Kapitel 7 - Das Dorf im Moor
England, Westküste
Devonshire
Dartmoor, St. George,
3. November 1898, 20:10 Uhr
Der muffige Geruch der Kutsche vermischt mit Schweiß und einer Note von Moor an ihrem Schuhwerk ließ die Wände seiner Geduld dünner werden. Die lange Reise zehrte an seinen Kräften und das Ereignis im Wald an seinen Nerven. Es war ein Gefühl von Zwiespältigkeit. Sein Instinkt, der schrie, dass man lieber umdrehen und fortlaufen sollte. Doch gleichzeitig war da auch diese absonderliche Aufregung. Neugier, die einen vorantrieb und ein Pflichtgefühl denen gegenüber, die den Dingen noch weniger gewachsen waren, die sich hier vielleicht abspielten. Es war ein Rätsel, das es zu lösen galt und Kyle liebte Denkspiele. Er genoss es, wenn sein Verstand an Ecken und Kanten stieß und neue Wege suchen musste. Doch am meisten berauschte es ihn, wenn er am Ende die Lösung fand. Es war ein großartiges Gefühl, klüger als die anderen im Raum zu sein. Und hier stand noch so viel mehr auf dem Spiel als nur ein Auftrag. Auch deshalb flatterte die Unruhe unsichtbar bis in seine Fingerspitzen.
Irgendwann lehnte Kyle den Kopf an die Kutschenwand. Er lauschte den Klängen außerhalb und seinen Gedanken. Zahlreiche Minuten flossen dahin, dann lichtete sich die Dunkelheit um sie herum. Der Nebel stieß sich nicht mehr an zahllosen Reihen von Bäumen oder dicht bewachsenen Flecken von Schilf und Sumpfgras. Stattdessen ergoss er sich auf flache Hügellandschaft und der Wald entließ das klappernde Gefährt mit seinen Insassen endlich aus seinen Klauen. Hier hing der Schleier nicht mehr so hoch und Kyle wäre am liebsten jauchzend von der unbequemen Bank aufgesprungen, weil Lichtschein aus Fenstern, Rauch aus Kaminen und die Silhouette des kleinen Dorfes endlich in Sichtweite kamen.
Die Kutsche holperte den Pfad entlang, zu dessen Seiten sich immer wieder aufgeschichtete Haufen Erde abzeichneten. Rechteckige Klumpen an heraus gestochenem Torfsoden lehnten dort an Pfählen und der Nebel stürzte als weiß-seidener Wasserfall in die straßenbreiten Gräben, aus denen die Blöcke herausgehoben worden waren. Im wenigen Licht und verschwommen durch den Nebelschleier, wirkte es nahezu, als wären die flachen Felder von Gräbern übersät.
Das flache Weideland und die Entwässerungsgräben blieben hinter ihnen zurück. Der Kutscher drosselte das Tempo, als die ersten Häuser an ihnen vorüberzogen. Die Gehöfte lagen verstreut um das Dorf und ein gutes Stück auseinander. Platt-getretene Pfade und kleine Alleen führten vorbei an hölzernen Weidezäunen und halbhohen, teilweise eingefallenen Mauern. Überwuchert mit Flechten und Moos, sahen die Grenzwächter aus, als hätte man sie achtlos mit Farbe bespritzt. Daneben reihten sich die kleinen mit Schilf und Stroh gedeckten Häuschen ein. Die meisten waren hell getüncht mit rundlich gebogenen Dächern.
Es war ein typisches kleines Torfstecher-Dorf, nicht sonderlich groß und bewohnt von einer überschaubaren Gemeinde. Ein festgetretener Pfad, den man kaum als Hauptstraße hätte bezeichnen dürfen, zog sich durch die winzige Siedlung und bog in wenige Seitengassen ab, die in Hinterhöfe, zu Hintereingängen oder Gärten führten. Viele der Fensterläden waren geschlossen und in manchen sogar bereits die Lichter gelöscht.
