Kapitel 17 - Mit dem Kopf durch die Wand

"Ben! Der Schrank! Schnell!" Keuchend und atemlos rannte Kaylee zur gegenüberliegenden Wand des kleinen Patientenzimmers und wühlte mit zitternden Fingern in ihrer Tasche voller Paraphernalien.

Benjamin kam der Aufforderung sofort nach. Die Hände des Soldaten griffen nach dem Holz des schlichten Möbelstücks und unter schwerem Stöhnen zerrte er es vor und warf es dann scheppernd zur Seite. Der Schrank kippte nach vorn, von der Schwerkraft niedergerungen, und prallte mit einem lauten Schlag gegen die Tür. Ein paar Bettdecken fielen heraus und das Holz knackte und zerbarst an einigen Stellen unter der wüsten Handhabe.

In diesem Moment schlug etwas mit einem ohrenbetäubenden Donnern gegen die dicke Holztür. Der Laut ließ ihre Ohren klingeln, Rahmen und Holz erzitterten unter dem Aufprall, knackten und ächzten.

"Crowford! Was auch immer Sie jetzt vorhaben, tun Sie es schnell!", brüllte der Doktor und warf sich verzweifelt gegen den Schrank, um der Barrikade mehr Halt zu verleihen. Er spürte die Wucht der Schläge von der anderen Seite, während ein Kreischen und Fauchen durch das Holz zu ihnen drangen. Es klang danach, als wüteten dahinter wilde Bestien, anstelle der beiden weiblichen Geschöpfe, die sie auf dem Korridor bekämpft hatten.

"W-Was sind das für Dinger?", stammelte Millicent, ihre Stimme zaghaft, die Worte stockend, wie eine alte Schreibmaschine, deren Tasten klemmten. "S-Sie haben diesen Schleier. Sie wissen, was ich meine. Diese, wie haben Sie es genannt? A-Aura? Sie sind... diese Frauen sind..."

Kaylee wandte kurz den Kopf – nur um zu sehen, dass die junge Frau mit zitternden Fingern nach ihrem Mantel und Arm angelte, scheinbar auf der Suche nach Halt.

"Tot! Ja. Es sind Wiedergänger", antwortete Kaylee kurz angebunden.

Erneut hämmerte es gegen die Tür.

Jeder Schlag sandte einen Schauer über ihren Rücken und stellte ihr die Nackenhaare auf. Alles in ihr widerstrebte sich, der drohenden Gefahr den Rücken zuzuwenden. Ihre Schulter schmerzte und durch die Wärme, die sich über diese langsam ausbreitete, ahnte die Magierin, dass sie sich in der Auseinandersetzung mit den Klauen dieses widernatürlichen Scheusals mehr als nur ein paar blaue Flecken und oberflächliche Blessuren zugezogen hatte.

"Wiedergänger?", keuchte es indessen neben ihm. Millicents Gesicht war bleicher als die weiß-getünchten Krankenhauswände.

Kaylee stöhnte frustriert, senkte den Blick wieder auf ihre Tasche, denn das gesuchte Objekt darin entzog sich offenbar ihrem Zugriff. Endlich fand sie die leicht lädierte Papp-Schachtel und zog ein Stück schwarze Zeichenkohle heraus. "Sie haben schon richtig gehört. Untote. Wiederauferstandene Leichen aus dem Grab! In diesem Fall vermutlich eine Art Vampir, wenn Sie unbedingt den Fach-Terminus haben möchten!"

Unter zusammengebissenen Zähnen und dem wilden Pochen in ihrer Brust drückte Kaylee die Zeichenkohle auf die Wand. Panische Finger zerrten an ihrem Ärmel.

"Sie machen Scherze!"

"Bei allem gebotenem Respekt, aber sehe ich in diesem Moment für sie aus, als ob ich zu Scherzen aufgelegt bin?", zischte Kaylee bissig.

Ein weiterer, heftiger Schlag ließ Tür und Mauerwerk erzittern.

"Crowford!", fauchte Benjamin Archer unter gewaltiger Anstrengung. Ein neuer Hieb der Kreaturen ließ den Schrank erzittern und man konnte das Bersten von Holz vernehmen. Eine Hand brach durch die Bretter, Splitter bogen sich zur Seite, als wäre die Tür aus Papier gemacht; und lange Klauen kratzen an der Rückseite des Schranks.

"Was zum Teufel!", keuchte Ben und Kaylee begann unterdessen eilig, einen großen Kreis auf die Außenwand zu malen. Jede Sekunde zählte, aber ihr war bewusst, dass sie auf keinen Fall einen Fehler bei ihrer Zeichnung machen durfte. Magie war wie Musik – ein einziger falscher Ton, und die ganze Harmonie war zerstört.

