Kapitel 52 - Der Bannkreis
England, Westküste
Devonshire, Dartmoor
Dyowl's Hollow - Wälder von Dartmoor
5. November 1898, 22:50 Uhr
Ein tiefdunkles Grollen kam volltönend aus der Brust der Kreatur. Kyle konnte sehen, dass es in Rage war.
Und es hätte ihm nicht gleichgültiger sein können.
Sollte dieser dreckige Hurensohn wütend sein und toben, dann machte er vielleicht in seiner Raserei Fehler. Und jene könnten ihnen zum Vorteil gereichen.
Schlimmer konnte es nicht werden und ihr Leben stand schon auf der Schneide. Es hieß nun entweder das Ding oder sie. Und gerade erst dem Tod entronnen, rumorte zu seiner eigenen Überraschung dieses Mal keine Furcht in seinem Magen. Das klamme, drückende Gefühl war in dem schwarzen Wasser ersoffen und verbissenem Groll gewichen.
»Das ist nicht möglich. Diese Magie übersteigt bei Weitem deine Fähigkeiten jämmerlicher Heckenmagier.« krächzte die Kreatur, dann glitt das spitze Kinn höher. Die lange, dürre Nase reckte sich, die Nasenflügel blähten wie große Nüstern und atmeten tief ein.
Er kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und mit gebleckten Zähnen fasste sein Blick jetzt die Hand des Zauberers ins Auge. Das Gewebe um den Daumen, von dem rotes Blut über das Handgelenk verschmierte und dazu einlud, noch mehr aufzureißen, war von einer schwärzlichen Färbung durchzogen. Dann blitzte mit einem Mal Erkenntnis in seinen Augen auf und die verzogene Fratze weitete die bis eben noch zu schmalen Schlitzen zusammengekniffenen Augen in einer Mischung aus Unglaube und Erkenntnis.
»Blutmagie«, raunte er dann, schmeckte das finstere Wort auf der Zunge und Kyle konnte sehen, wie Benjamin ihn daraufhin aus noch größeren Augen anstarrte. »Wie kannst du es wagen, so leichtfertig ein Loch in das Gefüge zu reißen!«
»Du hast mich dazu gezwungen, du Bastard«, fauchte Kyle trocken zurück und durchbohrte die groteske Gestalt mit einem genauso eisigen Blick, während er sich nun aufrichtete. Er wischte das schwarze Haar aus seiner Stirn und seinen Augen, damit es ihm nicht die Sicht verklebte.
Nun konnte er das Biest, das ihnen das Leben so schwer machte, das erste Mal richtig sehen. Grotesk entstellte Formen, so unmenschlich und grauenhaft anzusehen, dass er sich am liebsten erneut übergeben hätte.
»Du hast mich beinahe umgebracht. Wer oder was zur Hölle bist du?«
»ICH bin der Drache von Manaton...«, begann das Monster zu zischen.
Der Drache von Manaton.
Drache.
In Kyles Kopf legte sich endlich ein Schalter um und nun griffen die unzähligen Teile ineinander.
Die Geschichte des neuen Priesters kam ihm in den Sinn. Vor unzähligen Jahren sollte ein Ritter einen Drachen in dieser Gegend erschlagen haben. Deshalb nannte man diesen Ort St. George.
Der heilige Georg und sein Kampf gegen den Drachen waren Sinnbild des Sieges des Christentums über die Heiden – und den Teufel. Das Erschlagen des Biestes.
Die Leute hatten immer noch Angst vor dem Platz in den Wäldern. Dyowl's Hollow. Das Teufelsloch.
Kyles Augen hafteten sich an die glühend Rote Feder, die am Haupt der Kreatur tanzte und glimmte. Kleine Funken lösten und zerstreuten sich in der Nacht, ehe sie erloschen. In deutschen und baltischen Märchen erschien der Teufel oft mit einer roten Feder am Hut.
Jetzt ergab alles plötzlich einen Sinn.
Wie hatte er nur so blind sein können?
»Du bist ein Dämon«, sprach es Kyle aus und unterbrach die Kreatur, die bereits dabei war, sich mit all ihren Titeln und falschen Namen zu brüsten. »DU bist ein gottverdammter Dämon.« Klickend griffen die Zahnräder ineinander und ließen das Rad in seinem Verstand sich weiterdrehen.