'Hier klappen sie schon um acht die Bürgersteige hoch', dachte Kyle verächtlich und setzte sich auf der Kutschenbank ein wenig aufrechter hin. Für jemanden wie ihn, der aus London und damit dem ohne Unterlass pochenden Herzen des Empires kam, war dies mehr als ungewohnt. Sein Nebensitzer warf ihm einen Blick zu. Das kleine Flämmchen von Amüsement über Kyles Verhalten, welches in diesem Moment an einen aus dem Fenster starrenden Hund erinnerte, verbarg er zu schnell, als dass es jemand hätte bemerken können.
Das Fuhrwerk ratterte geräuschvoll durch die schlammigen, ungepflasterten Straßen. Klappern zerstreute sich erst in der nächtlichen Dorfstille, bis sie den Platz erreichten. Eine junge Frau mit Schürze scheuchte gerade in harschem Ton ein altes Weib hinfort. Ihr Blick schien nur kurz an der Kutsche zu verweilen, dann ging sie ihres Weges und bog in eine der Seitenpfade. Die Kutsche vollzog auf dem winzigen Marktplatz eine halbe Wende um den kleinen Brunnen und hielt schließlich vor dem Gebäude, vor dem die Alte eben vertrieben worden war. Die großen, kunstvoll geschwungenen Lettern „SKIRRID INN" an der Fassade über der Eingangstür verkündeten jedem sofort, dass es sich um das Gasthaus handelte. Endlich würde er aus diesem grauenhaften Kasten herauskommen!
»Himmel sei Dank!« Man konnte kaum so schnell blinzeln, wie Kyle dabei war, aus der rasch geöffneten Kutschentür zu springen.
Sofort wehte frische Landluft um seine Nase. Der typisch torfige Geruch von nasser Erde und aufziehendem Regen löste den Muff der Kutsche ab. Duftnuancen von Gräsern und Moor wurde bis hierher getrieben, der Boden war vergleichsweise weich aber zum Glück nicht mehr so schlammig wie im Wald. Aus dem Innern des Gasthauses tönte der Lärm von Geselligkeit. Gelächter und das Klirren von Gläsern drang aus der Tür der Schenke.
Plötzlich näherten sich auffallend eilige Schritte von seiner Rechten. Gerade als er dabei war den Kopf zu drehen, griff jemand bereits nach seiner Hand und schüttelte sie mit einem festen Griff. Die Linke noch dazu. Sofort versteifte sich der Magier. Er hasste es, wenn man ihn einfach anfasste und noch mehr, wenn man es wagte, unaufgefordert nach seinen Händen zu greifen.
»Herzlich willkommen in St. George! Wir haben Sie schon sehnsüchtig erwartet«, ertönte eine belegte Stimme und Kyles Züge wandelten sich in verständnislose Irritation. Er widerstand gerade noch dem Drang, die Hand ruckartig zurückzuziehen. Ein blank gewischter Gesichtsausdruck stand stattdessen in seinen Zügen, während er sich einem älteren Herrn gegenübersah. Dessen Kleidung entsprach genau dem Bild, dass Kyle von einem Einwohner eines solch hinterwäldlerischem Kaffes erwartet hatte: eine Kniebundhose mit hohen Strümpfen, ein dunkelgrüner Cutaway und eine braune Samt-Weste mit einem roten Schal. Auf seinem Haupt ruhte ein hoher Hut mit ein paar albernen, grünen und blauen Federn, die bei seinem überschwänglichen Kopfnicken wippten. Kyles Sinn für Mode krümmte sich bei diesem Anblick leidend wie ein sterbendes Tier. Trachtenkleidung.
»Wir sind sehr froh, dass Sie so schnell kommen konnten, Pater«, redete der Mann weiter und hielt dann inne. Sein Blick rutschte über Kyles Gesicht, flog über die feine Kleidung, hing etwas länger als notwendig an dem Gehstock mit dem silbernen Knauf und kletterte dann wieder an ihm empor, um an seinem Kragen mit dem Seidenschal hängenzubleiben. Offensichtlich fand er nicht, wonach er suchte. Kyle konnte den Augenblick der Erkenntnis in dessen Augen sehen, ehe der andere Mann seine Hand so schnell wieder entließ, wie er sie ergriffen hatte.