"Stark wie zwanzig Mann!", presste Kaylee nur als Erklärung hervor und versuchte sich erneut auf die Details ihres Zaubers zu konzentrieren. "Ein Vampir ist so stark wie zehn oder zwanzig Mann. Zumindest heißt es das! Es kommt auf die Art des Untoten und die Tageszeit-"

"Was sollen wir tun? Wir sitzen hier in der Falle!", jammerte Millicent und schluchzte hörbar. "Ich will nicht sterben!"

"Verdammt noch mal, Sie werden nicht sterben!", blaffte Kaylee das hysterische Ding von der Seite an, "Es sei denn, Sie lenken mich weiterhin ab! Helfen Sie Dr. Archer oder tun Sie was auch immer, aber lassen Sie gefälligst meinen Arm los, damit ich den Zauber beenden kann!"
Etwas gröber zog Kaylee nun ihren Arm aus dem Klammergriff der jungen Frau, die sie angsterfüllt und wie vom Donner gerührt anstarrte. Kaylee war sich der Bedrohung genauso bewusst wie Millicent, vermutlich sogar etwas mehr. Mit so einem Feind hatten die Sucher es noch nie zu tun bekommen.

Zwei verdammte Vampirbräute! 

Wenn es einen Gott gab, hasste er sie zweifellos. 

Erneut schlugen die beiden Kreaturen auf des Doktors Barrikade ein und ein hölzernes, hohles Poltern fuhr durch den kleinen Raum.

Kaylee fuhr unter dem Geräusch zusammen und knackend brach die Zeichenkohle. Fluchend griff die junge Magierin das übrige Stück weiter hinten und zog schwarze Striche und Schriftzeichen mit fahrigen Bewegungen auf die raue Wand.

'Konzentriere dich! Ein falscher Strich und alles geht schief!', zischte sie sich innerlich selbst zu und veranlasste sie, einmal tief ein und tief auszuatmen.

"Ein Albtraum... Das muss einfach ein Albtraum sein", murmelte Millicent inzwischen nahezu manisch.

Kaylee konnte nicht anders, als auf diese Worte ein bitteres, raues Lachen auszustoßen, während sie den Blick prüfend über den arkanen Kreis gleiten ließ, um jeden Strich eilig zu prüfen. Wenn die Menschen wüssten, was sich alles auf der Welt herumtrieb und wahrhaftig real war, obwohl es als Legenden oder Unsinn verkauft wurde... Ahnungslose Narren, sie hatten nicht den Hauch einer Ahnung, dass die Realität selbst ein Albtraum war.

Eine der Bestien hatte bereits ein Brett des Schranks aufgerissen und versuchte nun, mit ihren scharfen Klauen nach Benjamin zu haschen. In der Düsternis hinter dem klaffenden Loch im Holz blitzten glühende Augen voller Zorn. Das Weihwasser war wie glühende Kohlen für sie; ihr blasser Teint warf Blasen und verbrannte zu Asche, die von ihren Leibern rieselte.

Bens ganzer Körper schmerzte von der Wucht der Schläge, die sich durch das Holz immer wieder auf ihn übertrugen. Jedes Hieb fühlte sich an, wie der Einschlag einer Kanonenkugel. Seine Knochen ächzten bei jeder neuen Erschütterung. Schweiß rann ihm von der Stirn über die Brauen und brannte vom Salz in seinen Augen.

"Crowford! Ich kann es nicht mehr lange halten!"

Kaylees Kopf fuhr herum. Instinktiv glitt ihre linke Hand zum Knauf ihres Gehstocks, dessen kühles Metall die Panik und den Fluchtinstinkt nicht zu verdrängen vermochte.

"Miss Clarence. Tun Sie jetzt genau, was ich Ihnen sage! Halten Sie sich an mir fest!", wies Kaylee die junge Frau harsch an, die unter ihrem gestrengen Ton zusammenzuckte, dann aber tatsächlich die Hände nach ihr ausstreckte und Kaylee einen vorwurfsvollen Blick zuwarf.

"Können Sie sich mal entscheiden?! Eben sollte ich Sie noch loslassen!"

Kaylee ignorierte den Protest geflissentlich.

"Archer! Kommen Sie so schnell Sie können her und greifen Sie nach der Hand von Miss Clarence!", richtete sie stattdessen den nächsten Befehl an Benjamin.

Dr. Archer zögerte eine Sekunde.

"Was haben Sie vor, Crowford?" Wenn er von dem Schrank zurücktrat, würde jener wahrscheinlich unter der Kraft der Kreaturen durch das halbe Zimmer fliegen. Dann wären sie den beiden Vampiren in diesem kleinen Raum ausgesetzt. Ohne Fluchtmöglichkeit. Selbst mit Crowfords magischem Know-how war Benjamin nicht optimistisch genug, sich in diesem Falle eine realistische Überlebenschance auszurechnen. Schon ein einzelner Vampir wäre ein erschreckender Gegner.

"Nun machen Sie schon verdammt!"

Ben keuchte, als er alle Kraft zusammensammelte.

