Kapitel 43 - Der Ruf der Raben
England, Westküste
Devonshire, Dartmoor
Wälder von Dartmoor
5. November 1898, 22:00 Uhr
Da erklang ein lautes Rascheln. Etwas bewegte sich über das verräterisch knisternde Laub hinfort, welches in dieser Jahreszeit jede Bewegung wie einen glockenhellen Alarm hinausschrie. Kyle machte einen halben Schritt zurück und spürte den größeren Rücken des Doktors hinter sich. Er war von der gleichen Anspannung, die Kyles Herz sprinten ließ, so hart und unnachgiebig wie ein Baum. Es half ihm, seinen zunehmend rasenden Herzschlag ein wenig zu bändigen. Es gab ihm Sicherheit und Kyle musste sich eingestehen, dass jeder Magier einen Mann wie Archer benötigen könnte, der einem den Rücken schirmte, während er die Formeln aus seinem Gedächtnis formte.
Wieder ein Knistern toter Blätter, dieses Mal auf Kyles Seite. Sofort war sein Geist wieder fort von Archer, dessen Vorteilen und in der Gefahr der Gegenwart. Kyle hob die Laterne. Das Licht ließ die Schatten beiseite schwenken und drückte gleichzeitig weit tiefere schwarze Flecken an andere Stellen.
Ein paar Blätter bewegten sich noch, eines segelte von einem dünnen Ast zu Boden. Etwas bewegte sich im Dickicht, dann war es bei Dr. Archer. Dessen Arm schoss in Richtung der Stelle wie eine Schlange, die darauf aus war, nach einer Maus zu schnappen. Ein wilder Sturm der Anspannung wirbelte in seinem Innern und Kyle richtete den Stab in die Dunkelheit.
Erneut schwang sich das Gelächter herauf, dann raschelte es wieder.
»Es umkreist uns.« zischte Kyle. Seine Finger spannten um das Stück Holz, sehnten sich nach einer Möglichkeit, den Druck in seinem Innern endlich zu entladen! Das Schrecklichste waren die zehrenden Sekunden, ehe der Angriff passierte oder der verfluchte Vorhang der Ungewissheit endlich gelichtet wurde.
»Was willst du? Wer bist du?«, blaffte Kyle in die Finsternis.
Doch wieder antwortete nur höhnendes Gelächter. Mit einem Mal schien sich die Finsternis dunkler zu ziehen, denn ein Schwall dichten Nebels begleitet von bissiger Kälte zog auf und ließ die Temperatur um sie herum rasend schnell sinken. Kyle spürte die Stiche der zahllosen Nadeln auf seinen Wangen, das unangenehme Ziehen der Winterkälte, die viel zu plötzlich aufgestiegen war. Frost bildete sich an den Stämmen um sie herum, zog seine weißen Diamanten empor und Blumen schimmernder Eiskristalle setzten sich auf Blättern und Buschwerk ab.
Die Moorgewässer knackten unter dem plötzlichen Temperatursturz, als sich eine Schicht dünnen Eises über sie hinwegzog. Das Glas ihrer Laternen und das Metall ächzten, die Flammen in den Glasgehäusen kämpften verzweifelt dagegen an, zu erlöschen. Vor ihren Mündern stiegen nun weiße Wolken aus ihren erhitzten Körpern in die Luft und verflüchtigten sich, bis der nächste Atemzug einen neuen Odem kondensieren ließ. Eisige Schauer, einer nach dem anderen, floss über die Haut der Männer und richtete die feinen Härchen unter der Kleidung auf, die mit einem Mal nicht mehr vermochte, Körper und Seele darunter zu erwärmen.
»Wo ist das Mädchen!«, donnerte Dr. Archers Stimme gereizt in das Dunkel. Wieder erklang Lachen, so höhnend, als hätte er etwas furchtbar Dummes gesagt.
Die Fetzen aus dichtem Nebel zogen sich enger und enger um sie wie ein Kreis lauernder Jäger, die sich in den Schatten dahinter bewegten. Jederzeit bereit, aus dem Hinterhalt zuzuschlagen. Kyle presste die Kiefer aufeinander. Etwas in der Luft veränderte sich. Es rollte wie eine unsichtbare Welle über sie hinfort und drückte sie gleichzeitig unerbittlich nieder.
Kyle spürte das Knirschen seiner Zahnreihen, die sich übereinander schoben, während sich sein Körper und sein Geist gleichermaßen dagegen auflehnten. In seiner Brust stieg Druck auf, ließ seinen Puls anziehen und seine Handflächen unter den Lederhandschuhen feucht und klamm werden.
