Kapitel 21 - Der Hauch des Todes

Millicent starte Kyle Crowford an - den vermeintlichen Gentleman, den sie eben noch vom Hospitaldach hatte stürzen sehen, wie einen zu reifen Apfel. 

"Sie? Was wollen Sie bitte ausrichten? Sich wieder in einen Vogel verwandeln oder durch die Kutschwand springen?" Millicent konnte sich den ungläubigen, beinahe schon abschätzigen Tonfall nicht verkneifen.

Kaylee runzelte auf diese Zurschaustellung von mangelndem Respekt die Stirn und konnte die Empörung über diese Art und Weise, über ihr Alter Ego zu spotten nur schwerlich verbergen.

"U-Und ich soll ganz allein dahinten drinnen...?"

"Machen Sie schon!", fuhr ihr Kaylee nun ein wenig harscher entgegen, als es vielleicht nötig gewesen wäre. "Wir haben keine Zeit für Diskussionen. Steigen Sie endlich ein."

Das panische Gefühl, auf der Flucht zu sein, sagte Kaylee überhaupt nicht zu. Sie hasste es, sich wie ein Reh zu fühlen, das durch einen Wald gehetzt wurde. Beute... niemand war gerne Beute. Die ganze Zeit über verspürte sie ein seltsam unangenehmes Kribbeln im Nacken. Eisig und wie tausende kleine Beine von Krabbeltieren, sodass es ihr eine regelrechte Gänsehaut bescherte. Unruhig sah sie sich um. Jede Ecke, jeder Schatten wirkte bedrohlich und die Blitze des über ihnen wütenden Sturmes ließen sie jedes Mal zusammenzucken, wenn diese über den Himmel fuhren.

Kaylee zerrte an den beiden griffen der Flügeltüren auf der Rückseite des Krankenwagens, doch diese gaben, zu ihrem Leidwesen nicht nach und blieben geschlossen.

"Mist", zischte die Magierin und schlug fluchend gegen die Tür.

"Was ist los?", rief Doktor Archer von vorn.

"Verschlossen! Ich bekomme die bescheuerten Türen nicht auf."

In diesem Moment griff Millicent plötzlich nach Kaylees Gehstock.

"Hey! Was soll-", setzte jene wütend an, da holte Millicent aus und schlug das kleine Glasfenster der Tür ein. Scherben regneten zu Boden und schimmerten im Blitzgewitter und Regen wie kleine Diamanten, als sie den Arm ins Innere streckte, die Tür entriegelte, diese öffnete und hineinkletterte.

"Hah", Kaylee konnte sich ein kleines, anerkennendes Schmunzeln nicht ganz verkneifen, welches ihre Mundwinkel kurz umspielte. Was für ein cleveres, junges Ding!

"Verschaffen Sie sich im Inneren etwas Platz und verbarrikadieren Sie das kaputte Fenster mit einer der Bahren", wies Kaylee die junge Frau dann an, die zögerlich, aber gehorsam nickte.
Kaylees Mantel wehte eindrucksvoll im Wind, als jene auf dem Absatz kehrtmachte und mit großen Schritten der Front der Kutsche entgegenschritt und auf den Kutschbock sprang.

Ein Blitz erhellte den Himmel, ein Donnergrollen rollte über ihren Köpfen hinweg und das Rauschen tausender Regentropfen legte sich wie ein unheimlicher Schleier um sie alle. Kaylee erschauderte. Da war es wieder. Das unangenehme, nervöse Kribbeln im Nacken.
"Eilen Sie sich, Doktor!", zischte Sie. Doktor Archer ergriff die Zügel. Keine Sekunde zu früh – denn plötzlich prallte etwas so heftig gegen den Wagen, dass die Kutsche unter der Wucht gefährlich wankte.

Die Pferde wieherten aufgeregt und ihre Hufe klapperten donnernd auf den matschigen Weg, als ein Ruck durch die ganze Kutsche ging und diese trotz blockierter Bremsen knirschend durch den Kies nach vorn gezogen wurde.

Hinter ihnen im Wagen rumpelte es. Mit einem lauten Aufschrei fiel Millicent nach hinten um und stürzte hart zu Boden. Sie schlitterte die wenigen Schritte im Kutschhaus rückwärts und prallte dort mit lautem Poltern gegen die Wand, welche sie vom Kutschbock trennte.

Millicent taumelte, von der Wucht des Momentums erfasst, zurück – genau im richtigen Augenblick. Denn von jetzt auf gleich tauchte das Gesicht der schwarzhaarigen Vampirin am letzten, verbliebenen Fenster der Flügeltüren auf. Wie durch Papier stießen ihre langen Finger durch das Glas und die scharfen Klauen haschten nach der Kehle der jungen Frau.

