Prolog
England,
Boat Train, Verbindung Dover – London
4. Oktober 1899, 17:48 Uhr
„Grace!"
Nur verschwommen drang die Stimme ihrer Schwester durch den dichten Schleier ihres Traumes, in dem sie versunken war und an den sie sich im nächsten Moment schon nicht mehr erinnern konnte.
„Grace! Wach auf!", drängte die Stimme erneut.
Stöhnend blinzelte Grace und versuchte, die kleinen, schmalen Hände zu ignorieren, die an ihrem Ärmel zupften. Ein schrilles, lang gezogenes Pfeifen riss sie schließlich vollends aus der Umarmung ihres Schlummers. Das monotone, durchdringende Rattern des Zuges, in dem sie sich befanden, verdrängte den letzten Rest ihres Traumes in Sekunden.
Grace sah zunächst aus dem Fenster, an dem sie angelehnt eingenickt war. Hinter der Glasscheibe flog die Landschaft an ihnen vorbei. Die untergehende Sonne malte lange Schatten auf die Felder und Hügel, die laublosen Bäume wirkten wie dürre Hände, die ihre langen Finger dem feuerroten Himmel entgegenstreckten. Bald würde die Nacht auch das letzte bisschen Herbstlicht verschlungen haben und die Welt in Schatten hüllen.
Im Spiegelbild des Fensters blickten Grace ihre eigenen, müden braunen Augen entgegen. Haselnussbraunes Haar fiel ihr in kurzen Strähnen ins Gesicht, den Rest hatte sie zu einem dicken Zopf zusammengefasst. Es fiel über ihre schmalen Schultern und streifte dabei den Kragen des blauen Sonntagskleids, das sie heute zum Besuch bei ihren Großeltern in Dover getragen hatte. Sommersprossen bedeckten ihre Nase, und sie öffnete den Mund zu einem herzhaften Gähnen, als Grace sich von den vorbeifliegenden Äckern und Höfen ab – und sich einem anderen, allzu vertrautem Anblick zuwandte: Ihrer kleinen Schwester Felice, die beleidigt die Lippen zu einem Schmollmund verzog.
„Mir ist langweilig!", verkündete Felice und wischte sich eine ihrer straßenköterblonden Strähnen aus dem rundlichen Gesicht. Die rehbraunen Augen der Zehnjährigen blickten ihrer älteren Schwester erwartungsvoll entgegen. „Spiel etwas mit mir."
„Wir sind bald zu Hause", murmelte Grace und warf ihrer Mutter einen Hilfe suchenden Blick zu.
„Deine Schwester hat recht, Felice. Es dauert bestimmt nur noch ein paar Minuten." Ihre Mutter lachte gutmütig, legte die Häkelarbeit, die sie stets bei der langen Zugfahrt mitführte, beiseite und blickte kurz aus dem Fenster.
Mit einem hörbaren Zischen glitt eine kleine Haltestelle am Zug vorbei und war im Nu wieder verschwunden. Inzwischen nahm die Zahl der Häuser jenseits des kleinen Fensters ihres Abteils stetig zu und die ländlichen Silhouetten wichen mehr und mehr der Kulisse der Londoner Vororte.
„Wir haben bereits Belham passiert", bemerkte ihre Mutter, dann zeichneten sich leichte Falten der Verwunderung auf ihrer Stirn ab.
Der Zug rumpelte über die Gleise, schaukelte leicht hin und her... und plötzlich ging ein Ruck durch das Abteil. Der Zug nahm die Kurve viel zu schnell, der Waggon kippte leicht, und mit einem erschrockenen Ausruf rutschten die drei schmerzhaft gegen die Außenwand. Die Häkelnadel fiel vom Polster und rollte über den Boden. Instinktiv griff Grace nach ihrer kleinen Schwester, als sich der Zug schaukelnd wieder in die richtige Position brachte.
„Mama!", japste Grace, während Felices Finger sich schluchzend in ihr Kleid bohrten und es in unordentliche Falten zogen.
