Kapitel 15 - Geschöpfe der Nacht

Kaylee starrte auf das verstörende Bild des armen Irren in dessen Zimmer; wie er kauernd in seinem Kreis aus Skizzenpapier saß, voller Grauen in die Leere starte und dabei immer wieder diesen einen Satz wiederholte: "Er hätte sie nicht einlassen dürfen!"

"Wen eingelassen?", fragte Kaylee mit bemüht ruhiger Stimme.

Mister Hadley murmelte weiter vor sich hin. Jetzt erkannte Kaylee, dass er etwas umklammert hielt und an seine Brust drückte. Er hatte zwei Blätter Papier eng zusammengerollt und die beiden Röhren so zusammengebunden, dass sie so etwas wie ein Kreuz formten. Der Anblick ließ Kaylee noch mehr erschaudern. Was zur Hölle ging hier vor, dass selbst die geistig Verwirrten ihr Heil im Glauben suchten?

"Wer ließ wen wo ein? Haben Sie etwas gesehen?", wiederholte die Magierin ihre Frage langsam und deutlich und versuchte dabei angestrengt ihre Angst zu unterdrücken und die Aufmerksamkeit des Wahnsinnigen zu bekommen.

Unvermittelt drehte Mister Hadley seinen Kopf in Kaylees Richtung. Ruckartig legte er den Zeigefinger mit seinen auffallend schmutzigen und spröden Fingernägeln an seine Lippen und stieß ein gezischtes 'Schhhh!' aus. Dann blickte er furchtsam zur Tür. Seine Augen waren aufgerissen und tiefe, dunkle Augenringe lagen darunter, als hätte er lange nicht geschlafen. "Hören Sie es nicht?", raunte er dann verschwörerisch und leise und stieß ein wehleidiges Wimmern aus, als sich seine Finger fester um das improvisierte Kreuz ballten.

"Was meinen Sie, Mister Hadley? Was hören Sie? Etwa die Schreie?", fragte Kaylee und lauschte angestrengt in den lauten, dissonanten Krawall aus Stimmen und Geräuschen. Bebendes Donnergrollen. Regen, der hart gegen Fenster prasselte. Das unheimliche Heulen des Windes. Das bedrohliche Zischen der Gaslichter, deren Flammen erloschen waren und das Sanatorium in eine schummrige Dunkelheit versinken ließen. Die panischen und manischen Schreie der anderen Patienten, ihr verzweifeltes Heulen und Hämmern gegen Wände und Türen.

Aber keines der Geräusche stach darunter hervor.

Dann fiel Kaylee auf, dass unter all dem Lärm etwas fehlte, und das ließ ihre Sorge umso mehr erwachen: nirgends waren die Stimmen von Wärtern und den Schwestern zu vernehmen, die für Ordnung sorgten oder dem Wahnsinn, der hier vorherrschte, Einhalt boten.

Aber was meinte der irre Mister Hadley? Was überhörte sie?

„Er hört es nicht!", brummte Mister Hadley verzweifelt, aber abschätzig und sein Blick glitt ziellos umher. Von der Türe zu Kaylee, zu seinen Händen, den Wänden und seinen Skizzen und wieder zur Tür. „Sie rufen... sie singen... hören Sie es denn nicht?"

In seiner Stimme lag eine bizarre Mischung aus Verzweiflung und Zorn. Mister Hadley griff sich in das Wirre, bereits lichte Haar und seine Finger wühlten sich durch die fettigen Strähnen. „Er hört es nicht. Sie rufen... sie kommen... Hätten sie nicht hereinlassen dürfen... Alle werden sterben... Blut, so viel Blut."

Der entrückte Mister Hadley wandte Kaylee langsam den Rücken zu und ihr wurde klar, dass der arme Irre sie wohl kaum weiterbringen würde. Es klickte leise, als sie den Hahn des Revolvers zurückzog, tief durchatmete und wieder an die Tür trat. Ihr Herz schlug ihr bis zum Halse, als Kaylee sich vorsichtig nach vorn beugte, um in den Flur zu spähen.

'Dann finden wir jetzt mal heraus, was hier vor sich geht.'