Kaylee und Benjamin wurden regelrecht nach vorn geschleudert. Beide stießen sich an der Trittwand des Kutschbocks ab, um nicht im hohen Bogen in Richtung der scheuenden Pferde geschleudert zu werden, und Kaylee keuchte schwer, als sie ihr gesamtes Körpergewicht mit ihren geschundenen Armen und Beinen abfangen musste. Hinter ihnen erklang ein lauter Schrei. Dann vernahmen sie ein dumpfes, hölzernes Geräusch und als sich Kaylee umwand da fiel ihr Blick auf die blonde Kreatur, die wohl auf das Dach der Kutsche gesprungen war. Dort lauerte jene nun wie eine Katze auf der Jagd – bereit zum Angriff.

"FAHREN SIE!", brüllte Kaylee und starrte mit wild pochendem Herzen auf die von Blut und Erde verkrusteten Finger der weiblichen Bestie. Mit fahrigen Händen ergriff Doktor Archer den gusseisernen Griff der Bremse, entriegelte diese und stieß sie hinab. Die Kutsche schaukelte kurz, ein metallisches Knirschen war zu vernehmen und ein lautes "Hah!" begleitete das darauffolgende Knallen von Zügeln. Dann endlich setzte das Gefährt sich ruckartig in Bewegung. Die lauernde Kreatur verlor, von der plötzlichen und unsanften Anfahrt überrascht, das Gleichgewicht und schlitterte über das klitschnasse Dach des Kutschhauses, ihre langen Klauen verzweifelt in das dünne Holz schlagend.

Mit lautem Rufen, mit jedem Zügelschnalzen trieb Ben die Pferde an, die seiner Forderung in offensichtlicher Todesangst vor den Kreaturen nur zu gerne nachkamen. Die sensiblen Tiere witterten, welch unnatürliche Bestien sich ihnen genähert hatten, und Ben hatte alle Mühe, sie unter Kontrolle zu halten. Immer wieder stöhnte er unter dem Kraftaufwand, riss an den Zügeln oder brüllte ihnen regelrecht neue Befehle entgegen.

"Wohin soll ich fahren? Ich kenne mich hier nicht aus und diese Ungetüme kleben an uns wie Leim!", brüllte der Doktor.

Das Biest auf dem Kutschdach sprang erneut nach vorn, dem Kutschbock entgegen. Die Kutsche wankte scharf zur Seite und scharfe Klauen kratzten über das Holz des Daches. Sie schlugen tiefe Furchen hinein, als Ben sie über den Kiespfad lenkte und dabei halsbrecherische Kurven fuhr. Wilder, kalter Fahrtwind blies ihm entgegen, Regen peitschte in ihr Gesicht und erschwerte dem Doktor die Sicht zusätzlich. Die Zügel waren nass und rutschig. Es kostete ihn einiges an Mühe, die scheuenden Pferde unter Kontrolle zu halten und sie auch nur ansatzweise in eine von ihm gewünschte Richtung zu lenken. Sie würden sich nicht bremsen lassen, so viel wusste Ben. Die armen Tiere hatten Panik und der einzige Gedanke, welcher sie antrieb, war Flucht!

"Wir benötigen heiligen Boden!", brüllte Kaylee gegen den Lärm von ratternder Kutsche, Pferdewiehern, Hufgetrappel und den Sturm an und schlug mit dem Gehstock nach der Vampirin. "Eine Kirche oder einen Friedhof!"

Diese Worte schien die Wiedergängerin zu verstehen, denn sie riss empört das Maul auf und entblößte in einem bedrohlichen Fauchen die spitzen Fangzähne. Sie schrie regelrecht etwas in der fremden Sprache – und obwohl Kaylee es nicht verstand, hörte sie den blutrünstigen Zorn heraus.

Im Inneren des Wagens hörte man Rumpeln und dumpfe Schläge. Millicent griff nach allem, was sich in ihrer Reichweite befand, und warf es der um sich schlagenden Bestie, die versuchte, Millicent durch das kleine Fenster zu erhaschen, entgegen. Ein Verbandskasten traf das Monstrum direkt an Arm. Fauchend zog sie diesen zurück und ihre verstörende Fratze verschwand vom Fenster der hinteren Türen. Doch nur wenige Momente später krachte es und die Bare, welche Millicent gehorsam vor dem anderen Fenster platziert hatte, flog wie ein Geschoss durch das Innere der Kutsche. Die Untote streckte die langen Arme durch beide Fenster. Ihre unnatürlich langen Finger wühlten sich wie Klauen in Fleisch in den Türspalt und begannen, die beiden Türen gewaltsam auseinanderzureißen.