»Du hast das Kind ausgespielt, einen Pakt geschlossen und jetzt raubst du die Leben und die Seelen«, schlüsselte er zusammen und der Dämon fletschte die Zähne.
»Du, Zauberer, solltest eigentlich nicht mehr am Leben sein«, grollte er, ohne auf Kyles Worte einzugehen. »Die Furcht vor euch hat deinen Namen auf die Liste der kleinen Annabeth gesetzt. DU hättest still und leise in deinem wässrigen Grab ertrinken sollen... jetzt bin ich gezwungen, dich vor den Augen des Doktors auseinanderzureißen. Stück. Für. Stück.« Er schnalzte mit der Zunge und kräuselte dann die langgezogene Nase, sodass die ledrige Haut dicke Falten zog. »Niemand mischt sich ungestraft in meinen Pakt ein.«
Der plötzlich aufziehende Wind riss Kyle beinahe von den Beinen. Er zerrte all die Blätter vom Boden herauf, die sich an Ästen, Wurzelwerk oder Bäumen festklammerten. Unendlich viele Flecken feuchtem, klebrigem und schmutzigem Laubes, welches in Braun, Rot und Gelb plötzlich überall war. Ein gewaltiger Sturm, der gegen ihre Beine, ihr Gesicht und in ihre Augen klatschte.
Von jetzt auf gleich legte sich ein widerlicher Druck um ihre Ohren, doch er wurde von körperlosen, schrillen Schreien gellendem Leids durchbrochen. Als würde jemand Hunderte bei lebendigem Leibe verschlingen oder folterte Kinder, Frauen und Männer gleichermaßen oder riss ihnen das Fleisch bei lebendigem Geiste von den Knochen. So mochte es sich anhören, wenn man eine Folterkammer mit Menschen füllte, die sich die Seele aus dem Leib brüllten und ihrem Leid doch nicht zu entkommen vermochten.
Allein von den Klängen wollten Dr. Archer und Kyle sich ebenfalls winden. Ihre Ohren klingelten, schmerzten und kein klarer Gedanke vermochte sich in dieser Folter zu formen.
Alles geschah auf einmal.
Stöcke schlugen ihnen ins Gesicht. Hart und spitz, mal Dornenzweige und dann wieder nur kleine trockene Äste. Blätter klatschten dazwischen, klebten an ihrer Haut und waren mit der aufgewühlten Erde des plötzlichen Sturmes überall. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als die Augen und Lippen zusammenzupressen.
Dr. Archer zerrte Kyle hinter einen Felsen, wo sie sich zusammenkauerten, Arme und Beine an den Körper zogen und versuchten, sich irgendwie zu schützen. Ihre pochenden Herzen rechneten bereits jeden Moment mit einem weiteren Angriff.
Unvermittelt, so schnell wie er aufgestiegen war, fiel der Sturm in sich zusammen.
Der eisige Atem erlahmte.
Die Schreie und das Rauschen verstummten.
Der Blätterregen sank herab, rauschte losgelassen von den unsichtbaren Kräften plötzlich wieder dem Boden entgegen und ergoss sich wie ein Schwall aus Platzregen über Dyowl's Hollow.
Modriger Geruch lag in der Luft, dick und schwer, weil der Sturm das sich bereits zersetzende Blattwerk aufgewühlt hatte. Allerlei Krabbeltiere huschten auf dem matschigen Waldboden umher und flüchtete sich wieder in Sicherheit in Laubhaufen und Wurzelwerk der Bäume. Ein Meer aus totem Laub bedeckte den Boden; die Kronen der Bäume waren noch mehr ausgedünnt als vorher und selbst die Tannen hatten nun viele Nadeln gelassen.
Kyles Atem ging schnell, als er sich hochstemmte. Neben ihm kam auch der Doktor sofort wieder in Bewegung und alarmiert huschten ihre Blicke umher. Der Nebel kroch wieder über den Boden, als hätte nicht eben ein wütender Wind die Büsche gebogen wie weiche Strähnen von Haar, manche Bäume schräg gesetzt und sie alle unter der Last ächzen lassen. Der Dämon aber war nirgends zu erkennen.
