Kapitel 9 - Die Spur aus Brotkrumen
England,
Grafschaft North Yorkshire
Hafenstadt Whitby, Blue Bird Inn
04. Oktober 1899, 11:36 Uhr
Kaylee saß da uns starte die junge Kellnerin fassungslos an. Konnte es wirklich so einfach sein? Man konnte Zeugen einfach fragen?
"Ich war an dem Tag auch im Café, müssen Sie wissen", raunte das junge Mädchen. Ihre Stimme zitterte beinahe vor Aufregung und man konnte deutlich den Drang heraushören, zu plaudern.
"Tatsächlich?", fragte Dr. Archer und griff in seine Manteltasche, um sein Notizbuch und einen hübschen Federhalter herauszuziehen. "Wie war noch gleich Ihr Name, Miss...?"
"Kathrin Dougel. Oder gerne einfach nur Kathy", antwortete die junge Dame, drückte das Tablett flach an ihre Brust und strich dann mit der anderen Hand sichtlich aufgeregt über die weiße Schürze.
"Und Sie waren gut vertraut mit Miss..." Kaylee stocke absichtlich und runzelte gespielt nachdenklich die Stirn im Schatten der Zylinderkrempe.
"Clarence. Miss Millicent Clarence", ergänzte Kathy natürlich gutmütig. "Wir arbeiten im gleichen Café, aber sonst hatten wir wenig miteinander zu tun."
"Verstehe. Und was genau ist vor drei Tagen geschehen? Verhielt sich Miss Clarence anders als sonst?", fragte Kaylee und Ben hielt bereits den Stift für Notizen bereit.
Ihr Zeigefinger umzwirbelte nun das Ende eines ihrer Zöpfe, während die junge Frau scheinbar angestrengt nachdachte. "Nein, eigentlich war alles wie immer. Milly kam pünktlich zu ihrer Schicht und bis zum Mittag war auch alles ganz normal. Ich erinnere mich, dass die Kirchenglocke gerade zur zwölften Stunde schlug. Da fing das Chaos an."
'Mittags. Ungewöhnliche Uhrzeit für einen vermeidlich Toten durch eine Kurstadt zu spazieren', dachte Kaylee.
"Ich habe die Tische gewischt. Plötzlich fing Milly ganz fürchterlich an zu kreischen. Sie hat sogar den Tee der armen Mister Morris fallen lassen, eines unserer Stammgäste..." Die Kellnerin Kathy schüttelte dabei energisch und verurteilend den Kopf.
"Milly hat sich gar nicht um all das Chaos geschert, das sie angerichtet hat. Dabei hat sie in ihrem Anfall sogar einen Tisch umgeworfen und die nette alte Misses Harris mit ihrem Verhalten beinahe zu Tode erschreckt." Kathy schüttelte erneut vorwurfsvoll den Kopf.
"Äußerst interessant. Und weiter?" Kaylee fragte sich langsam, ob die junge Frau sich mehr Sorgen um die offensichtlich betagten Kunden als um ihre Kollegin gemacht hatte.
"Sie schrie wie verrückt. Brabbelte irgendwelche vollkommen unsinnigen Sachen und zeigte auf einen Gentleman in feiner Kleidung. Dabei rief sie wie von Sinnen immer wieder höchst sonderliches Zeug. Etwas von Wegen, das der Gentleman tot sein müsste."
Kaylee und Benjamin warfen sich einen kurzen Blick zu. Soweit stimmten die Aussagen mit dem Zeitungsbericht, den sie während ihrer Zugfahrt hierher gelesen hatten, überein.
"Und war irgendetwas an diesem Herrn seltsam oder auffällig? Erinnern Sie sich denn, wie der Gentleman aussah?", schoss es nun aus ungeduldiger aus Kaylee heraus. Am liebsten hätte sie die Antworten aus dem jungen Ding herausgeschüttelt.
"Der Herr?", fragte Kathy und klang dabei, als wäre es das Sonderbarste überhaupt, dass die vermeintlichen Journalisten sich nach dem unbekannten Herrn erkundigten, anstelle weiter nach der durchgedrehten Kellnerin zu fragen. "Nein, ich denke nicht. Ich schätze, er hat das alles nicht einmal mitbekommen", sinnierte sie und tippte sich dabei ans Kinn. Ein Stück entfernt kreischte eine Möwe und wackelte in tapsigen Schritten unter einem der Tische hindurch.
