Formblatt 35b-1

Fetter Rauch zog an der verschmierten Panoramascheibe vorbei und verdeckte für einen Moment die Sicht auf die endlosen Straßenschluchten. Er sollte dankbar sein, das Elend für ein paar Herzschläge nicht sehen zu müssen. Die Aussicht klärte sich und die Wolkenkratzer mit ihren anklagend leeren Fensterhöhlen und aufflackernden Feuern erstreckten sich gleichförmig bis zum Horizont. Schweflige Gewitterwolken zogen träge über den grauen Himmel, als könnte es jeden Moment zu regnen beginnen. Als ob es hier je geregnet hätte. Ha! Das wäre wirklich mal was Neues. 

Was würde wohl aus den klumpigen Gebilden kommen? Säure wahrscheinlich. Das würde den Büroseelen, die mit krummen Rücken durch die Dunkelheit zwischen den Hochhäusern schlurften, Zunder geben. Er musste schmunzeln bei dem Gedanken, dass sie alle plötzlich in hektische Betriebsamkeit verfielen und wie Kakerlaken blitzschnell in den Öffnungen und Ritzen der Häuser verschwinden würden. Fast so wie damals, als Uturok mit seinen Horden in die Stadt eingefallen war, um sich seine Mitarbeiter untertan zu machen. Doch er hatte nicht mit ihm gerechnet, mit Vincent Crowley, dem obersten Stellvertreter des Höllenfürsten und Chef der Unterweltbürokratie. Zwar waren sie zunächst geflohen, doch kurz darauf hatten er und seine Männer den Angreifern mutig die Stirn geboten. Ohne Formblatt 35b-1 ging hier nichts. Schon gar nicht das grundlose Abschlachten seiner Büroseelen. Die Angriffswelle kam ins Stocken und nicht wenige wurden von den sprichwörtlichen Mühlen seiner Bürokratie verschluckt. Noch heute, dreihundert Jahre später, würde der eine oder andere von Uturoks Leuten von Schreibtisch zu Schreibtisch rennen und flehend um die Genehmigung seines Antrages auf chaotisches Gemetzel bitten. Ha! Als ob das jemals genehmigt worden wäre. Niemand metzelte in seiner Stadt ohne seine persönliche Erlaubnis.

Seufzend nahm er einen Schluck von der goldenen Flüssigkeit, die in seichten Wellen durch sein Glas schwappte. Das erdige Aroma des Balmont Dew von 1850 brannte in seiner Kehle, bevor es seinen Magen mit wohliger Wärme füllte. Er lehnte sich zurück und hörte das Leder seines Chesterfield-Sessels knirschen. Vor einer Weile hatte es ein paar besonders bösartigen Exemplaren persönlich vom Leib gezogen. Von welcher Partei waren die noch mal ...? Irgendwas mit A ... Alternative? Arschlöcher? Egal, wer in der Oberwelt rücksichtslos auf dem Leben anderer herumtrampelte und sich skrupellos bereicherte, hatte gute Chancen, hier zu landen. Jeder von denen hatte es verdient. Ha! Was war das für ein Spaß gewesen.

Aber heute ... nur der übliche Bürokram. Neue Seelen trafen ein und wurden mit Hilfsaufgaben versorgt. Ab und zu schaffte es einer, seine Kollegen zu erstechen und seinen Chef aus dem Fenster zu werfen. So stiegen sie langsam in der Hierarchie auf. Irgendwann, so dachten sie, nach ein paar Jahrhunderten, würden sie über die anderen bestimmen. Ha! Was für ein Unsinn! Als ob eine menschliche Seele in der Hölle herrschen könnte. Nach einer Weile wurden sie von ihren eigenen Untergebenen gelyncht und landeten in einem der tieferen Höllenkreise – wegen ihres schlechten Führungsstils. Er kicherte leise in sich hinein. Daran hätten die Menschen denken sollen, bevor sie sich in der Oberwelt wie selbstsüchtige Arschlöcher benahmen. Ein weiterer Schluck goldenen Glücks rann seine Kehle hinunter. Er konnte nicht leugnen, dass er sich langweilte. Früher hatte so mancher Dummkopf versucht, ihn zu beschwören und sich Dinge wie Reichtum, ein gesundes Kind oder den Tod eines Erzfeindes gewünscht. Aber heute ... ... waren es höchstens ein paar gelangweilte Teenager oder alte Tanten, die glaubten, er könne sie mit ihren toten Söhnen oder Ehemännern sprechen lassen. Was er natürlich gerne tat, wenn sie ihm dafür ihre Unterschrift gaben. Neue Mitarbeiterinnen konnte er immer gebrauchen. Die Arbeit hier unten war in der Neuzeit nicht weniger geworden. Warum lasen die eigentlich nie das Kleingedruckte?