»Scheiße«, stieß Dr. Archer aus und Kyle konnte sehen, wie die moosgrünen Augen durch die finsteren Winkel huschten. »Wo ist er?!«, raunte der Doktor, das ekelhafte Gefühl im Nacken, nicht zu wissen, wo die Gefahr saß und von wo sie plötzlich hervorschießen könnte.
»Ich weiß nicht«, knurrte Kyle und ballte die Hand zu einer Faust. Der stechende Schmerz drückte in seinem Daumen. Kyle zog die Hand von dem Felsen, weil ihm einfiel, dass er noch immer etwas vor Dr. Archer zu verbergen hatte. »Er kann überall sein. Der Reisezauber ist mächtig und er hat ihn auf uns beide gewirkt. Vielleicht stehen wir gleich sogar ganz woanders.« Kyle presste die Zähne zusammen und sein Kopf ratterte, was sie tun konnten. »Wir haben hier ein echtes Problem.«
»Kann man Dämonen nicht bannen oder einkerkern?«, stieß Dr. Archer leise hervor, die Stimme herunter gepresst und die Augen fahrig zu jedem noch so kleinen Schatten hetzend, der sich irgendwo zeigte.
Doch am Ende spielte das Mondlicht doch nur seine Spiele mit ihnen. Sobald sich die Wolken am Himmel verschoben, verlagerten sich auch die Flecken auf dem Grund des Waldbodens.
»Er sagte, ein Gralsritter hätte ihn eingesperrt? Können wir das nicht auch?« Etwas Besseres fiel Ben einfach nicht ein.
Kyles Blick glitt zu dem Mann, dann runzelte er die Stirn und nickte schließlich.
»Ich weiß, wie man einen Bannkreis zieht, um einen Dämon darin einzusperren«, meinte der Magier und bemerkte dann Dr. Archers Seitenblick. Der Doktor hatte den Dämon von Blutmagie sprechen hören und Kyle konnte den Schlund förmlich spüren, den die Ereignisse und finsteren Worte zwischen sie gerissen hatten.
»Woher weißt du das?«, fragte der Doktor und Kyle warf ihm einen scharfen Blick zu. Kyle konnte die finstere Vermutung, er könnte ein Dämonenbeschwörer oder Schwarzmagier sein, förmlich aus der Luft pflücken.
»Haben wir dafür jetzt wirklich die Zeit?«, zischte Kyle gereizt zurück und deutete auf Annabeth, die noch immer zu nahe an der Senke und nun halb bedeckt von Laub dalag. »Bring lieber das Mädchen in Sicherheit oder wenigstens aus der Schusslinie«, fügte er schärfer hinzu und sah den Doktor eine Sekunde zögern.
Doch dann nickte jener endlich und Kyle schnaubte. Der Zauberer war angespannt und gereizt und hatte verflucht noch mal keine Zeit für solche Spielchen! Er war noch immer nass bis auf die Knochen, gerade beinahe ertrunken und sein Zauberstab lag auf dem verfluchten Grund eines modrigen Brunnens!
Trotz allem war er hierhergekommen, zu Dr. Archer, um ihm zu helfen, anstatt das Weite zu suchen. Er könnte ruhig ein wenig dankbarer sein!
Irgendwo knackte es und sofort fuhren ihre Blicke in die Richtung.
Doch nichts war zu sehen.
Kyle bückte sich und hob einen etwas größeren Stock auf, der sich weiter oben in einer kleinen Astgabel spaltete. Die Rinde löste sich bereits und bröckelte ab, doch darum scherte er sich nicht. Es würde seinen Zweck erfüllen.
»Los, mach schon«, zischte der dem Soldaten zu. Dann setzte er sich selbst in Bewegung und schlich hinter dem Felsen hervor.
Der Mond warf kaum Licht auf die Senke. Nur an manchen Stellen wagte sich das matte Mondlicht bis auf den Waldboden hinunter.
Während Dr. Archer sich in geduckter Haltung und vorsichtigen Schritten zu Annabeth bewegte, setzte Kyle die Spitze des Stockes mit Druck in das Erdreich. In seinem Kopf ging er die Bedingungen durch, dass sein Plan funktionierte.