Kaylees Schultern sanken bereits vor Enttäuschung nach unten. Dies musste Kathy wohl bemerkt haben, denn sie setzte nach: "Aber ich weiß noch, dass er ziemlich in Eile war, wenn ich mich recht erinnere. Eddy lud gerade sein Gepäck auf eine Kutsche. Zwei von den Hafenarbeitern haben geholfen, eine schwere Kiste auf dem Dach zu verstauen und er stieg kurz darauf ein. Weiter habe ich mich allerdings auch nicht um ihn gekümmert. Immerhin hat Milly für ziemliches Aufheben gesorgt. Mister Parker, der Cafébesitzer, und sein Sohn mussten sie beide festhalten, weil sie an den Gästen herumzerrte und vollkommen hysterisch herumgeschrien hat."
Das Mädchen kräuselte die Lippen und sowohl Kaylee als auch der Doktor konnten das verschmitzte, schadenfrohe kurze Lächeln in ihren Mundwinkeln nicht übersehen. "Und dann ist sie einfach umgekippt." Abermals schüttelte Kathy den Kopf. "Das arme Ding. Ich wusste ja, dass es eines Tages so kommen würde."
"Sie wussten, dass es dazu kommen würde? Inwiefern?", fragte Dr. Archer und hob seinen irritierten Blick von seinen hastig geschriebenen Notizen.
"Sie war schon immer ein wenig seltsam. Hat öfter mit sich selbst gesprochen und solche Sachen. Das liegt sicher daran, dass ihre Eltern vor einiger Zeit beide gleichzeitig gestorben sind. Das hat sie nie richtig verkraftet. Ist ja jetzt auch ganz allein, das arme Ding", plapperte Kathy munter weiter.
Kaylee verkniff es sich, bei diesen Worten mit den Augen zu rollen. Himmel, sie waren Sucher und keine Gäste eines Kaffeekränzchens!
Als Mitglieder des Ordens hatte man meistens mit drei unterschiedlichen Arten von Informanten zu tun: Da waren jene, die einem absolut gar nichts erzählen wollten, auf den Boden spuckten und stattdessen auf Ärger aus waren oder derart verängstigt wurden, dass sie kein Wort über ihre bebenden Lippen brachten. Dann waren da noch Zeugen, die erst mit Informationen herausrückten, wenn sie glänzende Münzen sahen oder irgendwelche anderen Gefälligkeiten dafür erhielten. Und zu guter Letzt all jene, die sich das Maul über Anderer zerrissen oder selbst Mutmaßungen anstellten, obwohl ihnen eindeutig das Know-How dafür fehlte. Die Halbwahrheiten verbreiteten, Gerüchte in die Welt setzten und die Arbeit der Sucher, Fakten von Fiktion zu unterscheiden, umso schwerer machten. Zu diesen Leuten zählten ironischerweise auch Journalisten...
Kaylee hasste es, mit Zeugen und Zivilisten zu sprechen, doch die letzte Art Informanten, mit ihrem unbändigen Redefluss und ihren festgefahrenen Meinungen, hasste sie am meisten.
Dr. Archer schrieb sich dennoch geflissentlich alles auf, was das Mädchen sagte. Solange, bis Kathy einfiel, dass ihre Gäste noch immer auf ihre Getränke warteten und mit wehendem Rock davoneilte.
"Und?", fragte Kaylee, als die Kellnerin außer Sicht war und hob abwartend eine Augenbraue.
Benjamin tippte mit dem Stift auf dem Tisch, neigte den Kopf langsam von rechts nach links und stieß ein leises Brummen aus. "Im Grunde haben wir nichts Neues erfahren. Immerhin haben die Lokalmedien dieses Mal nicht wieder maßlos übertrieben. Aber wir sollten unbedingt mit dieser Millicent Clarence sprechen."
Kaylee nickte zustimmend. "Wir haben also gerade einmal zwei Spuren. Das Mädchen sowie den mysteriösen Gentleman. Wohin wurde sie noch gleich gebracht?"