»Kyle.« Die Stimme des Doktors hatte einen alarmierten, dunklen Klang. Der Magier wusste, was er ihm sagen wollte, noch ehe der Soldat weitersprach.
»Ich weiß.« presste er hervor, versuchte ruhig zu atmen und sich zu konzentrieren. Es war das gleiche ekelhafte Gefühl wie damals, als er über den Wald geflogen war. Vor seinen Augen flimmerte das Licht ihrer Laternen und Kyle konnte seinen Atem und seinen Herzschlag noch lauter hören als die Laute der Gefahr um ihn herum. Irrte er sich, oder roch es nach Schwefel und Bimsstein?
»Dunkle Kunst«, zische Kyle und zermarterte sich gleichzeitig das Hirn, welcher finstere Zauber es sein könnte. Ob er ihn kannte und wie er ihn brechen könnte. Als hätte er sich diese Frage nicht schon dutzende Male davor gestellt, ohne eine Antwort zu finden. Dennoch wollte sein Verstand einfach nicht aufgeben. Fast so, als lauerte die Antwort irgendwo hinter einer der verwinkelten Gänge seiner Erinnerungen.
Da ertönte ein lautes Wolfsgeheul und schwang sich auf dem in Tannen und Nebel verborgenen Mondschein in die Nacht. Ein weiteres gesellte sich dazu, dann noch eines, überall um sie herum wie ein Gesang zu ihrem Untergang. Die näher rückenden Geräusche und Silhouetten ließen seine Gedanken zerbersten wie Glas.
War das dort ein Wolf im Dickicht? Oder ein Mensch?
Kyle konnte die Schatten kaum deuten, denn im nächsten Moment waren sie einfach wieder verschwunden und hetzten so ihre Blicke von einer Stelle zur nächsten. Auch Dr. Archers Iriden sprangen förmlich hin und her, versuchten mitzuhalten und im rechten Moment bereit zu sein, sollte eine Attacke erfolgen. Seine Finger kribbelten heiß und sein Zeigefinger zuckte bereits am Abzug des Revolvers?
»Wer ich bin. Wer ich bin. Wer ich bin«, sang es aus allen Richtungen. In der Stimme eines Kindes, in der eines Jungen, der eines Mannes, der Stimme einer alten kratzigen Frau. Manchmal klang es, als sprachen mehrere Stimmen in einem ungleichen Chorus auf einmal. Es scharrte über ihre Nerven wie der schrille Klang einer leidenden Geige, über die ein ungeübtes Kind zu grob den Bogen zog und jeden in Reichweite des Klanges damit marterte.
Wo es zuvor totenstill gewesen war, schlugen nun Geräusche auf ihre angespannten Nerven ein. Das Rascheln toter Blätter. Knacken von Holz. Schmatzen von Schlamm, wenn etwas ihn durchquerte. Im Schattenspiel von Laternenlicht und Nebelschleiern huschte eine massige Gestalt nur wenige Meter an ihnen durch das Dickicht. Dann huschte etwas geschmeidig wie eine Schlange zwischen zwei Bäumen entlang. Kyle spürte das Zittern seiner Muskeln von der Überforderung all jener Eindrücke und der dauerhaften Anspannung.
»Ich bin euer Tod!«, zischte es mit einem Mal in einer kindlichen Stimme, belegt mit dem ekelhaften Bariton rauchiger Finsternis. Viel zu nah. Beinahe so, als stünde der Sprechende direkt hinter ihnen und fauchte seine Worte direkt in ihr Ohr.
Kyle und Dr. Archer fuhren aus Reflex beide herum, begingen den Fehler, den sie auf keinen Fall hätten tun dürfen: Sie drehten dem Wald den Rücken zu.
Sie erkannten ihren Fehler in dem Moment, als sie einander in die Augen sahen. Beide groß und voller realisierendem Schrecken. Scharf zogen sie die Luft ein, doch für Reue war es bereits zu spät. Dann ertönte hinter Benjamin ein lautes, schauerliches Knurren. Der Klang von gewaltigen Kiefern, die grunzend aufklappten, bereit zuzuschnappen und sich in das Fleisch ihrer Beute zu graben.
Der dröhnende Knall seiner Waffe zerriss die Geräuschkulisse, als Dr. Archer herumfuhr und der Schuss seines Revolvers mit ohrenbetäubendem Grollen die Kugel dem Feind entgegen feuerte. Geruch von Schießpulver durchzog die Luft mit der metallischen Note. Das kurze Lichtblitzen verkündete nahenden Tod wie ein Leuchtsignal. Die Kugel flog. Sie riss die dichten Schwaden aus Nebel auf, als wären sie Wasser, welches zur Seite wich und knallend bohrte die Kugel ein Loch in den Stamm einer Tanne. Holz barst und splitterte ab.
