Kapitel 11 - Das Hospital

Der mit einer Kette am Gürtel der Ordensschwester befestigte Schlüsselring klirrte, während sie den beiden Suchern in einem raschem Schritt voraus schritt. Der schwarze Stoff des knöchellangen Habit¹, dem Ordensgewand, welches sie, wie alle Schwestern des St. Hildas Hospitals trug, schwang ihr bei jedem Schritt um die Füße, wodurch gelegentlich die Spitzen ihrer schwarzen, sichtlich abgetragener Schuhe zum Vorschein kamen.

"Und dies hier ist der Zugang zur Nervenheilanstalt unseres Krankenhauses." Die besagte Tür öffnete sich mit einem metallischen Ächzen der Scharniere, als wollten jene sichergehen, dass ein Jeder wusste, wann jemand diesen Teil des Hospitals betrat oder verließ.

Die Gänge der Nervenheilanstalt waren weiß gestrichen und die Fenster groß, um viel Licht einzulassen. Alles war so hergerichtet, um einen hellen, freundlichen Eindruck zu vermitteln. Manche Zimmertüren standen offen und erlaubten einen Blick in die spartanisch eingerichteten Räume. Lediglich ein Bett, ein kleiner Beistelltisch und vielleicht ein Regal waren darin zu finden. An manchen Wänden klebten ein paar selbst gemalte Bilder, viele andere waren schlicht, steril und leer.

"Haben Sie hier viele Patienten in der Heilanstalt?", fragte Dr. Archer und ließ den Blick in fachkundiger Manier in alle Richtungen schweifen.

Schwester Enid schüttelte leicht den Kopf. "Unsere Anstalt ist vergleichsweise klein und viele Räumlichkeiten stehen glücklicherweise leer. Doch das ermöglicht uns auch, unsere Patienten aufzuteilen und sie so ihren persönlichen Bedürfnissen entsprechend zu behandeln", erzählte die junge Frau, deren bloße Gegenwart Kaylee bereits die Nackenhaare aufstellte.

Die Anwesenheit von Priestern oder Klosterfrauen, beziehungsweise Geistlichen im allgemeinen, kratzte wie Fingernägel an einer Schultafel an ihren Nerven. Klerus und Medizinerin? Eine furchtbare Kombination. Solche Leute konnten helfen und gleichzeitig missbilligend auf ihre Patienten herabblicken...

In den meisten Gegenden hatte medizinisch ausgebildete Personal die, wie es früher üblich war, eingesetzten Schwestern aller möglichen Orden ersetzt. Doch bei diesem Hospital, mit diesem Namen, welches in der Nähe eines alten Klosters lag, hätte sie wohl damit rechnen können, hier noch Geistliche anzutreffen.

Innerlich schüttelte sie über sich selbst den Kopf. Wäre sie – das musste Kaylee sich einfach eingestehen – nicht so furchtbar neugierig und viel zu argwöhnisch, hätte sie Dr. Archer das hier vielleicht sogar allein machen lassen.

Die diensthabenden Nonnen im Hospital unterhielten sich in ruhigem Tonfall mit den Patienten. Andere führten oder begleiteten die geistig Verwirrten bei einem kleinen Spaziergang durch die Hallen, dass das Wetter zu schlecht war, um nach draußen zu gehen.

Schwester Enid führte indessen die beiden Gäste weiter bis zu einem Treppenaufgang, der schließlich in einem überschaubaren Vorraum endete. Neben einem vergitterten Fenster, welches auf den Vorhof des Hospitals blickte, saß dort ein junger Pfleger mit einer ledernen Schürze auf einem hölzernen Schemel vor einer schweren, offensichtlich verschlossenen Tür. Er hob den Blick von seiner Zeitung, die er gerade ausgiebig studierte, als er die nahenden Schritte hörte. Sein braunes Haar war kurz geschoren – vermutlich, damit keiner der Insassen ihn in einem Fall von Panik oder Aggression dran packen konnten.

"Schwester Enid." Der Wächter war vermutlich nicht älter als Anfang zwanzig und sprang von seinem Stuhl auf, als sie sich näherten. Dann fiel sein Blick auf die Besucher und sofort wurde er wachsamer.

"Guten Tag Jonathan. Das hier sind Dr. Thurgood und sein Assistent, Mr. Eltingham", stellte die Schwester die Gäste vor, deutete zuerst auf Benjamin und dann auf Kaylee und lächelte freundlich. "Dr. Thurgood ist hier, um einen Bericht zu Unterrichtszwecken über den Fall von Miss Clarence für das St. Bartes Hospital in London zu erstellen."

Dr. Archers Herz schlug bei diesen Worten nervös schneller und sein Lächeln fiel deshalb vielleicht ein wenig schräger aus. Seine Geschichte war nachvollziehbar, glaubhaft und aufgrund seiner medizinischen Kenntnisse wohl kaum zu widerlegen. Dennoch hasste er es, zu lügen.

Kaylee ging es nicht besser. Normalerweise hatten sie kein Problem damit, sich fremde Identitäten zuzulegen. Aus diesem Gebäudekomplex wäre es jedoch deutlich schwerer, einfach so zu entkommen, sollten sie auffliegen. Die Lüge des Doktors war riskant und bisher konnte die junge Frau von Glück sprechen, dass Dr. Archer als ihr vermeintlicher Vorgesetzter die medizinischen Fachfragen beantwortet hatte. Denn wenn es etwas gab, von dem Kaylee keinerlei Ahnung noch Interesse daran besaß, dann war es Medizin.