„Geht es euch gut?" Der besorgte Blick ihrer Mutter glitt über ihre jungen Töchter. Mit zitternden Fingern griff sie nach ihnen und strich ihnen beruhigend über den Kopf.
„Alles ist gut", sagte sie bestimmt, aber Grace hörte, dass ihre Stimme zitterte. Trotzdem nickte sie; ihre jüngere Schwester sollte sich bemerken, dass sie sich beide fürchteten. Dann stemmte sich ihre Mutter hoch und überbrückte die zwei Schritte bis zur Schiebetür ihres Abteils. „Bleibt hier und seid brav. Ich suche den Schaffner."
Ein leises Quietschen begleitete das Öffnen der Tür, als sie die Klinke herunterdrückte und in den schmalen Gang trat. Der Zug wankte nun immer mehr auf Grund der rasenden Geschwindigkeit. Klickend schloss sich die Abteiltür wieder, und das Klackern der Absätze ihrer Mutter wurde schnell von den schnaubenden Geräuschen des Zuges verschluckt. Grace hörte das mächtige Stampfen der Kolben, die die riesigen Räder antrieben, begleitet vom lauten, gleichmäßigen Zischen des Dampfes.
„Was ist denn los?", fragte Felice und klammerte sich an die Armlehnen.
„Ich weiß es nicht", antwortete Grace ehrlich.
„Vielleicht findet der Zugführer die Bremse nicht", mutmaßte Felice, woraufhin die beiden Schwestern kicherten. Das lockerte die angespannte Stimmung ein wenig.
„Oder er will nur schneller nach Hause", rätselten sie weiter.
In diesem Moment ertönte das laute, durchdringende Pfeifen der Lokomotive. Ein lang gezogener Ton, fast wie ein anhaltender Schrei, der schließlich verstummte. Der Waggon schwankte, irgendwo hörte sie ein Fluchen, dann wieder das Scharren von Türen. Schritte im Gang, dann Stille.
Die Minuten vergingen langsam, zogen sich hin wie Honig, der von einem Löffel tropft und schienen unendlich zu sein.
„Wo ist Mama?", fragte Felice schließlich und rutschte nervös auf dem Sitzpolster hin und her.
„Ich weiß es nicht. Ich glaube, wir sind auch schon fast da.", dachte Grace nach. Inzwischen zischten die Häuser am Fenster vorbei. Kein Pfeifen mehr, nur noch Rattern.
„Bleib hier, ja? Geh nicht weg. Ich sehe nach Mutter."
Grace sprang vom Sitz und wankte zur Tür. Eilig schlüpfte sie hinaus und spähte in den Gang, auch wenn ihre jüngere Schwester sie quengelnd anflehte, bei ihr zu bleiben.
Die anderen Abteiltüren waren geschlossen, im Waggon war es still. Die Gespräche der Mitreisenden, das Rascheln der Zeitungen, das Klappern des Geschirrs im Speisewagen... alles war verstummt.
'Wie seltsam', dachte das Mädchen.
Etwas stimmte hier nicht!
Wieder geriet der Zug ins Wanken, und Grace prallt hart gegen die Wand des Zuges. Der Waggon schaukelte und in ihrem Magen bildete sich ein flaues Gefühl.
Plötzlich erschien Grace das Zischen und Dröhnen der Kolben abartig laut. Sollte der Zug nicht langsam abbremsen?
Ein lautes Krachen ließ sie erschrocken herumfahren. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie auf die Verbindungstür zum Abteil, die durch die Erschütterungen des Zuges zugefallen sein musste.
'Nur die Tür. Was ist denn los mit dir? Du bist doch kein Feigling', sagte Grace sich lautlos, drehte sich um. Aber ihr Herz wollte aus irgendeinem Grund nicht auf ihre beruhigenden Worte hören und schlug weiterhin wie wild in ihrer kleinen Brust.