Papier raschelte wie Laub im Herbst, als Ben in seinem Notizbuch umblätterte. "St. Hilda's Asylum."
"Dann sollten wir als Nächstes herausfinden, wo dieses Asylum ist", überlegte Kaylee und schnippte beiläufig einen Krümel des Kuchens vom Tisch, sodass sich die Möwe daran erfreuen konnte.
"Den unbekannten Gentleman sollten wir aber auf keinen Fall außer Acht lassen. Allerdings dürfte es schwierig werden herauszufinden, wohin die Kutsche mit dem Unbekannten unterwegs war..." räumte der Doktor ein.
„Hah!" Der Geistesblitz Kaylee und vor Begeisterung wäre sie beinahe aufgesprungen. Mit einem leichten Schmunzeln im Mundwinkel schlug sie mit der flachen Hand auf ihren Oberschenkel. "Vielleicht kommen wir auch anders an die Information, wer dieser Mann gewesen sein könnte."
"Das klingt, als hätten Sie eine Idee." Interessiert richtete sich Benjamin ein wenig auf.
"Warten Sie hier, ich bin bald wieder zurück." Noch bevor der Doktor protestieren konnte, war Kaylee aufgestanden und in energischem Schritt von Dannen geeilt. Sie hatten bislang nicht gezahlt, also konnte er nicht einfach so aufstehen und ihr nacheilen, also blieb dem guten Doktor nichts anderen übrig, also im Unklaren gelassen sitzenzubleiben und besorgt Kaylee hinterherzublicken.
Die Uhr einer nahen Kirche schlug Viertel nach Zwölf. Siebenundzwanzig Minuten hatte Kaylee gebraucht, bis sie wieder auf dem Stuhl Ben gegenüber Platz nahm. Mit einem breiten Grinsen auf den Lippen und einem Leuchten in den blauen Augen legte sie ein zusammengerolltes Bündel Papiere auf den Tisch.
"Darf ich höflichst fragen, was genau das hier ist?" Benjamin griff danach und rollte die Dokumente auf. Er runzelte die Stirn und seine Augenbrauen zogen sich fragend enger zusammen. Auf den ausgeblichenen, mit Flecken übersäten Papieren standen Listen mit Schiffsnamen neben Daten, Ziel- und Herkunftshäfen und geladenen Waren sowie bezahlte Zölle. "Frachtbriefe?"
"Ganz genau." Kaylee neigte sich vor und tippte auf eine der Listen. "Kathy sagte, es hätte zur Mittagsstunde geschlagen, als der Mann in die Kutsche stieg und dass die Hafenarbeiter geholfen haben, eine große Kiste aufzuladen. Es gab drei Schiffe, die an diesem Morgen eingelaufen sind. Aber nur die Havørnen hatte Fracht, die gelöscht wurde. Ich habe mit einem der Hafenarbeiter gesprochen, welche beim Entladen geholfen haben. Es gab nur einen einzigen Passagier auf dem Schiff", Kaylees Grinsen wurde noch breiter. "Und nun raten Sie mal? Dieser Passagier ist auf diesen Listen nicht aufgeführt!"
Ben verzog die Lippen und die Euphorie schwand so schnell, wie sie aufgestiegen war.
"Das heißt, wir haben nichts."
"Das sehe ich anders", Kaylee sah sich kurz um, beinahe so, als wollte sie sichergehen, dass ihr niemand zuhörte. Dann neigte er sich ein Stück näher zum Doktor und flüsterte verschwörerisch: "Vielleicht wird der Passagier nirgends aufgeführt, weil er darauf bedacht war, Anonym zu bleiben. Oder aber, weil er kein Passagier war, sondern Teil der Ware... Oder aber ihm gehörte das Schiff oder das Transportunternehmen."
Kaylee tippte bedeutungsschwanger auf die Papiere. "Da steckt eindeutig etwas im Busch. Ob es nun wirklich etwas Übernatürliches ist oder nicht, sei noch dahingestellt. Aber das alles wirkt absolut seltsam. Normalerweise nutzen größere Handelsfirmen Häfen wie The Hull oder Middlesbrough und keinen Provinzhafen wie Whitby. Von hier ist der Weitertransport viel zu schwierig, zumindest für Industriegüter. Und auch eine Verladung und der Transport auf dem Landweg machen keinen Sinn, denn das Bahnnetz ist unzureichend ausgebaut. Die Fracht müsste zweimal umgeladen werden."
