Kapitel 33 - Das Schattenspiel
England, Westküste
Devonshire, Dartmoor
St. George, Äußere Felder
5. November 1898, 17:04 Uhr
Die finstere Front schwarzer Wolken war inzwischen so nahe herangezogen, dass sie den Himmel verdunkelte. Immer wieder grollte der Himmel, als verbarg er hinter den grauschwarzen Massen eine hungrige Bestie, die nur darauf wartete, von oben hinabzustürzen. Der Wind hatte merklich aufgefrischt. Blätter tanzen durch die Luft, wirbelten umher und wurden von groben Fingern fortgerissen. Rauschen beherrschte die Szenerie, der Sturm war nahe und würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Der harsche Wind drückte Bäume nieder und presste Grashalme mit seiner Kraft dem Boden entgegen.
Auch deshalb eilten sie sich auf dem Weg zurück in das Dorf. Kyle musste seinen Zylinder abnehmen, damit er ihm nicht fortgeweht wurde. Windböen zerrten an ihren Mänteln, rissen daran, wie die forschen Hände eines Kindes. Ungefähr so verhielt es sich mit ihren Schlussfolgerungen und Hinweisen: Fortgerissen wie ein Blatt im Orkan.
»Glaubst du, sie verschweigt uns etwas?«, fragte Dr. Archer und Kyle ließ sich Zeit mit der Antwort.
»Ich weiß es nicht. Aber... ich denke nicht«, meinte er schließlich und rieb sich den angespannten Nacken, während er den Kopf leicht von einer zur anderen Seite neigte. »Es wirkte auf mich, als ob sie sich wirklich große Sorgen wegen der Gefahren macht.«
»Welche Möglichkeiten haben wir nun, mehr herauszufinden?«
Kyle seufzte und wünschte wirklich, er hätte eine Antwort. »Wir könnten es mit einem anderen Medium zur Voraussicht versuchen«, schlug er vor. Nach der Erfahrung des letzten Mals war er darauf allerdings nicht unbedingt erpicht. Die Überreste des Vogels hatten sie vernichtet und so besaß er nichts, das er als Ankerpunkt für den Zauber benutzen könnte. Ein plötzlicher, stärkerer Windstoß schlug ihm die Pelerine seines Mantels an den Hinterkopf und Kyle wischte nach dem Stoff, um ihn wieder über seine Schultern zu schieben.
»Es ist zumindest einen Versuch wert«, stimmte Dr. Archer nachdenklich zu. Und doch kam es ihnen beiden vor, als verliefen sich all ihre Spuren. Heute hatte ein kleiner Junge beinahe sein Leben gelassen! Kein junges Mädchen, kein alter Priester und auch kein offensichtlich schnell reizbarer Wirt. Kyle spürte einen Tropfen, der ihm ins Gesicht sprang. Klein, aber unverkennbar, dennoch tastete er danach und wischte die Feuchtigkeit über seine Haut.
»Wir sollten uns beeilen, sonst stehen wir gleich im Regen.«
England, Westküste
Devonshire, Dartmoor
St. George, Skirrid Inn
5. November 1898, 17:18 Uhr
Laub raschelte unter ihren Schuhen, als sie eilig den Weg zum Skirrid Inn einschlugen. Durch den Sturm, der sich wie ein Vorbote finsterer Ereignisse mit seinem schwarzen Schatten über das Dorf legte, waren die Fenster und Türen geschlossen. Die meisten Bewohner hatten sich in den Schutz ihrer erwärmten Stuben zurückgezogen und vermieden es, jene zu verlassen. Die Geschehnisse des Vorabends verblieben wie der angekohlte Geruch in einer Küche und verweilte auch noch dort, nachdem der Tag vorübergezogen war.
So erreichten sie das Skirrid Inn nach wenigen Minuten. An der Vorderseite des Inns stand ein Fenster im ersten Stock offen und Vorhänge flatterten im Wind. Winkende Tücher, nach Aufmerksamkeit heischend wie Phantome in einem verlassenen Gebäude. Kyle runzelte die Stirn und blickte zu dem schmalen Sims hinauf, während Archer vor ihm die Tür öffnete. Ein weiterer Tropfen traf seine Wange, ein weiterer seinen Hals. Dann schlüpfte er mit Benjamin in die Sicherheit der Stube. Ein hölzernes Schild hing an grobem Seil über dem Griff an der Tür. Die Buchstaben GESCHLOSSEN sprangen einem sofort ins Auge.
Es wunderte die beiden Sucher nicht, dass es heute keinen Ausschank gab. Der Grund, Sandra Walsh, lag unter einem schwarzen Tuch in der Kapelle oder bereits in einem frischen Grab. Die Stimmung im ganzen Dorf war gedrückt und nach dem Vorfall mit dem kleinen Viktor, ließen nur noch wenige Eltern ihre Kinder überhaupt auf die Straße. Die Eltern sorgten sich um die Familien. Entsprechend leer war der Innenraum.
