Kapitel 42 - Die Irrwege

England, Westküste
Devonshire, Dartmoor
Wälder von Dartmoor
5. November 1898, 21:52 Uhr


Die Bäume standen so dicht, dass man die Hütte und deren Licht schon nach wenigen Metern nicht mehr zu sehen vermochte. Jeder von ihnen trug eine Laterne, deren samtheller Schein sich an den Stämmen der Bäume stieß, welche sie eng, wie die Mauern eines endlosen Labyrinthes umschlossen. Angespannt starrten beide in das Dunkel und hielten Ausschau nach einem Anzeichen oder einer Spur, wohin das Kind gegangen sein konnte. In der rechten Hand hielt Kyle den Zauberstab in eisernem Griff, sodass seine Finger schon nach kurzer Zeit schmerzten.

Totes Laub raschelte unter jedem ihrer Schritte. Der Boden war vom Regen aufgequollen und matschig, klammerte sich an ihre Stiefel und die Feuchtigkeit der vielen Pfützen drängte sich durch jeden noch so kleinen Riss des Leders. Wind zerrte trotz der vielen Bäume an ihren Mänteln, als ob er seinen kalten Atem allein deshalb aus dem Norden in dieses Gefilde schickte, um es ihnen schwerer zu machen.

Ausschließlich, wer selbst ebenfalls einmal eine solch ewig wirkende Spannung in den Gliedern und im Geist hatte ertragen müssen, mochte verstehen, welche Folter diese Zeit für die beiden Sucher darstellte. Diese schwimmende Unwissenheit, die sich von keinen noch so harschen Wellen selbst zugesprochenem Mutes niederdrücken ließ, machte ihre Schritte schwerer und legte ihre Nerven blank. Es ließ ihr Herz bei den kleinsten Geräuschen springen und belastete ihre Konzentration und Muskeln an die Grenze des Erträglichen. Dennoch war aufzugeben keine Option, sodass sie weiterhin nach geknickten Zweigen oder winzigen Hinweisen Ausschau hielten, um zu erkennen, welche Richtung sie einschlagen mussten.

Es lag eine kaum erträgliche Schwere in der Luft. Beide waren sie angespannt und immer wenn ihr Rufen unbeantwortet in der Nacht verhallte, nahm ihre Sorge mehr und mehr zu. Natürlich wussten sie, dass Anna Angst haben musste. Vielleicht kauerte sie irgendwo, gedrückt an einen Baum oder zwischen Wurzeln und wagte es nur nicht, die Stimme zu erheben. Doch sie konnten nicht mehr tun, als laut in die Dunkelheit rufen und den stummen Bäumen wieder und wieder laut versichern, dass sie ihr kein Leid zufügen würden. Sie mussten hoffen, die Kleine zu finden, ehe der Schwarze Mann mit der roten Feder es tat.

»ANNABETH!«

Wie eine Aufnahme einer Walze, die auf einem Phonographen immer wieder den gleichen Text abspulte, riefen sie den Namen in die Nacht. Sie wussten um das Risiko, dass auch ihr Feind sie hören konnte. Aber sie hatten keine Wahl. Ihre Hoffnung jedoch sank mit jedem Schritt zunehmend. Auch nach gefühlt unzähligen verstrichenen Minuten, bekamen sie keine Antwort.

Anfangs fanden sie noch ein paar schmale, wohl öfter beschrittene Pfade, die sie in den Wald führen konnten. Bald jedoch kreuzten jene sich mit Wildwechseln und irgendwann, nach ein paar Abzweigungen und Spaltungen des matschigen Pfades, fragten die beiden Männer sich, ob es überhaupt noch Wege waren, denen sie in den dichten Forst folgten. Manchmal standen die Bäume so eng, dass sie kaum ein paar Meter sehen konnten, dann öffneten die Tannen und Fichten ihre Reihen, nur um dazwischen zunehmende Moosflächen auszubreiten.

Matschiger Weg und wildes Gelände wechselten ab und bald schon stapften sie wieder durch die unberührten, verwilderten Teile des Waldes. Ihre Lichter wirkten deplatziert und wie ein Leuchtturm auf finsterer Klippe. Sie warfen den Schein bis an das nächste Hindernis, egal ob Baum oder Buschwerk mit knorrigen Zweigen oder verbleibenden bunten Blättern. Ansonsten wagte es allein der Sternenhimmel in seltenen Gelegenheiten, zusammen mit dem abnehmenden Mond durch die Wipfel zu spähen. Wann immer ein Ast in dieser düster aufgeladenen Stimmung knackte, fuhren beide zusammen und wandten sich sofort dem Ursprung zu. Schließlich jedoch hielt etwas viel Schlimmeres Einzug, als das Knistern oder Knacken am Waldboden oder das Rascheln in den Baumkronen: Stille.