Hinter ihm quietschten die rostigen Scharniere seiner Bürotür. Ärgerlich öffnete er die Augen und drehte halb im Liegen den Kopf in die Richtung. Im Flur stand Frederik. Mit zitternden Fingern hielt er ein zerknittertes Blatt Papier vor der Brust. Der schlaksige Mann mit der Halbglatze war der Leiter der »Abteilung für manuell ausgehandelte Vertragsklauseln unklarer Herkunft«, kurz: AfumaVmuH. Seine Fälle waren alle sehr ärgerlich. Wenn ein Mensch einen Dämon überredete, eigene Ergänzungen oder Änderungen in den Seelenvertrag aufzunehmen, konnte es zu den merkwürdigsten Konstellationen kommen. Und wenn dann auch noch unklar war, welcher seiner Dämonenkollegen dieses Dokument verfasst hatte, konnte es leicht Probleme geben. Zum Beispiel wurde es schwierig, die Seele in den richtigen der verschiedenen Höllenkreise zu werfen. Nicht, dass sich später jemand beschwerte, warum er ständig im Wasser ertrank, wo er doch einen Vertrag mit einem Feuerdämon oder so etwas abgeschlossen hatte. Wieder entfuhr ihm ein Kichern, das Frederik einen halben Schritt zurückweichen ließ. Trotzdem blieb er tapfer im Türrahmen stehen. Nun, es musste wichtig sein.

»Was ist los, Freddi?«, wandte er sich an seinen Untergebenen. Der Mann rückte seine goldene Nickelbrille mit den gesprungenen Gläsern zurecht und blickte auf. »Ähm ... der Unterzeichner dieses Vertrages ...«

»Ja?«

»Nun ...« Sein Abteilungsleiter schluckte. »... wir ... finden ihn nicht.«

Warum kam er mit so einer Kleinigkeit zu ihm? »Da hat wohl jemand seine Akte falsch einsortiert. Dann müsst ihr die Papiere noch einmal durchgehen. Das wird doch nicht länger als ein paar Jahre dauern, oder?«

»Genau das habe ich gemeint. Ich habe seine Akte hier.«

Vincent erhob sich stöhnend. Er stellte sein Whiskyglas zwischen die meterhohen, vergilbten Papierstapel auf seinem Schreibtisch, der neben dem Sessel stand. 

»Was ist das Problem?«, fragte er und ging langsam auf den Mittvierziger zu, der in dem dunklen Flur, der zu Vincents Büro führte, einen Schritt zurücktrat.

»Der Mann. Er ist unauffindbar.«

Das war unerhört. Er hatte noch nie eine Seele verloren. Wo sollte sie hier sein? In der Hölle gab es nur eine Richtung: abwärts. Ganz unten wartete der oberste Chef höchstpersönlich auf die Unglücklichen, die dumm genug waren, es bis dorthin zu schaffen. Dort blieben sie – für immer.

»Und wo sollte er sein?«, fragte er. »Bei euch unfähigen Büroseelen wohl kaum.«

Frederik warf einen Blick auf das zerknitterte Papier in seinen Händen. »Nein. Das wüssten wir. Er müsste bei den Regrettern sein, aber da hat ihn niemand gesehen. Im Vertrag hatte er eine zweite Chance ausgehandelt – und bekommen. Natürlich hat er sie versaut.«

»Natürlich.« Er riss seinem Abteilungsleiter das Papier aus der Hand und warf einen Blick darauf, während er durch sein Büro ging. Es ging um einen Mann namens Solomon Fairway. Wofür genau er seine zweite Chance nutzen durfte, war leider nicht beschrieben. Dafür war umso klarer geregelt, dass er nach dem Tod seine Seele der Unterwelt übergibt und ewige Qualen auf ihn warten. Beides war ungewöhnlich klar formuliert. Normalerweise war die Leistung an verschiedene Bedingungen geknüpft, und die Qualen in der Unterwelt waren gut versteckt zwischen Tausenden von Zeilen unwichtiger und langatmiger Klauseln. Aber dieser Vertrag passte auf ein einziges Blatt Papier. Auf ein einziges! Das war unerhört. Warum sollte ein Mensch so etwas unterschreiben? Die Unterschrift des Dämons war zudem unleserlich und ohne das übliche Siegel. Was für eine Schlamperei. Aber er würde schon herausfinden, welcher seiner Dämonenkollegen dafür verantwortlich war. 