Nur ein paar Laternen waren noch entzündet und das prasselnde Feuer erhellte die Stube mit tänzelndem Licht, dass über die Dielen tastete und lange Schatten hinter die Möbel warf. Elly war nirgends zu sehen, auch in der Küche war kein Schein oder prasselndes Feuer mehr entzündet. Auf dem Tresen stand ein Tablett mit zwei Schüsseln. Ein Papier war gefaltet und mit einer sorgsamen Schrift Mr. Crowford und Mr. Archer darauf geschrieben worden. Die beiden Schalen aus Keramik oder Ton waren bedeckt mit Tüchern, dazu beigestellt war etwas Brot in einem Korb und zwei Flaschen Ale.
In dieser stillen Stimmung setzten sich die beiden Sucher an einen der Tische, um das Abendessen zu sich zu nehmen. Der Eintopf war hervorragend wie immer, obwohl er kaum noch lauwarm war. Kyle schob die Flasche mit Ale zu Dr. Archer, der einem Tropfen zusah, der an der Flasche herunterrann.
»Du trinkst nicht einmal Bier?«
Kyle schob eine Frühlingszwiebel beiseite, an den Rand der Schüssel. »Ich trinke nicht.«
»Gar nichts?«
»Nein.«
»Niemals?«
»Niemals.«
Stille zwischen ihnen. Dann seufzte der Magier. Kyle verzog ein wenig die Lippen, dann tippte er mit den Fingern auf die Tischplatte.
»Hier mordet irgendetwas oder irgendjemand ganz offensichtlich mit Dunkler Kunst. Wir können es uns nicht leisten. Ich kann es mir niemals leisten.« In Kyles Stimme schwang Bitternis mit, die sich hinter gehärteter Ernsthaftigkeit verbarg.
Normalerweise diskutierte er diese Angelegenheit nicht und sah keinen Grund, sich vor jemandem dafür zu rechtfertigen. Aber Dr. Archer schien es nicht herablassend zu meinen. Auf seinen Zügen stand nicht das höhnende und gehässige Grinsen, welches ihm die Männer im Herrenclub immer zuwarfen, wenn sie ihren Scotch auf Eis tranken; teuren Whisky oder den Wein, von dem ein Glas so viel kostete wie eine ganze Droschke.
»Vor Kämpfen trinke ich manchmal einen Schluck. Es beruhigt die Nerven, macht die Hände ruhiger...«, meinte Dr. Archer und zog den Flachmann aus der Innenseite seiner Tasche. Seine Finger strichen über die Initialen – die nicht seine waren, wie Kyle durchaus auffiel – und er betrachtete die Flasche mit einem schwermütigen Blick. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie es wäre, gar nicht zu trinken...«
Kyle hatte mit etwas vollkommen anderem gerechnet. Das Dr. Archer lachte, ihm auf die Schulter klopfte und meinte, er könnte ihn schon überzeugen, wenn man ihm nur das Richtige gab. Es war schwierig, in einem Männerclub und der Gesellschaft zwischen Männern zu bestehen, ohne Zigarren zu rauchen und zu trinken. Dennoch tat er es nicht. Er konnte es sich einfach nicht leisten.
Ein schwarzes Stück Obsidian lag ihm im Magen. Keine Kohle, die man zerdrücken konnte und kein einfacher Stein. Kyle wusste, was geschehen konnte, wenn er einen Fehler beging...
Ein Schatten legte sich über das Blau seiner Augen und färbte sie dunkler. Sie gleichen mehr einem Sturm auf dem Meer, statt kristallblauer Gewässer.
»Mein magisches Talent ist sehr ausgeprägt.« meinte er dann und kräuselte dabei die Lippen. Es klang weniger nach der Arroganz, die Dr. Archer aus dem Orden kannte. »Ich muss mich konzentrieren, wenn ich wirke. Ganz egal, ob es nur ein kleiner oder ein großer Zauber ist. Magie kann sehr gefährlich sein. Falsche Betonung, fehlende Konzentration, ein genuscheltes Wort und es kann schreckliche Folgen haben.« erklärte er und jetzt runzelte der Doktor die Stirn und strich sich über das Kinn. Er brummte und schien über die Erklärung nachzudenken.
Dann nickte er einfach. »Ich verstehe.«
Er steckte den Flachmann wieder fort und griff nach der Flasche mit Ale. »Ich bin trink-stark. Ich kann für uns beide trinken.«
Fast hätte Kyle gelacht. So war das jetzt also? »Dann werde ich ab jetzt alles dir geben.«
Eine Weile saßen sie so zusammen. Wenn sie die Wahl gehabt hätten, so wäre keiner auf den anderen zugegangen. In London wollten sie so wenig wie möglich miteinander zu tun haben. Nun waren sie gezwungen, gemeinsam zu kooperieren. Und seltsamerweise funktionierte es.