»Er ist nicht der neue Pater«, erklang es trocken hinter Kyle und ihm war klar, dass Dr. Archer ausgestiegen war. »Dieser Herr hier ist es«, fügte er an und deutete über seine Schulter auf den Mann, der als letzter aus der Kutsche geklettert kam.
»Oh. Ich bitte um Verzeihung.« Die Freundlichkeit fiel aus den Zügen des Mannes. Sie schwand nicht ganz, aber Kyle konnte schwören, dass er das Klirren förmlich hörte, als es auf dem Boden auftraf und das ach so feine Porzellan des Anstands einen tiefen Riss bekam. Der Herr ließ einen Blick über ihn schweifen und nun lag eine weitaus weniger freundliche, geschweige denn respektvolle Attitüde darin. Noch war Kyle sich nicht sicher, ob es sofortige Abneigung oder schlichte Skepsis war.
»Ich bin Mister Joseph Mosten, der Bürgermeister von St. George.« Mit jedem Wort des Satzes glitt sein Kinn ein wenig mehr in die Höhe. Der Mann streckte den Rücken durch und reckte wie eine Schildkröte den dünnen Hals aus dem Kragen empor, als wollte er seiner Gestalt damit Imposanz verleihen. Er trug leichte Schatten unter den Augen und seine Züge wirkten verhärtet. »Und Sie sind?«, fragte er dann und ließ keinen Raum für Missverständnisse, dass Fremde hier allem Anschein nach nicht wirklich willkommen waren.
Kyle versuchte nachsichtig zu sein. Vielleicht rechnete der Mann mit irgendwelchen Kolporteuren und niemand mochte die Aasgeier der Presse. Irgendwo in der Nähe schlug ein Fensterladen hörbar zu. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie unweit in einem anderen, erleuchteten Fenster eine ältere Dame die Nase rümpfte und dann schnell die Vorhänge zuzog. Der Herr stierte ungeduldig in Kyles Züge.
Dessen Lippen verzogen sich zu einem ausdruckslosen Strich. Es gab Menschen, die waren niemand Bedeutendes und besaßen dennoch eine solche Ausstrahlung und Wirkung auf Andere, dass man sich von ihren Worten hin- oder mitgerissen fühlte. Andere wiederum besaßen eine Machtposition, die sie sich in den seltensten Fällen erarbeitet hatten und es genossen, auf andere herabzublicken und sich für etwas Besseres zu halten. Es war nicht schwer zu erkennen, zu welcher Sorte dieser Herr gehörte.
Die geschwungenen Mundwinkel des Suchers fielen kurz nach unten und bezeugten für diesen Moment offensichtlich das Missfallen, welches die schlecht verborgene Unhöflichkeit in ihm auslöste. Er mochte diesen Mann nicht. Das hatte er schlicht beschlossen, so wie man sich ein Jackett besah und einfach vom ersten Augenblick an wusste, dass es scheußlich aussah, egal, was man dazu trug. Dann rutschten Kyles Mundwinkel wieder höher und formten ein Lächeln. Es war so falsch, dass kein Funke darin hätte Feuer schüren können und es erreichte seine Augen nicht einmal ansatzweise.
»Kyle Crowford.« Er deutete anschließend auf den Herrn neben sich »Und dies ist Mr. Archer.«
Kyle führte offensichtlich weder Berufung noch den Grund ihrer Anwesenheit aus. Es ging weniger darum, dass Kyle etwas hätte geheim halten wollen, sondern einfach nur ums Prinzip.
Der Mann nickte, als müsste er die Aussage amtlich beglaubigen. Die großen Federn wippten dabei, dann trat der Pater zu der kleinen Gruppe. Hinter ihnen fluchte der Kutscher wie ein Seemann, während er das zahlreiche Gepäck abladen musste.
»Pater. Willkommen in St. George«, wiederholte der Schultheiß abermals, diesmal an den richtigen gerichtet. Sein Ton war deutlich freundlicher und höflich. Diesmal war es der Pater, der die Hände ausstreckte und nach denen des Bürgermeisters griff, als kannten sie sich schon viele Jahre.
»Danke mein Sohn. Ich bin froh hier zu sein«, erwiderte der neue Dorfpriester. Er klang dabei ehrlich erleichtert.