Als der nächste Schlag gegen den Schrank fuhr, stieß er sich ab und sprintete los. Es waren nur wenige Meter, die ihn von Crowford und Miss Clarence trennten. Trotzdem kam es ihm vor, als wäre er zu langsam, sein Körper zu schwer und der Weg viel zu weit.

Benjamin Archer presste die Zähne fest zusammen und sprang. Kaylee holte tief Luft, Millicent presste voller Panik die Augen zusammen und für einen kurzen Moment schien die Zeit stillzustehen.

Dann geschah alles sehr schnell.

Benjamin fasste nach Millicent. Kaylee packte die Frau ebenfalls am Arm, welche vor Schreck erstarrt, gleich einer Salzsäule dastand. Dann presste sie ihre Rechte auf die Wand, mitten in das Zentrum des von ihr gezeichneten arkanen Kreises.

Hinter ihnen krachte es ohrenbetäubend. Die ungebremste Kraft der beiden Vampirinnen traf auf das wehrlose, erschöpfte Holz des Schranks. Dieser flog quer durch die Luft und ihnen entgegen wie ein Geschoss.

Kaylee hörte den Knall – doch ihr Geist, ihre Konzentration, einfach alles in ihr war auf ihre Aufgabe gerichtet.

"Superbus sum decipere potentem Janum" ¹, sprach die Magierin laut. 

Die Welt verschwamm wie feuchte Farben auf der Palette eines Malers, über die sich Wasser ergoss und sie ineinanderfließen ließ. Kaylee spürte die Realität unter ihren Fingern erzittern, das Geflecht, welches sich ihr und ihrem Willen wie ein dicht gewobener Umhang, ja, gar einem Panzer gleich entgegenstellte. Kaylee erfüllte die Fäden in diesem Gewebe, die alles ausmachten, alles durchdrangen und allem seine Form und Bestimmung gaben. Jedem Stein, jedem Grashalm, jedem Tier und jedem Mensch.

"Ubi custodit ostium et ianuam, muros destruo et portas creo, per quas solus ambulare possum." ²

Kaylee griff hinein in das Gefüge der Realität selbst und stieß ihre Finger, begleitet von den magischen Worten, direkt in das Gewebe. Sie griff hinein und formte es mit ihren Worten neu. Sie zog und zerrte daran, ihr Wille und was sie verlangte, gegen das Geflecht der Wahrheit hämmernd.

Es ächzte.

Das Gestein der Wand knackte und knirschte, beinahe so als wollte es der Realität eine Stimme verleihen. Dann gab es nach und mit einem plötzlichen Ruck schien der Stein zu zerfließen wie Sand.

Die Welt kippte, als Kaylee nach vorn trat – mitten durch die eben noch massive Wand – und die anderen beiden mit sich hindurchzog.

Der Vorhang, der sich eben noch für sie geöffnet hatte, schloss sich hinter ihnen ebenso rasch, wie er aufgesprungen war. Mit einem hörbaren Knacken verfestigte sich der Stein und die Realität forderte ihre Herrschaft zurück.

Obwohl das Fenster geschlossen war, konnten sie von außen den Schrank gegen die Wand und das Fenster prallen hören. Holzbretter zerbarsten an den Eisengittern. Bretter gaben krachend nach – und dann tauchte die bleiche Fratze der blonden Vampirin an den Gittern auf. Glas splitterte, als sie ihre Hand durch die Eisenstreben stieß, an den Stäben zog und zerrte, die sich knirschend beugten.

Regen peitschte den drei Flüchtenden entgegen. Der Wind empfing sie heulend, indem er sofort an ihren Körpern zerrte. Unter ihren Schuhen klirrten Schindeln und Millicent stieß einen spitzen Schrei aus, als die junge Frau erkannte, dass sie auf dem schmalen Vordach des Hospitals in schwindelerregender Höhe standen.

Vor Schreck zerrte sie instinktiv an Kaylees Arm. Aufgrund des Rucks der Bewegung verlor Kaylee jedoch den Halt auf den glitschigen Dachschindeln und rutschte aus. 

Unter einem Aufschrei verloren beide Damen ihren Stand und schlitterten das Dach hinab – dem dunklen Abgrund entgegen.

¹ – Latein: "Superbus sum decipere potentem Janum." – Ich bin vermessen, den mächtigen Janus zu betrügen.

² – Latein: " Ubi custodit ostium et ianuam, muros destruo et portas creo, per quas solus ambulare possum." – Wo er Tür und Tor hütet, da reiße ich Mauern nieder und schaffe Pforten, durch die allein ich wandeln kann."

Für die Neugierigen: Janus war der römische Gott allen Ursprungs, des Anfangs und des Endes, der Ein- und Ausgänge, der Türen und der Tore, zum Vater aller Dinge (auch der Quellen) und aller Götter. Sein Name gehört zur gleichen Wortfamilie wie ianua, der lateinischen Bezeichnung für Tür und ianus für jeden unverschlossenen gewölbten Durchgang. 

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