Es war jene grauenhafte Stille in all ihrer unnatürlichen Monotonie, die sie in der Nacht ihrer Ankunft bereits als schlechtes Omen kennengelernt hatten. Nebelschwaden zogen immer öfter in Fetzen über Moos und Waldboden, hingen wie zerstreute geisterhafte Vorhänge dort, als ob sie eine andere Welt zurückgelassen hatte. Kyle kam es vor, als würde es zunehmend kälter werden.

Dieses Mal schreckte es sie nicht so sehr, sondern ließ Beklemmung in ihren Mägen aufsteigen, als sie auf die ersten Anzeichen stießen. Ein Igel lag zwischen ein paar Blättern, das Maul noch gefüllt mit einem Wurm, den er wohl vor seinem Todesmoment verspeist hatte. Ein Hase lag regungslos inmitten von etwas Moos. Als sie auf eine kleinere, lichtere Stelle kamen, erschrak Kyle sich beinahe zu Tode, als sich das Licht ihrer Laterne an einen größeren Körper stieß, der sich aus wabernden Nebelschwaden schälte. Die Hand auf die wild pochende Brust gepresst, fluchte er und wischte sich mit dem Ärmel den kalten Schweiß von der Stirn. Ein Hirsch lag dort, die Augen verdreht, die lange Zunge aus dem Maul gestreckt und mit speichel-verklebtem, weißem Schaum vor der Schnauze.

»Er wird stärker«, meinte der Magier und sprach dabei die Sorge aus, die sie beide beunruhigte.

»Wirst du den Zauber brechen können?«, fragte Dr. Archer mit einander zugezogenen Augenbrauen und einem sorgenvollen Ausdruck auf den schnittigen Lippen. Er hatte das Kinn bei dem Anblick gesenkt und ein paar Strähnen seines Haares zeichneten ihm Schatten in die gehärteten Züge. Während in St. George in der einen oder anderen Situation seine Miene langsam aufgebrochen war, schien sie nun vom Ernst der Situation wieder so hart wie Stein.

»Ich weiß es nicht«, gestand Kyle zerknirscht. Es gefiel ihm nicht, seine Schwäche einzugestehen. »Unsere beste Chance ist es, ihn zu töten, ehe er uns damit erwischt«, fuhr er deshalb leise fort. Er sprach es ungern aus, auch deshalb klang seine Stimme rauer.

Der Gedanke mochte unfair sein, doch er hoffte inständig, dass Dr. Archers Revolver diesem Schrecken ein Ende setzen konnte. Auch weil es dem Soldaten leichter fiel, zuzusehen, wie das Leben aus einem Körper wich. Das Wissen, diesem Quell von Tod entgegenzulaufen, war alles andere als erbaulich und Kyle spürte das Zittern in seiner Hand bis über das Handgelenk kriechen.

Sie umrundeten den bemitleidenswerten Hirsch und stiegen über einen umgefallenen Baumstamm hinweg. Farne bogen sich und setzten nasse Tropfen auf ihre Mäntel. Doch es wurde an Kadavern nicht ärmer, umso weiter sie der Spur folgten. Lauter kleine, vom Sturz aufgebrochene Körper mit zerfleddertem Gefieder und verbogenen Hälsen und Flügeln. Eine ganze Menge kleinerer Vögel hatte ihr Leben einfach ausgehaucht und lagen auf dem Waldboden zerstreut wie ein Teppich aus Leichen, der zu ihrem Willkommen ausgebreitet worden war.

Mit jedem Schritt in das Herz des Forstes wurde das beklemmende Gefühl schlimmer und intensiver. Für Kyle fühlte es sich an, als wurde sein Blut durch die Kälte dicker und wollte seine Zehen und Fingerspitzen nicht mehr richtig versorgen. Er wusste nicht, ob es ihm nur so vorkam, doch umso tiefer sie in den Wald vordrangen, schienen die Schatten immer länger heraufzukriechen und sich zu verdunkeln. Die Umrisse der zahlreichen Bäume, Eichen, Fichten und vor allem Tannen wurden in tieferes Dunkel gehüllt, als kippte ein Maler immer mehr des schwarzen Farbtons in sein Gemälde. Nur im weiß-goldenen Schein ihrer Laternen sah man noch das dunkle Grün der Nadelbäume, sonst wirkte die Welt in Schwarz und Grau getränkt.