Vorsichtig setzte die Sucherin einen Schritt vor den anderen. Vereinzelt erleuchtete ein Blitz den Flur und malte dabei groteske Schatten auf die Wände. Kaylee hielt sich nahe am Mauerweck. Aus irgendeinem Grund war es beruhigend zu wissen, nicht von hinten angegriffen werden zu können. Immer wieder wagte sie einen schnellen Blick zurück über ihre Schulter, um sicherzugehen, dass sie nichts unvermittelt aus dieser Richtung überraschen konnte. Insgeheim jedoch auch in der verzweifelten Hoffnung, der Doktor hätte ihre Anweisungen in den Wind geschlagen und sei ihr gefolgt.

Dann schlug mit einem Mal die Tür zum Gemeinschaftsraum auf und prallte hart gegen die dahinterliegende Wand. Das Holz erzitterte unter der Wucht und Kaylees Herz sprang ihr vor Schreck beinahe aus der Brust. Dann hörte sie ein bedauernswertes Wimmern und heiseres Röcheln, als würde ein erstickter Schrei verzweifelt versuchen, panisch aufgerissenen Lippen zu entfliehen. 

Taumelnd tauchte die Gestalt von Schwester Enid im Türrahmen auf. 

Ihr Gesicht war zu einer Grimasse der blanken Furcht verzerrt, Blut rann von ihrer Stirn, als sie den Mund öffnete, um zu schreien. Doch dazu kam es nie. Kaylee sah mit absolutem Entsetzen, wie etwas nach ihrem Gewand griff und sie schlagartig zu Boden stürzte, als hätte man ihr die Beine fortgezogen. Ein dumpfes Geräusch, welches jeden weiteren Laut unterbrach, begleitete ihren Körper, als er auf den harten Boden traf.

Schwester Enid wimmert vor Schmerz und blanker Panik.

"Oh Gott... Oh Gott... Oh bitte Gott! Hilfe...!"

In Verzweiflung versuchte sie, sich irgendwo festzuhalten. Ihre Fingernägel kratzten über den Boden und hinterließen eine blutige Spur auf dem Boden. Ihre Hand klammerte sich verzweifelt an den Rahmen der Tür, da riss sie etwas ruckartig zurück in den Raum und damit außer Kaylees Sichtweite.

Blut rauschte in Kaylees Ohren und sie konnte ihr pochendes Herz schmerzhaft spüren, wie es wild gegen ihren Brustkorb schlug. Eiskalter Schweiß stand ihr auf der Stirn, ihre Hände zitterten. Sie war hin- und hergerissen, zwischen Flucht und dem wahnwitzigen Gedanken, nach vorn zu rennen und zu sehen, ob sie noch Jemandem helfen konnte.

Dann ertönte ein Klirren und Klappern, als zahlreiche Holzperlen über den Boden kullerten. Kaylee erkannte sie sofort – es waren die Perlen des Rosenkranzes, den Schwester Enid am Gürtel getragen hatte. Schluchzen und Weinen sickerten in die Luft. Dann erstickte jeder Laut in einem verzweifelten Gurgeln, dessen Ursprung Kaylee nicht mit eigenen Augen sehen musste, um zu ahnen, dass die Schwester gerade an ihrem eigenen Blut erstickte.

Ihre Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt. Kaylee versuchte, ruhig zu atmen – und vor allem leise. Was dort auch war, scheinbar hatte es sie bislang nicht bemerkt.

Und dann hörte sie es: eine weibliche Stimme, sanft wie Schneefall und ebenso kalt. Sie erklang in einer ihr unbekannten Sprache, definitiv aber osteuropäischen Ursprungs.

Der Ton der Worte, der Klang der Stimme, ihr genüsslicher Singsang – absolut alles suggerierten Kaylee, dass sie bemerkt worden war - und der Gedanke, das sie nun zur Beute wurde, gefiel ihr ganz und gar nicht...

Jeder Muskel und jeder Nerv in ihrem Körper spannte sich an, instinktiv, wie bei einem Reh, das den Jäger spürte, lange ehe es ihn sah. Sie wollte kehrtmachen, laufen, aber ihre Glieder versagten den Dienst.

Ein Summen wie das Schnurren einer Katze erklang. Verlockend. Einlullend. Süß wie Honig, scharf wie eine Klinge.

Eine weitere Stimme, ebenfalls weiblich. Was auch immer in dieser Kammer lauerte, es war intelligent genug, um zu kommunizieren und... 

Es war zu zweit.