Mit einem Mal erhoben sich dutzende laut schreiende Raben aus den dichten Kronen der gewaltigen Tanne, die diesen Ort wie das Zentrum einer Uhr zierte. Unmöglich zu sagen, ob die Biester gerade beschworen oder erst durch den Schuss aufgeschreckt worden waren. Die schwarzen Schatten flatterten als dichter Wirbel eines ungeordneten Sturms um die beiden Männer.
Es war ein einziges, ohrenbetäubendes Gewirr aus Federn, Flügelschlägen, scharfen Schnäbeln und dem Aufblitzen kleiner Klauen, die an ihrer Kleidung rissen. Immer wieder pickten spitze Schnäbel nach den Männern. Nach ihren Hälsen, ihren Gesichtern, ihrem Nacken und ihren Händen. Die Raben zogen ihren Kreis immer enger. Mit jedem Hinabstoßen und mit jedem Angriff wurden sie kühner, als hätten sie Blut geleckt. Kyle blinzelte, doch überall waren nur entsetzliche, flatternde Schwingen, Schnäbel und Klauen. Stoff gab reißend nach, Krallen stachen wie kleine Klingen immer wieder punktuell durch ihre Mäntel.
Beide konnten spüren, wie ihnen von den ins Fleisch gerissenen Stellen Blut über Nacken und die Hände rann. Unter der Kleidung sickerte Wärme über ihre Haut. Die Biester verfingen sich in ihrem Haar, hackten nach ihren Gesichtern und vor allem nach ihren Augen. Die Schläge wilder Flügel trafen ihre Köpfe wie Ohrfeigen. Überall waren nur Schatten und schwarzes Gefieder, sodass sie die Arme hochzogen und wild um sich schlugen, um dem Angriff Einhalt zu gebieten. In diesem Gewirr fiel es einem unter Schmerz und Paukenschlägen in der eigenen Brust schwer, überhaupt noch seine eigenen Gedanken zu hören.
Die Biester waren vollkommen außer sich. Sie nahmen keine Rücksicht auf ihr eigenes Leben und schossen immer wieder auf sie zu. Wenn sie verfehlten, schlugen sie teilweise gegen einen der umstehenden Bäume oder prallten auf den Boden und wanden sich mit zerschmetterten Schwingen. Es schien einfach kein Ende zu nehmen, ganz gleich, wie viele schließlich sterbend zu Boden stürzten.
Ein weiterer Schuss knallte, einer der verfluchten Biester fiel wie ein Stein in die Tiefe. Er schlug auf den Waldboden und blieb dort regungslos liegen.
»Es sind zu viele!«, brüllte Benjamin im Kampfrausch, um den wilden Lärm all der Flügelschläge und formlosem Kreischen zu übertönen. Zu schießen hatte keinen Sinn, es war nur Verschwendung von Munition. Das hatte Benjamin schnell begriffen und so schlug er mit Faust und Waffe nach den Mistviechern. Das Metall seiner Waffe klirrte eisern, als es gegen einen Rabenkörper geschmettert wurde und den Vogel in der Luft ein Stück fortschleuderte.
Anders als Kyle, der gehetzt mit den Armen ins Leere schlug, schien der Doktor weitaus erfolgreicher. Gezielter hieb er trotz der Chance für die Biester, ihn in dem kurzen Verharren zu erwischen, um sich und traf damit das eine oder andere gefiederte Mistvieh, welches in seinem Flug trudelte. Manche fingen sich wieder, zwei oder drei fielen zu Boden, wo sie mit gebrochenen Flügeln desorientiert zuckten und krähten. Um seine Füße häuften sich die zuckenden Leiber. Federn taumelten überall um sie herum, schwarz wie kohlegeschwärzter Schnee.
Ein Rabe riss Kyle mit den gebogenen Krallen an der Hand, schnitt durch das Leder bis in seinen Handrücken und mit einem Schrei fiel dem Magier die Laterne aus den Händen. Klirrend zersprang das Glas auf dem Boden. Das Glasgehäuse kippte und das Licht erlosch augenblicklich, erstickt von einem frostigen Windhauch.
Irgendwo ohne Richtung glaubte Kyle ein rauchiges, finsteres Lachen zu vernehmen.