Als sie eine weitere Weile gegangen waren und stets in das Dunkel der Nacht riefen, wurde das flaue Gefühl in Kyles Magen deutlicher. Langsam aber sicher zogen immer mehr gespenstische Nebelfetzen über die Flächen von nassem Moos und versenkten die Umgebung in zunehmend unheimlichere Stimmung. Sie blieben zwischen den Bäumen hängen wie Gespinste und Kyle schauerte es immer wieder.

Während Dr. Archer auf dem Weg schon viermal seinen Flachmann angesetzt hatte, half Kyle nur seine eigene innere Stimme, sich selbst zur Ruhe zu mahnen.

Mit einem Mal blieb Kyle stehen, hielt den Doktor auf und lauschte angestrengt in die Dunkelheit. Die gespenstische Stille ließ seinen Puls ansteigen und das unangenehme Rauschen in seine Ohren drängen, welches die Aufregung mit sich brachte.

»Da war etwas.« Kyle deutete in die Richtung, in welcher er den Laut vernommen hatte. Beide lauschten sie nun und tatsächlich drang ein wimmernder, weinender Klang an ihre Ohren. Das Schluchzen des Kindes, das herzzerreißend nach Hilfe rief.

Eilig hasteten jetzt ihre Schritte über umgefallene Bäume, kleine Setzlinge und Laub hinweg. Zweige raschelten und prallten schwungvoll gegen ihre Körper, als sie sich durch das Dickicht zwängten und in ihren Pfad hängende Äste beiseite schlugen. Geäst unter der Decke aus zahllosen Blättern und Moosen knackte immer wieder und ließ den Klang durch die gespenstische Stille des scheinbar endlosen Nadelmeeres ziehen.

Kyles Atem ging stoßweise. Seine Lunge stach und brannte. Die Stämme zogen an ihnen vorüber; immer wieder bremsten neue Hindernisse sie aus oder ließen sie taumeln. Immer wieder bleiben sie stehen, schnappten nach Luft und lauschten dem Klang. Einmal trat Dr. Archer in ein Erdloch und fing sich gerade noch, ehe er sich durch den Schwung den Fuß darin brach und bäuchlings zwischen Steinen und spitzen Stöcken landete. Doch trotz aller Widrigkeiten hatte der Doktor ihn schnell wieder eingeholt und rannte voraus. Sie folgten den winzigsten Klängen der Ferne nach, wie ein Spürhund auf der Jagd: Weinen, ein leidender Hall, eine neue Richtung. Weiter. Schneller.

Endlich glaubten sie, zwischen Nebelschwaden und dunklen Stämmen dem Ursprung des Lautes nahe zu sein. Da taumelte Dr. Archer plötzlich fluchend, als er unvermittelt in ein tieferes Schlammloch trat und sofort ein Stück einsank. Mit den Armen wedelnd, schaffte er es gerade noch, sein Gleichgewicht wieder zurückzuerlangen.

Laut platschend, schwappte das brackige Wasser um seine Stiefel, tränkte das Leder bis über die Knöchel dunkler und beinahe hätte er seinen Schuh darin verloren, so gierig zog das Moor an seinem Bein. Sein Fuß sank tief ein und Kyle bremste gerade noch rechtzeitig ab, damit er nicht auch in das sich vor ihnen erstreckende Feld aus tieferen Moorlöchern geriet. Der Geruch von abgestandenem Wasser vermischt mit modernden Pflanzen und faulendem Holz wehte ihnen um die Sinne und ließ Kyle angeekelt das Gesicht verziehen.

Vor ihnen eröffnete sich eine kleine Lichtung voller Moortümpel unter dem gespenstischen silberweißen Mondschein. Langes, niederliegendes Gras verlief sich nahtlos in den dichten Moosschwämmen, die auf der Wasseroberfläche trieben. Schlick rahmte die zahlreichen Löcher voller Morast und Moorwasser ein, machte die Ufer glitschig und unübersichtlich. Zahlloses totes Geäst und Buschwerk bedeckten kahl von Blattwerk in Knäulen die Pfade des Sumpfes. Flechten überzogen sie mit unheimlich wirkenden Netzen und klammerten sich zwischen den zahlreichen kleinen Astgabeln wie Spinnweben.

Neben ihnen vermischten sich die im Schein der Laternen deutlicheren Flecken tieferer Tümpel mit gekrümmtem Sumpfgras und dicht verflochtenen Moosbetten. Lediglich ein paar vereinzelte Bäume fanden sich in dem stinkenden Gewässer, die ihre knorrigen Äste dem Himmel entgegenstreckten und im Wind erzitterten, als schauerten sie selbst vor dem Grauen, welches diesen Wald im Griff hielt.