Benjamin hob den Blick von den Papieren, um Kaylee etwas irritiert anzustarren. "Ist das so?", fragte er sarkastisch. "Und woher wissen Sie das?"
Weder Kaylee noch ihr Alter Ego wirkten wie jemand, der sich mit dem Transport von Rohstoffen und den britischen Handelswegen auskannte. Ben war absolut bewusst, dass Kaylee sich nicht gerne die Hände schmutzig machte und wenn ein Auftrag sie in Industrieviertel verschlug, zeigte sich stets äußerst Unwillens, dorthin zu gehen. Erst jetzt fiel Ben ein, dass er sich bislang nie gefragt hatte, womit seine Partnerin eigentlich ihr Geld verdiente.
"Ich habe einen äußerst breit aufgestellten Wissensschatz, werter Doktor. Der Ex- und Import von Waren in und aus dem Empire ist da nur ein geringer Teil." Kaylee schnaubte empört, reckte das schmale Kinn und deutete nachdrücklich auf die Papiere, indem sie mit dem Zeigefinger darauf wie. "Wie dem auch sei. Das Schiff hatte laut den Papieren Eisenerz aus Norwegen und Erde geladen."
"Erde?", wiederholte Doktor Archer verwirrt.
"Es scheint so. Mehrere Tonnen Eisenerz und eine große Kiste mit Erde. Ein Großteil der Ladung befindet sich sogar noch in Whitby – wegen der kaputten Brücke und der unterbrochenen Eisenbahnverbindung könnte sie, laut Papieren, nicht weiter verfrachtet werden." Sie griff in das Bündel Papiere, welches der Doktor hielt, und fischte ein bestimmtes hervor, dass sie kurz auf dem kleinen Tisch glattstrich und ihm zuschob. "Laut Hafenregister wurde nur eine einzige Kiste der gesamten Fracht nicht eingelagert. Und dreimal dürfen Sie raten, welche das war."
"Die Kiste voller Erde?", riet Ben, immer noch verwirrt von dem Ganzen. "Warum sollte jemand eine Kiste Erde mitnehmen?"
„Ich habe nicht die geringste Ahnung." Kyle zuckte mit den Schultern. „Viel interessanter ist allerdings folgender Umstand: Sehen sie, das hier sind die Aufgabepapiere und Zölle von Waren, die das Land verlassen." Kaylee zog an einem weiteren Papier. „Dieses ist von letzter Woche. Ein Schiff lief von hier nach Norwegen aus. Und dreimal dürfen sie raten, welche Fracht dieses Schiff geladen hatte..."
Ben starrte vollkommen verblüfft auf das Dokument. Dort stand es schwarz auf weiß: eine Kiste voller Erde wurde erst aus England nach Norwegen verfrachtet, nur um dann eine Woche später wieder zurückzukehren?
"Meinen Sie, dass der unbekannte Gentleman vielleicht irgendetwas geschmuggelt hat?"
"Das können wir ihn fragen, wenn wir herausgefunden haben, um wen es sich bei ihm handelt. Und nach meiner kleinen Recherche hier könnte dies nicht allzu lange brauchen." Kaylee beugte sich gemeinsam mit Ben über die Papiere und blätterte auf die letzte Seite. "Ausnahmsweise scheinen wir einmal Glück zu haben." Sie verwies auf die Listung der Firmennamen, welche beide Schiffe gechartert hatten. "Die Havørnen hatte ausschließlich Fracht einer einzigen Firma geladen. Eine Handelsfirma namens 'Weather Industries'. Und hier steht auch, wohin die Lieferung gehen sollte.
Benjamins Blick fiel auf die krakelige Schrift und er wusste nicht, ob er über diese Ironie des Schicksals, lachen oder lieber weinen sollte. Denn dort, auf dem vergilbten Papier war in Großbuchstaben der Zielort der Lieferung vermerkt:
Weather Industries.
LONDON.
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