und nickte zufrieden. Langsam goss sie das dunkle Gebräu in einen frischen Kaffee, rührte um und nahm einen Schluck. Ihre Augen weiteten sich. Für einen Moment schien ihr Blick durch Raum und Zeit zu driften. Entspannt atmete sie aus, ein violettes Wölkchen stieg zwischen ihren Lippen auf. »Perfekt.« Sie sah ihn an: »Viel Glück, mein Kleiner. Auf uns beide.«

Er piepste scharf. Er wollte kein Team sein. Dann fing es an. Elektrisches Brummen und Knistern. Ein tiefes Dröhnen, das sich in seine Knochen bohrte. Sein Fell sträubte sich und stand waagerecht ab. Er fühlte sich fast schwerelos. Der Käfig vibrierte. Sein Herz raste.

Drei.

Zwei.

Eins.

WUMM.

Dunkelheit. Absolute Stille. War er tot? Er wagte nicht, sich zu bewegen. Es roch verbrannt. Urg. Nicht gut. Überhaupt nicht gut. Vorsichtig öffnete er die Augen. Kein Licht brannte, nur die blau-gelben Flammen der Bunsenbrenner im Alchemistenbereich verbreiteten einen flackernden Schein. Evelyn saß an ihrem Platz. Das verdammte Labor war immer noch da. Eine Inspektion seines Körpers zeigte verschmorte Stellen, die er kurz ableckte. Diese Runde hatte er überlebt.

Und doch. Irgendetwas war anders. Da! Kaum von der Dunkelheit zu unterscheiden, flirrte die Luft zwischen ihm und Evelyn, als würden heiße Dämpfe vom Betonboden aufsteigen. Auch die verrückte Wissenschaftlerin hatte es bemerkt. Stöhnend erhob sie sich von ihrem Platz und ging langsam auf die Erscheinung zu.

»Siehst du das, Willy?« Pfft. Was für eine überflüssige Frage, Ratten sahen im Dunkeln besser als halbblinde Menschen. Er erkannte, was sie meinte: Nicht nur die Luft flimmerte. In der Mitte schwebte eine haarfeine Linie zwischen Boden und Decke. Was zum Teufel hatte die Verrückte hier geschaffen? Ein schwarzes Loch?

Mit klappernden Schritten ging sie um das Phänomen herum und betrachtete es von der Seite. Nach einer Weile blieb sie stehen und starrte in den Spalt. »Hmm ... faszinierend. Alles wirkt so ... normal.«

Wen oder was sah sie dort? Aus seiner Position erkannte er nichts.

Sie kam auf ihn zu. »Das könnte der Durchbruch sein. Weißt du, was wir jetzt machen?«

Scheiße. Ja, er hatte eine Ahnung, die sich bestätigte, als sie eine Metallzange mit einem langen Griff aus einem Regal holte. Die Käfigtür öffnete sich. Schnell sprang er zur Seite, als die Klemme auf ihn zuraste. Vergiss es, Evelyn. War das seine Chance? Ja! Geschickt hangelte er sich auf allen vieren über das kühle Metall in Richtung Ausgang.

»Hey! Was fällt dir ein?«, entfuhr es ihr, aber er war vorbei und hing an den Außenstäben seines Gefängnisses. Noch ein kleiner Sprung ...

In diesem Moment packten ihn ihre geschützten Gummifinger. Mist. Zu spät. Hilflos geriet er zwischen die eisernen Zähne der Zange und fühlte sich, als wolle sie ihn in zwei Hälften zerquetschen.

»Du bist wirklich ungezogen. Wenn du so weitermachst, gibt es heute kein Abendessen.«

Die Alte war echt irre. Was auch immer sie jetzt vorhatte, Essen war in nächster Zeit sein geringstes Problem. Inzwischen war sie mit ihm um die Anomalie herumgegangen, und er erkannte, dass es eine hauchdünne Scheibe war, die vor ihnen im Raum schwebte. Ein Portal. Als hätte jemand ein kreisrundes Stück aus der Wirklichkeit herausgeschnitten. Dahinter befand sich eine staubige amerikanische Tankstelle mit Zapfsäulen, einem bäuerlichen Pick-up und einem Laden. Ringsum nichts als Wüste. Hatte sie einen Teleporter erfunden? Eher nicht.