Das Wichtigste war jedoch, die menschliche Seele zu finden. Sollte tatsächlich eine aus der Obhut seiner hunderttausendköpfigen Behörde entkommen sein ... nun, das wäre nicht gut. Er hatte keine Lust, dem obersten Chef persönlich gegenüberzutreten. Die Aussicht, dass der ihn direkt ins Feuer steckte und röstete, bis die Hölle zufror, war nicht gerade erbaulich. Alles musste man selber machen.

»Freddi? Komm mal bitte her.« Er stand mitten in seinem Büro zwischen verstaubten Aktenschränken und Akten, die sich bis unter die Decke stapelten.

»Chef?« Er rührte sich nicht von der Stelle.

»Jetzt komm schon. Ich brauche deine Hilfe.«

»Nun ... Natürlich, Chef.« Endlich bewegte sich der andere.

»Sag mal, Freddi, hast du eigentlich einen fähigen Stellvertreter ausgebildet?«

Frederik nickte, während ihm ein Schweißtropfen über die Schläfe lief.

»Sehr gut.« Mit der Hand durchbohrte Vincent die Brust seines Gegenübers, als bestünde sie aus Papier und Wackelpudding. Er riss die Augen auf und verzog vor Schmerz das Gesicht. Obwohl hier nur die Seelen der Toten am Werk waren, bildeten sie die ursprünglichen Formen der Menschen erstaunlich präzise nach. In seiner Handfläche spürte er das schnell pulsierende Herz des Mannes. Es raste wie das einer Maus, die kurz davor war, von einer Katze gefressen zu werden. Der Vergleich war nicht ganz abwegig. Nur ging es ihm nicht um den Körper, den es nicht mehr gab, sondern um die Energie, die in seiner Seele schlummerte. Mit kräftigem Druck presste er etwas davon heraus. Gerade genug, um in den nahe gelegenen Höllenkreis der Regretter zu springen – und Frederik mitzunehmen. Der Abteilungsleiter keuchte kurz auf und griff sich hilflos an die Brust, in der Vincents Hand steckte. Dann fielen sie.

Die Stockwerke des Wolkenkratzers rauschten an ihnen vorbei. Etagen, in denen sich Aktenschränke und Schreibtische stapelten. Gefüllt mit Heerscharen buckliger Buchhalter und Beamter, die sich durch Papierberge wühlten. Frederik schrie. Vergeblich versuchte er, sich mit den Händen festzuhalten. Im Erdgeschoss angekommen, ging es weiter abwärts. Durch die endlosen Ebenen der Tiefgarage, wo vermummte Männer auf Frauen lauerten, die immer wieder die gleiche Tortur über sich ergehen lassen mussten. Vorbei an Gangs von Halbstarken, die sich in ewigwährenden Messerstechereien die Leiber aufschlitzten und Kugeln in die Köpfe jagten, ohne je zu sterben. Bis sie schließlich von brauner Erde umgeben waren, in der die Körper der lebendig begrabenen Seelen versuchten, aus den Särgen zu entkommen.

Kaum waren sie vorbei, befanden sie sich im freien Fall aus einem klaren blauen Himmel. Asphalt raste auf sie zu. Vincent ging in die Hocke. Der Aufprall war für ihn nicht besonders hart, wie wenn man von einem Stuhl springt. Frederik dagegen klatschte wie ein nasser Sack auf den Boden und zerplatzte wie die Wasserbombe eines Kindes. Sein Schrei verstummte abrupt. Er zog seine Hand aus dem blutigen Matsch des Abteilungsleiters und sah sich um. Natürlich hätte er auch den Aufzug nehmen können, aber so machte es viel mehr Spaß. Ha!