Ein Kreis war der Anfang. Er musste auf jeden Fall geschlossen, die Linie nicht verwischt sein. Den Dämon einzufangen, würde also ganz sicher nicht leicht werden.
Sein Herz trommelte wild in seiner Brust. Noch immer erschien diese ihm enger als zuvor. Wenn er schluckte, war sein Hals rau und er verspürte das Bedürfnis, erneut auszuspucken, weil der ekelhafte Geschmack des brackigen Wassers noch in seiner Kehle hing. Vielleicht war es aber auch der Klos der Unruhe, der sich hartnäckig in seinem Hals hielt.
Unweit raschelten Dr. Archers Schritte, als er die kleine Annabeth erreichte und sie mit einem Arm hochhob. Das Mädchen rührte sich nicht und der Magier hoffte zutiefst, dass sie in Ordnung war. In ihren Locken hingen unzählige Blätter, ihre Wangen und ihr Gesicht waren verschmiert von Erde.
Kyle schüttelte den Kopf, dann eilte er sich den Kreis zu ziehen. Nervös glitt sein Blick umher.
Er spürte, dass dieser Bastard sie immer noch beobachtete.
Worauf wartete er?
Dr. Archer hetzte währenddessen mit dem kleinen Mädchen fort von der Senke, bis er die dichteren Baumreihen erreichte. Er legte das Mädchen an eine größere Eiche zwischen dichtes Wurzelwerk in der Hoffnung, dort wäre sie sicher.
Ein scharrendes Geräusch begleitete die Spitze des Zweiges in Kyles Händen über die Erde. Er hinterließ eine tiefe Furche und Kyle blickte sich immer wieder um, lauschte in das Dunkel und zuckte bei dem kleinsten Laut zusammen. Diese wenigen Sekunden und Minuten zogen sich für ihn unangenehm in die Länge. Die Spitze des Holzes knackte, als es gegen einen Stein stieß. Kyle griff nach dem verfluchten Stück grauem Felsen, rüttelte daran und warf ihn zur Seite. Klackernd landete er irgendwo im Unterholz.
»Kyle!«
Gerade als er einen weiteren Schritt zurück machen wollte, hörte er den Doktor plötzlich alarmiert rufen. Kyle drehte den Kopf und stieß einen Fluch aus.
Der Ausruf des Doktors brach jäh ab und verstummte in einem schmerzverzerrten Keuchen, welches in seiner Kehle erstickte. Sein Mund war zu einem stummen Schrei geöffnet, während sich die langen Klauen fester um seinen Hals schlossen und ihn dann in einem hohen Bogen einfach fortschleuderten. Beinahe so, als wäre er nicht mehr als eine leblose Puppe.
Dr. Archers Körper prallte gegen einen Baum. Ein dumpfer, unangenehmer Laut und Kyle spürte innerlich seinen Magen einmal drehen, weil er in seiner Sorge das Knacken von Bens Knochen förmlich hören konnte. Das große Maul des Dämons verzog sich zu solch einem grausamen Grinsen, dass es Kyle erneut das Blut in den Adern gefrieren ließ.
»Dachtet ihr, es wäre so einfach?«, zischte die spröde und kratzige Stimme und richtete die stechenden Augen direkt auf den Zauberer.
Dessen Blick glitt zwischen dem Doktor, der sich gerade laut stöhnend am Fuße des Baumes versuchte aufzurappeln, und dem Dämon hin und her. Die glühenden Pupillen stachen in der Finsternis hervor, zwei leuchtende Punkte des Grauens. Es war offensichtlich, dass er sich ihnen noch immer überlegen fühlte und Kyle ballte die Hand so fest zur Faust, dass der Schmerz aus seinem Daumen durch seine Wahrnehmung schnitt.
»Fahr zur Hölle!«, schrie er dem Ding entgegen, doch ein zauberstabloser Magier schien dem Dämon noch immer weniger Achtung und Aufmerksamkeit abzuverlangen, wie es der Soldat tat.
Jener hatte sich inzwischen aufgerappelt und zielte bereits wieder mit dem Revolver in Richtung des Abschaums.
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