Es beobachtete sie! Es verhöhnte sie und spielte mit ihnen! Er stieß einen Aufschrei aus, als messerscharfe Krallen die Fäden seines Mantels lösten, der Ärmel aufklappte und sich scharfe Klauen wie spitze Gabeln in seine Schulter bohrten. Er schlug danach und das Biest riss nahe an seinem Auge das Fleisch seiner Schläfe bis herunter zur Wange auf. Heißer Schmerz schoss in seine Wahrnehmung, überlagerte all das Kreischen und Schreien der schwarzen Todesboten. Er spürte die Wärme seines Blutes, die ihm über die Wange floss und von seinem Kinn tropfte, weil es sich siedend heiß gegen die stichelnde Kälte abhob.
'Jetzt reicht es!', schoss es dem Magier in finsterem Zorn durch den Kopf. Ein dunkler Schatten überlagerte das klare Blau seiner Augen und schüttete finstere Tinte in seine Gedanken. Seine Nase kräuselte sich und er bleckte wie ein Tier die Zähne, als er den Stab fester umfasste und den anderen Arm vor sein Gesicht zog.
Die Augen schließend, blendete er die schaurigen Schreie aus. Dann das nahe Knurren. Er öffnete die Lippen, reckte den Zauberstab in die Höhe und wollte beginnen, die Formel zu rezitieren, als mit einem Mal das Gelächter verstummte und die planlosen Attacken aufhörten. Als hätte sein Feind erahnt, was gleich folgen würde. Wie ein Strudel aus lebendigem Rauch flatterte der Schwarm in einem sich nach oben schraubenden Kreis höher.
Dann spürte Kyle es erneut. Sein Herz stockte, sein Körper hielt mitten in der Bewegung und jedem Gedanken inne. Eisige Klauen griffen direkt in seine Brust, wühlten sich unter die Oberfläche und er keuchte, weil es ihm sämtliche Luft aus den Lungen presste.
Dr. Archer schien es ähnlich zu gehen, denn auch er hielt in der Bewegung inne, atmete mit einem Mal merklich schwerer. Doch Kyle erwischte es sichtlich härter und unter dem Schmerz in seinem Brustkorb presste er sich eine Hand auf die Brust.
Dann ertönte ein dumpfer Aufschlag. Dann noch einer. Federn stoben auf, etwas traf Kyle an der Schulter, dann am Kopf und mit geweiteten Augen starrte er auf die Körper der Raben, die sich am Boden wanden und wie von Strom durchflossen verrückt zuckten.
»Achtung!« stieß Dr. Archer heiser und atemlos aus, als unvermittelt ein Regen aus toten Körpern auf sie herniederging. Trommelschläge toter Leiber, fallende Federn, welche sich mit Nebel und Kälte vermischten. Die dumpfen Schläge hämmerten auf sie ein, während sie vom Himmel stürzten. Dutzende Raben, die wie ausgesonderte Puppen zu ihren Füßen fielen und sich in bizarren Haufen stapelten.
Kyle presste den Arm vor das Gesicht, obwohl es ihm die Sicht nahm. Wieder und wieder traf ihn ein gefiederter Körper. Überall, wie Faustschläge, die auf ihn heruntersausten. Er spürte den Schauer auf sie niederregnen und vernahm, wie das eine oder andere Genick der Vögel von dem Aufprall knackend brach. Sein Herz begleitete jeden dieser unregelmäßigen Niedergänge.
Dodom. Dodom. Dodom.
Schnell wie ein an Geschwindigkeit zunehmendes Crescendo. So gehetzt, dass ihm kalter Schweiß auf der Haut lag und er kaum einen Atemzug in seine Lungen pressen konnte.
Zuckend und bebend landeten die toten Kadaver zu ihren Füßen, wie ein geschwärzter Teppich glänzender Kohle. Die Augen groß und schwarz, während die letzten Zuckungen ihre Körper schließlich zum Erliegen und das ohrenbetäubende Krächzen zum Verstummen brachten. Ein einziges Bild des Grauens und des Todes.
Dann war es wieder still und nur noch das wilde Pochen in seiner Brust rauschte mit seinem Puls in seinen Ohren. Schwer atmend, hob Kyle den Kopf.
Das Blut an seinem Gesicht verschmierte an seinem Arm und zog eine obskure Kriegsbemalung über seine Haut. Er ließ den Stab sofort wieder nach vorn fahren, bereit für den Gegenschlag oder in Erwartung des nächsten Angriffes. Die Formel lag auf seinen Lippen, bereit herauszubrechen und den nächsten Gegner zu erwischen, der in seine Sicht käme.
Doch allein der weißgraue Nebel schloss ihn wieder in seine feste Umarmung und Kyle stockte der Atem.
»Benjamin!«, stieß er aus.
Doch da war niemand mehr, der ihn hätte hören können.
Möchtet ihr wissen, welche Musik ich zu diesem Kapitel empfehle? ;)
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The Red Hand - von Elephant Music
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