Weiter hinten im Waggon war das Abteil des Schaffners. Aber ihre Mutter fand sie hier nicht. Wieder schwankte der Wagen.
„Uff!" Dieses Mal konnte sie sich abfangen, bevor sie wieder hart mit der Schulter aufschlug. Taumelnd stürzte Grace dem Schaffnerabteil entgegen. Mit wachsender Nervosität schlug ihre kleine Faust gegen das Holz der stabilen Schiebetür, die weiter oben mit einem kleinen Fenster versehen war.
„Hallo? Entschuldigung?", rief sie laut gegen das Dröhnen und Zischen an.
Keine Antwort.
Also klopfte Grace noch einmal, jetzt energischer.
„Hallo? Ich suche unsere Mutter! Ist da jemand?", rief sie und griff nach der Messingklinke. Sie bemerkte, dass sie sehr abgegriffen war. 'Sonderbar, welche Details sich in solchen Momenten in den Verstand einbrennen', dachte sie. Das Türschloss klickte. Die Tür glitt zur Seite – aber nur ein wenig, gerade mal einen Spalt breit. Dann verklemmte sie sich und stockte in einem Ruck. Es war fast so, als würde ihr jemand von der anderen Seite den Weg versperren – so blieb Grace nach einem halben Schritt stehen.
>>Platsch<<
Irritiert fiel ihr Blick auf ihre Füße, wo sie gerade in etwas Nasses getreten sein musste. Dort, auf dem glatt polierten Holz, hatte sich eine dunkelrote Pfütze gebildet.
Grace starrte und erstarrte zu gleichen Teilen.
Fast schon mechanisch glitt ihr Blick am Boden entlang in den Raum dahinter und blieb an der Leiche des Schaffners hängen, der leblos in seinem eigenen Blut auf dem Boden lag.
Ihr Herzschlag stockte und ihr Mund formte einen stummen Schrei. Sie taumelte einen Schritt zurück und schnappte nach Luft. Durch das Schaukeln des Waggons verlor sie das Gleichgewicht und fiel rücklings mit einem dumpfen Aufprall um.
Sie wollte um Hilfe rufen!
Doch als sie am ganzen Körper zu zittern begann, kam lediglich ein heiseres Wimmern über ihre Lippen. Heiße Tränen flossen über ihre erblassten Wangen, während sie unkoordiniert rückwärts kroch. Von Panik ergriffen verfingen sich ihre Beine beinahe im Stoff ihres Kleides. Ein erneutes Schlingern des Zuges ließ den Waggon zur Seite wanken und die Tür vor ihr mit einem lauten >>wham!<< zurück ins Schloss fallen.
In diesem Moment ertönte ein schriller Schrei – hinter ihr.
Felice!
Jeder Muskel in Graces Körper verkrampfte sich, und es war, als würden Eimer eiskalten Wassers über ihrem Kopf ausgeschüttet. Sie war nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Als wären ihre Gedanken durchtrennt worden; als lösten sie sich wie die losen Maschen in der Stickarbeit ihrer Mutter.
Hastig versuchte sie aufzustehen.
Sie wollte zu ihrer Schwester.
Sie musste laufen.
Weg von dem Blut.
„Felice!", stieß sie in einer Mischung aus Schreien und Stöhnen hervor.
Sie hatte solche Angst.
Wo war Mama?
Plötzlich ertönte eine Stimme. Wie ein Flüstern oder ein leiser Gesang erhob sie sich und drang zwischen die anderen Geräusche, verdrängte sie gar, wie Regen den Nebel. Dann trat eine ihr unbekannte Frau aus ihrer Kabine.
Grace starrte auf die bleichen, eingefallen Züge, das lange, schwarze Haar und blutverschmierte Lippen.
Ein neuer Ruck erfasste den Waggon – dieses Mal ein sehr viel stärkerer. Grace vernahm das Stöhnen von Stahl, das Bersten von Holz.
Dann versank alles in endloser Finsternis.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top