Er stand mitten auf einem leeren Highway. Gelbe Streifen zogen sich über den aufgerissenen Asphalt bis zum Horizont. Die Hitze hing flimmernd über der Straße und bildete wasserähnliche Spiegelungen. Links von ihm lag eine Tankstelle mit roten Zapfsäulen und einer großen grünen Sieben auf dem Vordach. In einem heruntergekommenen, einstöckigen Gebäude konnte man bezahlen und sich mit Reiseproviant eindecken. Davor standen zwei ausladende Pick-ups. Einer schwarz, monströs und nagelneu. Der andere ein verwittertes blaues Modell mit Heuballen auf der Ladefläche. Menschen waren nicht zu sehen. Auch sonst bot der Rest der trostlosen Wüstenlandschaft, die sich nach allen Seiten erstreckte, nichts, woran sich das Auge festhalten konnte. Aber gut, dieser Teil der Unterwelt war nicht für seine malerischen Landschaften bekannt.

»Autsch! Aua, ist das heiß!« Neben ihm kam Frederik, dessen Einzelteile sich inzwischen wieder zusammengefügt hatten, zu sich. Er hob sein krebsrot verbranntes Gesicht und seine Arme vom glühenden Asphalt, den die Sonne eine buchstäbliche Ewigkeit aufgeheizt hatte.

»Willkommen in der ewigen Reue«, begrüßte er seinen Mitarbeiter.

Der richtete sich auf und schaute sich um. »Wir sind bei den Regrettern?«

»Natürlich, hier hast du die Seele des Mannes verloren, nicht wahr?«

»Ich habe sie nicht verloren, mein Team kümmert sich nur um die Archivierung der Verträge«, protestierte der andere.

Vincent ignorierte ihn und ging auf die Tankstelle zu. Theoretisch müsste die Person, die er suchte, hier sein. War es möglich, sich in seiner persönlichen Hölle zu verstecken? So richtig konnte er sich das nicht vorstellen. Sie würden es gleich herausfinden.

»Freddi, wo bist du?«, rief er und drehte sich um. Der schlaksige Mann beeilte sich, ihn einzuholen. 

»Was genau machen wir hier?«

»Ich mache hier gar nichts, dazu fehlt mir eine menschliche Seele. Aber ich habe ja dich.«

»Ähm ... Okay, und was genau mache ich hier?«

Vincent zuckte mit den Schultern. »Ich habe keine Ahnung. Das werden wir ja sehen. Willst du was trinken?«

Wieder zögerte Frederik. Kein Wunder, er war ja nicht dumm. Ihm war klar, dass er hier das Versuchskaninchen spielte.

»Was? Willst du nicht reingehen? Komm, wir haben nicht ewig Zeit.«

Während er den Beamten zur Eingangstür schob, betrachtete er den schwarzen Truck genauer. Der Lack war poliert, die Edelstahlfelgen glänzten, hinter der Windschutzscheibe baumelten ein paar Würfel und das Kennzeichen »DG BOSS« sprach für sich. Frederik zog die Glastür auf und ging hinein. Vincent folgte ihm. Eisige Klimaanlagenluft schlug ihm entgegen. Der Laden bestand aus drei Regalen mit Supermarktartikeln, einem Tresen mit Kassensystem und einem Kühlschrank, in dem sich auf der einen Seite Eis und auf der anderen gekühlte Getränke stapelten. Hinter der Kasse stand ein Inder mittleren Alters mit schwarzem Turban. Der Kunde vor ihm drehte ihm den Rücken zu. Ein breitschultriger Typ im Blaumann mit Baseballmütze. Links vom Regal verharrte ein älterer Farmer mit weißem Vollbart, Strohhut und Zahnstocher zwischen den Zähnen. Wahrscheinlich der Besitzer des blauen Pick-ups. Niemand rührte sich. Frederik schien es nicht zu kümmern. Trotz der regungslosen Stille ging er zum Kühlschrank und holte sich eine Flasche Wasser. Als er sich zur Kasse umdrehte, hielt er inne. Seine Augen wurden groß. »Oh ... ähm ... ich wollte nicht stören. Vielleicht ... ähm ... gehe ich einfach wieder.«

Der Blaumann hob einen schwarzen Revolver, zielte auf den Kopf des Abteilungsleiters – und drückte ab.

[2165 Wörter]

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