Dr. Archer hatte derweil vorgeschlagen, vielleicht in der Nacht am Friedhof Wache zu halten, um zu sehen, ob sich jemand an den Gräbern zu schaffen machen würde. Kyle gefiel der Gedanke absolut nicht, bei diesem anrollenden Mistwetter in der Nähe eines Friedhofes herum zu lümmeln. Aber Dr. Archer hatte recht, es war eine sinnvolle Option und ohne weitere Indizien war es eine Chance. Deswegen räumten sie die Schüsseln und Flaschen in die Küche und machten sich dann auf den Weg nach oben, um sich umzuziehen.
Irgendwo heulte der Wind durch Ritzen im Haus, drückte gegen Gebälk und das Dach und ließ es ächzen. Das Haus stöhnte und atmete im Sturm. Draußen erhellten Blitze immer wieder für den Bruchteil einer Sekunde die hereinbrechende Finsternis einer schwarzen Nacht. Es warf verzerrte Schatten der Sucher an die Wände, während der Rest des Hauses im Dunkeln lag. Das hieß – beinahe alles lag im Dunkeln.
Als Kyle und Dr. Archer nach oben kamen, fiel durch den Spalt einer Tür Licht auf den Flur. Die Blicke von beiden hafteten sich an den Türrahmen und das Holz der Pforte. Der Lichtschein kam aus dem hintersten Zimmer, auf der rechten Seite.
»Denkst du, Mrs. Andrews ist zurück?«, fragte Dr. Archer, während das flackernde Licht unter dem schmalen Spalt sich an der Gegenseite an die Wand warf. Draußen begann der Regen, seinen Schleier über das Land zu ziehen. Prasselnd fielen dicke Tropfen gegen die gläsernen Scheiben und auf die Dächer herunter. Langsam bewegten sich die beiden Sucher auf die Tür zu und Kyle war es, der nach dem Türgriff fasste.
»Hallo?«, fragte Dr. Archer. Stille.
Kyle erinnerte sich an das offene Fenster.
»Vielleicht lüftet Elly nur den Raum«, sinnierte er und klopfte an das Holz. Der hohle Klang schwappte in den Flur und spannte ihre Nerven.
»Hallo? Miss Oldren?«
Wieder nichts.
»Sie könnte gelüftet und das Licht einfach vergessen haben«, meinte Dr. Archer.
Kyle aber spürte erneut die Ruhelosigkeit in seinem Innern. Ein Summen begleitete eine Fliege, dann eine zweite und Kyle betrachtete die schwirrenden Plagegeister. Ein paar Momente verharrte er am Anfang des Ganges und folgte den Brotkrumen in seinen Erinnerungen nach.
»Hattest du nicht Erde im Gang erwähnt?«, fragte er dann, den Blick weiter an die Tür geheftet. Jetzt schien auch Dr. Archer seinen Gedanken folgen zu können.
»Du spielst auf die Fliegen und den verschwundenen Leichnam an«, meinte er nun mit deutlich gesenktem Tonfall und Kyle nickte langsam. Dr. Archer und er tauschten einen stummen Blick, dann fasste Kyle nach dem Griff seines Gehstockes und der Doktor nach einem seiner Revolver.
Ein paar Mücken schreckten auf, zogen gezackte Linien durch die Luft und huschten an ihnen vorbei. Sie wussten nicht, was sie erwarten würde, doch jetzt warf Kyle prüfend einen Blick an die Decke und die Tür. Schwarze huschende Flecken, die schwirrende, summende Schatten an den Wänden hinterließen. Aus dem Raum drang ein drückend süßer Geruch. Als Kyle nun die Finger um den Türknauf schloss, pochte sein Herz wild in seinem Innern. Doch als er ihn drehte, blockierte das Schloss. Kyle versuchte es noch einmal, stemmte gegen die Pforte... verschlossen. Er wollte einen Fluch ausstoßen, gerade noch rechtzeitig hielt er sich zurück.
Dr. Archer besaß die gleiche Anspannung. Seinem Blick nach zu urteilen, wie er die Tür bemaß, überlegte er gerade ernsthaft, ob er sie aufbrechen sollte.
»Elly hat ganz sicher einen Schlüssel«, meinte Kyle und hielt den übereifrigen Soldaten schnell zurück. Sie konnten nur hoffen, dass ihr nichts widerfahren war. Er deutete auf die Leiter am anderen Ende des Flurs. »Ich hole ihn. Bleib du hier«, raunte er leise. Dann schritt er eilig zu der Leiter, deren schmale Stufen nach oben in den Dachstuhl führten. Kyle rechnete damit, dass die Stufen knarzten, wenn er sie erklomm. Doch sie schwiegen still. Der Aufgang war relativ schmal, doch jemand wie er oder Elly kamen dort problemlos hinauf.
Die Leiterstufen endeten in einem kleinen Vorraum und dort an einer Tür im Dachgebälk. Kyle hob die Hand, um anzuklopfen. Seine Knöchel trafen gegen das Holz... und jene gab unter dem Druck seiner Schläge nach und schwang ein Stück auf. Da fiel sein Blick durch den Spalt, hinein in den Dachstuhl... und sein Magen drehte sich.
»Heilige Scheiße.«
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