»Fuck!« stieß Kyle bei dem Anblick der sich vor ihnen erstreckenden Moorlichtung gereizt aus und griff nach dem Arm des Doktors. Er nahm ihm die Lampe ab, während jener die Waffe wegsteckte, damit sie ihn aus dem schlammigen Grund befreien konnten. In der Finsternis waren die Moorflächen kaum von grasigem Boden zu unterscheiden, eine Todesfalle für jeden, der sich leichtsinnig weiter wagen würde. Mit verzogener Miene kam der Doktor mit Kyles Hilfe zurück auf festeren Boden.

»Hier kann sie nicht entlang gegangen sein«, meinte Dr. Archer, während er seinen Schuh ausleerte und das abscheulich stinkende Morastwasser auf den Boden plätscherte. Das hier war eindeutig eine Sackgasse, denn dieses Moor zu umrunden, würde länger dauern. Es zu durchqueren, war viel zu gefährlich. Es blieb ihnen nichts übrig, als ein Stück zurückzugehen und eine andere Richtung einzuschlagen.

Wieder erklang das Weinen, das Rufen. Als wollte es sie locken und in eine andere Richtung lotsen, um sie zu verwirren. Und dieses Ziel war zu dem Ärger des Magiers bereits von Erfolg gekrönt. Denn inzwischen wussten sie nach all den Richtungswechseln nicht mehr sicher, wohin sie gingen. Es fühlte sich irgendwie falsch an. Dennoch beschleunigten sie ihren Schritt und rannten wieder schneller, um den Rufen zu folgen, die von Annabeth stammen konnten. Scheinbar brachten die verzweifelten Schreie sie zurück auf die richtige Fährte – denn die Kadaver mehrten sich wieder zunehmend.

Dann brachen sie durch eine Reihe von eng verflochtenem Dickicht auf eine Stelle, in welcher die Tannen sich auffallend kreisrund um ein gewaltiges Exemplar mit weiten Ausläufern von reichlich benadelten Ästen reihten. Hier war der Wald besonders finster und man vernahm nicht einmal mehr das Zirpen einer Grille. Es war ein Unheil verkündendes Stillschweigen, welches Kyles Nackenhaare augenblicklich aufstellte und seine Nerven bis zum Maximum des Tragbaren spannten. Der Augenblick in der endlosen Schwebe der furchtbaren Ungewissheit und bangenden Ahnung.

Ein kräftiger Wind zog unvermittelt auf, biss kalt in ihre Gesichter und riss an ihren Mänteln. Der Stoff schlug gegen seine Beine, als wollte er an ihm zerren und ihn mit allen Mitteln klarmachen, dass er verdammt noch mal fortlaufen sollte. Stattdessen erstarrten die beiden Männer.

Wo das weinende Klagen mit einem Mal ebenso verstummt war, da schwang sich nun Gelächter herauf. Kyles Körper zitterte unter dem ekelhaften Schauer, den das Kinderlachen in ihm hervorrief. Hatten Sie zuvor geglaubt, es konnte sich um Annabeth handeln, war an dem Klang, der ihre Ohren jetzt marterte, nichts Natürliches. Es waren verzerrte Laute, entstellt und so verzogen, dass man sie kaum mehr als menschlich erkennen konnte. Viel zu hoch und zu schrill. Als fuhren Krallen über eine Schiefertafel. Der feixende Ausdruck höhnischen Gelächters schien mit einem Mal aus allen Richtungen zu kommen.

»Ben!«, stieß Kyle aus, doch der Doktor war wie immer in vorbildlicher Manier seiner Soldatenreflexe bereits kampfbereit an ihn herangetreten und deckte ihm den Rücken. Jetzt schirmten sie einander ab, gegen alles, was auch immer dort lauern mochte. Ihre Blicke durchforschten die Dunkelheit, versuchten immer wieder sprunghaft und gehetzt dem Ursprung des Gelächters zu folgen. 

Doch es war unmöglich. Zu schnell wechselte es die Richtungen.

»Er versucht, uns zu verwirren. Es sind sicher nichts als Illusionen«, meinte Kyle und kniff die Augen zusammen. »Er spielt mit uns.« zischte er verärgert und in seinem Stolz gekränkt. Niemand mochte das Gefühl, verhöhnt und an der Nase herumgeführt zu werden!

Vor allem ER nicht!

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