Er ahnte, dass es mit seiner Vergangenheit zu tun hatte. Einst hatte er seine eigene Kryptowährung verkauft – oder zumindest das, was geldgierige Glücksritter dafür hielten. Sie hatten ihn mit Dollars und Euros überschüttet. Erst gab er in diversen Youtube-Videos den seriösen Erklärbär. Kurz darauf kündigte er an, mit dem »Fair-for-free-Coin« die Kryptowelt zu revolutionieren. Klimaneutral, effizient, heiß begehrt. Diese Währung hatte es nie gegeben. Die angeblichen Kursgewinne bezahlte er mit dem Geld, das ihm die Anleger überließen. Ein typisches Schneeballsystem. Er hatte sich geschworen, auszusteigen, sobald er zehn Millionen auf der hohen Kante hätte. Alles lief gut, bis eines Tages einer der Deppen seinen Namen und seine Adresse herausfand und mit einer abgesägten Schrotflinte vor seiner Tür stand. Das Aufblitzen des Mündungsfeuers und der Knall waren das Letzte, woran er sich erinnerte.

Warum er nach seinem brutalen Tod als winziges Wesen in einem sechsköpfigen Wurf »echter« Nager aufwuchs, wusste er nicht. Wiedergeboren als Laborratte. Ob es eine göttliche Strafe oder eine Ironie des Schicksals war, hatte ihm niemand erklärt. Er war nicht gläubig, schon gar nicht buddhistisch. Es war, wie es war, und er machte das Beste daraus. Bis er und seine Rattengeschwister an diese verrückte Forscherin verkauft wurden, die versuchte, ein Tor zwischen den Dimensionen zu öffnen. Mit seiner Hilfe scheinbar mit Erfolg. Oder war es doch nur ein Teleporter? Viel Hoffnung hatte er nicht.

Während er auf die Tankstelle starrte und, eingezwängt in der Zange, darauf wartete, was Evelyn vorhatte, fuhr ein protziger schwarzer Pick-up vor. Der röhrende Motor verstummte und ein dicker Mann um die fünfzig mit Halbglatze und Hawaiihemd stieg aus. Gemächlich ging er um seinen Truck herum, kratzte sich im Schritt und wollte gerade nach dem Zapfhahn greifen, als er innehielt. Sein Blick hob sich und er starrte Willy direkt an. Offenbar war das Portal von beiden Seiten zu sehen. Ein paar Herzschläge vergingen, dann kam Mann auf sie zu. Er griff hinter seinen Rücken. Das war nicht gut. Quiekend versuchte Willy sich zu befreien, doch die eiserne Klammer hielt ihn fest. Verdammt. Andererseits würde der Kerl wahrscheinlich eher auf Evelyn schießen als auf eine winzige Laborratte. Alles hatte seine Vorteile.

»Ey, was ist das?«, fragte der Dicke in breitem texanischen Dialekt und zog einen verchromten Revolver, der genauso protzig aussah wie der Truck.

Evelyn stieß einen für sie ungewohnten Fluch aus und warf die Zange – und ihn – in Richtung Tankstelle. Mit einem lauten Quicken landete er im Staub vor den Füßen des Amerikaners. Der Mann schrie auf. Ein ohrenbetäubender Schuss krachte. Heiße Steine spritzten neben Willy auf und schlugen in seinen geschundenen Pelz. Panisch sah er sich um – und sprang an die einzige Stelle, auf die der Texaner garantiert nicht schießen würde: zwischen seine Beine.

Wieder knallte es. Hatte der Irre doch ...? Willy wurde weggeschleudert. Himmel und Wüste wirbelten durcheinander, bis er schmerzhaft mit der Schnauze voran im Sand aufschlug. Verflucht. Er rappelte sich auf, spuckte den Dreck aus und schüttelte sich kurz. Gut, dass er eine Ratte war. Harte Menschenknochen hätten einen solchen Sturz nicht unbeschadet überstanden. Er blickte zurück. Da war kein schießwütiger Yankee mehr. Das runde Portal mit dem dunklen Labor schwebte einsam, wie ausgestanzt, über dem Wüstenboden. Die verrückte Wissenschaftlerin kam in Sichtweite, bewaffnet mit Pfefferspray und einer Spritze.

»Wo ist er hin?«, fragte sie erstaunt.

»Ich habe nicht den blassesten Schimmer«, antwortete er und schlug sich die Pfoten vor den Mund.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top