»Wir sind sehr dankbar, dass Sie da sind. Ich werde Sie gleich höchstpersönlich zu unserer Kapelle begleiten und Ihnen das Pfarrhaus zeigen«, erklärte Bürgermeister Mosten, ehe er seinen Blick wieder den beiden anderen Gästen zuwandte. »Darf ich fragen, aus welchem Grund Herrschaften wie Sie in unsere bescheidene Gemeinde kommen?«, fragte er ein wenig schneidiger.
»Sie sind auf mein Bitten hier!«, mischte sich nun eine weitere, gehetzte Stimme ein. Sie gehörte zu einer Gestalt, die eilig aus der Schenke heraus und zu der kleinen Gruppe gelaufen kam. Der atemlose Herr trug einen knielangen Mantel aus dicker, schwarzer Wolle mit auffallenden silbernen Buchstaben und Ziffern am Kragen. An seinem breiten Gürtel aus dunklem Leder, baumelte ein Polizeiknüppel und obwohl er nicht den signifikanten Helm eines Polizisten trug, erkannte man ihn auch ohne das Ding auf den ersten Blick. Er war schätzungsweise 40 Jahre alt und hatte unter Lord Sunderbrandy, wie jener ihnen in London berichtet hatte, im Zweiten Anglo-Afghanischen-Krieg als Bursche gedient. Jetzt warf der Mann mit der leicht gekrümmten Nase und dem buschigen Schnauzer einen kurzen Blick zu den Gästen. In seinen Augen glimmte ehrliche Erleichterung über die Ankunft der beiden Herren.
»Sie sind Bekannte eines sehr guten Freundes von mir. Und meine Gäste«, fuhr der Constable fort und nun legte der Bürgermeister die Stirn in Falten. Scheinbar ahnte er, was der Grund für die neuen Besucher sein konnte. Er gab ein tiefes, nachdenkliches Brummen von sich, dann nickte er.
»Nungut. Ich geleite den Pater zu seinem Haus. Wir sprechen morgen darüber. Kommen Sie mit ihren Gästen nach dem Mittag in meine Amtsstube.«
»Natürlich Joseph, wie Sie wünschen«, meinte der Constable und Kyle konnte sehen, wie der Bürgermeister kurz die Lippen missbilligend verzog. Das hier war ein kleines Dorf, jeder kannte jeden und am Ende der Welt waren Titel weit weniger gewichtig. Selbst der eines Bürgermeisters. Doch scheinbar hätte der werte Herr vor den Neuankömmlingen gerne länger seine Autorität gewahrt. Stattdessen verabschiedete sich jetzt auch der Priester, indem er dem Doktor und Kyle die Hände schüttelte und erklärte, dass er trotz allem auf ein baldiges Wiedersehen in der Kapelle hoffte. Dann entfernten sich die beiden in einem schlendernden Schritt.
»Entschuldigen Sie bitte. Die Leute sind aktuell ein wenig angespannt«, erklärte der Polizeibeamte anschließend. »Ich bin Constable Henry Baltimore.«
Er schüttelte beiden Herren höflich die Hände. Nachfolgend glitten seine Finger sichtlich gespannt durch das dunkelbraun gelockte Haar. »Sie sind sicher erschöpft von der langen Reise«, fuhr er nachsichtig fort und deutete auf das Gasthaus.
»Bitte, Kommen Sie. Im Gasthaus ist es wärmer und Sie können erst einmal ankommen.« Wobei er einen Blick auf die Gepäckstücke warf, welche die Herren dabeihatten. »Ich helfe Ihnen mit dem Gepäck.« Der Haufen war beachtlich: ein großer und ein kleinerer Reisekoffer, eine Reisetasche, ein lederner Aktenkoffer sowie eine Arzttasche.
»Es sind auch schon zwei Zimmer, für Sie vorbereitet. Wir werden morgen noch die Gelegenheit haben, uns ausführlich zu unterhalten«, führte er aus und Dr. Archer nickte zustimmend, während Kyle dem armen Kutscher für seine Mühen etwas mehr Trinkgeld gab. Dann folgten sie dem Constable zum Gasthaus.
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