Dann erklangen die beiden Stimmen gemeinsam. Kaylee konnte sie zwar nicht verstehen, aber glaubte, dass sie nach ihr riefen, sie zu sich baten. Ein Flüstern und Raunen, welches sich zwischen die anderen Geräusche schob und in ihren Verstand bohrte, als gehörte es genau dorthin. Wie Mörtel zwischen Backsteine, Honig in Waben oder Seiten zwischen Buchdeckeln. Ein melodiöser Klang, der die unverständlichen Worte übernatürlich perfekt umrahmte, ihnen Bedeutung, gar Macht beifügte.

Kaylee spürte den Einfluss, der in der Luft lang und in seinen Geist eindrang, wie geübte Finger, die über Saiten eines Instrumentes glitten. Sie schlugen etwas in ihr an. Nur federleicht, kaum bemerkbar – doch es genügte. Ihr ganzer Körper war plötzlich zu einer Salzsäule erstarrt. Ein Schauer rann durch ihren Leib, einmal, zweimal, bei jedem neuen Ton, der mit den Worten angestimmt wurde.

Sie lockten. Sie riefen. Kaylee verstand kein Wort, aber sie spürte es. Kaylee fühlte sich, als legte sich eine weiche Decke um sie, warm, wohlig, aber viel zu eng. Sie zerdrückte ihren Leib – weil sie sich dagegen wehrte. Die Welt um sie verschwamm, als ob ein dichter Nebel aufkam, und ihre Sicht vereinnahmte. Alles entfernte sich und entglitt ihrer Wahrnehmung; dabei wusste Kaylee doch irgendwo tief in sich, dass das nicht wirklich geschah. Als verklebte etwas alle ihre Sinne mit Sirup und machte alle Gedanken schwer, langsam und träge.

Ein Klang drang durch den Schleier an ihre Ohren. Schritte, die sich langsam aus dem Gemeinschaftsraum näherten. Doch Kaylee sah keinen Schatten an der Wand gegenüber oder auf dem Boden. 

Trotzdem trat erst eine, dann eine zweite Gestalt durch die Tür. Elegant, geschmeidig und so stolz, als wären ihnen das Gemäuer gehören.

Es waren zwei Frauen, gekleidet in dunklen, teuren Gewändern, ihre schlanken Körper umschlungen von festen Miedern. Perlen und Spitze zierten die Stoffe, doch ihre Kleidung wirkte merkwürdig altmodisch. Der Schnitt, der Stil, das Mieder... alles erinnerte Kaylee an die Kleidung auf Gemälden von Adligen oder Aristokraten zur Zeit der Aufklärung.

Sie waren atemberaubend schön – alle beide. Sie besaßen zarte Gesichtszüge und volle, rote Lippen, welche die Aufmerksamkeit eines jeden Mannes hätten auf sich ziehen können. Ihre dunkel umrahmten Augen, voller Sehnsucht und Verlangen, verlockten dazu, sich in hedonistischen Fantasien zu verlieren.

In Kaylee stießen sie damit Alarmglocken an, die in ihrem Kopf schrillten.

Sie wollte abdrücken. Auf die beiden Kreaturen feuern.

Aber ihr Körper weigerte sich, zu gehorchen.

Eine der Frauen hob beschwichtigend die Hand und sagte erneut etwas auf der fremden Sprache. Sofort spürte Kaylee, wie die Muskeln in ihrem Arm die Waffe senken wollten. Ihre Finger zitterten von der mentalen Anstrengung, die es kostete, die Waffe weiterhin auf die beiden Frauen gerichtet zu halten.

Der Stoff ihrer Kleider wallte um ihre Beine, als die Gestalten langsam auf Kaylee zuschritten. Schmutzig und teilweise zerfleddert, hing der Rocksaum in Fetzen. Beide Frauen waren schlank, fast schon dürr, ihre Finger lang und schwärzlich verfärbt, ehe sie in langen, klauenartigen Fingernägeln endeten. Sie liefen barfuß und jeder Schritt hinterließ ein leises Platschen auf dem Boden, denn die beiden waren vollkommen durchnässt. Das Haar, jenes der Vorderen blond und fast weißlich, das der Zweiten schwarz wie Pech, klebten ihnen in nassen, dicken Strähnen um Gesicht und Schultern.

Und sie waren bleich.

Totenbleich.

Da verzogen sich die Lippen der Ersten zu etwas, das vielleicht ein Lächeln hätte sein können.

Doch hinter der bezaubernden Maske sah und spürte Kaylee das Biest, das sich dort zu verbergen suchte. 

Der Mund und das Kinn waren rot – verschmiert vom Blut ihrer Opfer, und als sie lächelte, entblößten ihre Lippen ein paar spitze Fangzähne. 

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