Millicent schrie auf, als das Holz der Flügeltüren ächzte und barst. Hilflos musste sie mit ansehen, wie der Spalt zwischen ihnen größer und größer wurde und die bestialisch grinsende Fratze der Wiedergängerin in das Innere blickte. Die glühenden Augen waren voller Mordlust auf das junge Mädchen fixiert, und sie verzog die Lippen zu einem grausamen Lächeln.

"Eine Kapelle! Es hat eine kleine Kapelle ganz in der Nähe!", kreischte Millicent und versuchte verzweifelt Halt in der schaukelnden und wankenden Kutsche zu finden. Die lähmende Panik ließ ihren Körper fast erstarren, und die Todesangst trieb ihr Tränen in die Augen. Kaum mehr als zwei Armlängen trennten sie von dem Monster und dem sicheren Tod!

"Doktor!", brüllte Kaylee und biss die Zähne zusammen, während sie immer wieder auf die Klauen der sich an das Dach klammernden Untoten einschlug. Sie deutete in der Ferne auf eine Silhouette, die sich kaum gegen den grauen Regenschleier abhob und wie ein Phantom in der Ferne wirkte. Ein winziges Gemäuer mit spitzen Türmchen, kaum mehr als ein überdachter Andachtsraum, der vermutlich nicht mehr als zehn Menschen Seite an Seite Platz geboten hätte. Daran waren sie schon auf dem Weg zum Hospital vorbeigekommen, doch wie immer hatte Kaylee dem religiösen Bauwerk keine Beachtung geschenkt. Jetzt könnte er ihre Rettung sein.

Erneut fuhr ein Schlag durch die Kutsche, als Doktor Archer die Pferde umlenkte und sie in die Richtung der Kapelle galoppieren ließ. Kaylee hatte alle Mühe, sich auf dem Kutschbock zu halten und zeitgleich mit rechts erneut nach der Vampirin zu schlagen. Ihr Gehstock sauste durch die Luft, dieses Mal jedoch verfehlte er sein Ziel und das Biest griff nach dem Holz der improvisierten Waffe. Mit einem diabolischen Grinsen zog die Vampirin plötzlich daran, und Kaylee wurde über die Kante direkt auf das Dach gezogen.

Die Bestie erhob sich. Gemächlich, beinahe erhaben, kam sie näher, während Kaylees Körper den erneuten Aufprall nur schwerlich zu verkraften schien. Vor ihren Augen tanzten dunkle und helle Flecken, sie konnte gerade so ausmachen, dass ich die Untote ihr näherte. Ihr Herzschlag stockte, gleichsam wie ihr Atem.

Ausgemergelte Finger schlossen sich wie eine Garrotte um Kaylees Hals. Die Vampirin zerrte die Sucherin näher zu sich und die Magierin roch fauligen, stinkenden Atem, feuchte Erde, modriges Gehölz und Verwesung. Spitze Fingernägel gruben sich schmerzhaft in ihre Haut wie spitze Dolche. Wie ein wildes Tier züngelte die Untote gierig nach ihrem Hals und dem Blut, das daraus hervorquoll, bereit, sie mit ihren Zähnen zu zerfetzen, als wäre Kaylee nicht mehr, ein hilfloses Rehkitz.

Dann ertönte ein Schuss.

Unter einem lauten, schrillen Kreischen ließ das Biest von ihr ab. Kaylees Ohren klingelten und dröhnten, als sie aufs Dach zurück glitt und sich umwandte. Doktor Archer stand aufrecht auf dem Kutschbock, ein Bein auf dem Dach, die Zügel um die linke Hand geschlungen. Es hatte beinahe etwas Episches, wie der Doktor sich gegen den finsteren Nachthimmel abhob, von Wind umspielt, die rauchende Pistole in der Hand. Doch er hatte seinen Blick von der Straße abgewandt, um Kaylee zu helfen. Ein Umstand, der sie teuer zu stehen bekommen sollte.

Die Vampirin stieß ein zorniges Brüllen aus. Mit einem einzigen Satz sprang sie nach vorn und wie ein finsterer Schatten flog die Vampirin über ihre Köpfe hinweg und stürzte sich Klauen und Zähne voran auf eines der Pferde. Reißzähne stießen in das Fleisch des armen Tieres, welches sofort scheute, verängstigt und vor Schmerzen wieherte und sich aufbäumte. Das andere Ross – ebenso in blanke Panik versetzt – scherte seitlich aus – und Ben vermochte es nicht mehr, die Pferde unter Kontrolle zu halten.

Speichen knirschten, als die Kutsche zur Seite gerissen wurde und von Kies auf matschige Erde und Stein traf und schließlich vollkommen von der Straße abkam. Die Kutsche schwankte, dann geriet sie in den Seitengraben. Das Rad verhakte sich im schlammigen Morast und ein lautes Knacken begleitete das Bersten des Holzes, als die Kutsche stecken blieb – und sich halsbrecherisch überschlug.

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