"Guten Tag, die Herren." Der junge Pfleger Jonathan wirkte nicht gänzlich überzeugt. Sein Blick hing einige Momente länger an dem vorgeblichen Assistenten Mr. Eltingam, dann haftete er sich an Dr. Thurgood. "Gentlemen aus London also? Hier in unserem kleinen Hospital?"

Sofort spannten sich Kaylees Muskeln von ganz allein an. Trat ihr gerade der Schweiß auf die Stirn? Welche Zauber besaß sie noch gleich, wenn das alles hier schief ging? Ob diese Leute wohl für Bestechung offen waren?

"Der Fall von Miss Clarence klang sehr vielversprechend", erklärte der Dr. Archer ruhig und trocken – und schien sich nicht weiter erklären zu wollen. Ein typisches und hier passendes Auftreten von Ärzten, die es gewohnt waren, auf Pfleger herabzusehen und diese herumzukommandieren.

Kaylee wollte am liebsten erleichtert Luft ausstoßen, als der Pfleger sich damit zufriedengab. Bisher hatte niemand einen Nachweis ihrer Identitäten verlangt. Ob es nun daran lag, dass dieses Hospital so klein und unbedeutend war, oder das Dr. Archer sich entsprechend seiner Profession sehr überzeugend verkaufte? Am Ende spielte es keine Rolle.

Stattdessen sahen sie dabei zu, wie Jonathan ein großes Schloss öffnete, um ihnen den Zugang zum gesicherten Bereich der Anstalt zu gewähren. Dort endete die helle, weiß getünchte Idylle des Hospitals und wich einer anderen, regelrecht bedrückenden Atmosphäre. In diesem Bereich fanden sich vor und hinter jedem Fenster daumendicke Eisengitter, die keinem noch so schlanken Körper ausreichend Platz geboten hätten, um sich hindurchzudrücken.

"Das soll verhindern, dass Patienten die Fenster einschlagen und Scherben als Waffen benutzen können", erklärte Schwester Enid, die Kaylees missmutigen Blick auf die Fenster wohl bemerkte.

"Greifen die Patienten denn öfter zu solchen Methoden?", fragte sie daraufhin und Schwester Enid lächelte gutmütig.

"Wir sind nur ein kleines Klinikum hier. Wir haben lediglich ein paar wenige, wirklich gefährliche Patienten. Die meisten sind mehr eine Gefahr für sich selbst als für andere."

Wirklich besser machten diese Erklärungen es für Kaylee nicht. Sie war nicht wirklich in der Stimmung um, im schlimmsten Falle, mit einem manischen Patienten zu ringen. Zudem reichte allein dieser Ort aus, um ihren Magen flau werden zu lassen.

Mitleidig seufzte die Schwester und fuhr unbeirrt fort: "Der Teufel verdreht diesen bemitleidenswerten Geschöpfen die Geister; manche werden von ihren Dämonen bis in den Schlaf verfolgt. Sie sind allesamt verwirrte Geschöpfe und wissen nicht, was sie tun. Ich bete jeden Tag für ihre Erlösung und Beistand."

"Und Ihre Gebete werden sie sicherlich retten." Dieses Mal konnte sich Kaylee den höhnenden Kommentar nicht rechtzeitig verkneifen. Ironischerweise betete sie nun dafür, dass man ihrer Stimme den gewohnten sarkastischen Unterton nicht angehört hatte. In jedem Falle erntete sie einen verwirrten Blick Seitens der Schwester und einen scharfen, verurteilenden von Benjamin Archer.

Kurz kreuzten sich ihre Blicke.

"Wir hoffen das Beste für Ihre Patienten", meinte Dr. Archer schnell, um den Fehltritt seiner Partnerin zu überspielen.

Auch wenn Kaylle bewusst war, dass ihr Kommentar sie in Teufels Küche bringen könnte, stand sie jedoch hinter dem, was ihr unbedachter weise über die Lippen gesprungen war! Weder Gott noch einer seiner Engel kam auf einem weißen Pferd oder mit einem feurigen Schwert daher, um diesen Menschen zu helfen. Jeder war allein mit sich selbst und musste seine Kämpfe ganz und gar auf sich gestellt bestreiten. Das wussten die Sucher – und Kaylee, insbesondere – wohl am besten.

Trotz Dr. Archers schlichtendem Versuch legte sich eine unangenehme Stille über der kleinen Gruppe, während sie den Korridor entlang schritten. Umso deutlicher drangen andere Geräusche an ihre Ohren: Aus den Räumen, die sich ihnen zur rechten und linken eröffneten, hörte man leises Wimmern und Gemurmel. Ein Pfleger, der einen ernsten Gesichtsausdruck trug, schob einen Rollstuhl mit einer Frau an ihnen vorüber. Sie steckte in einer ledernen Riemen-Jacke und schaukelte ihren Körper stetig vor und zurück, während sie Unverständliches vor sich her brabbelte.

Tür um Tür zog an ihnen vorüber, die meisten davon verschlossen – eine jedoch war einen Spalt weit geöffnet. Kaylee konnte sich nicht verkneifen, einen kurzen Blick hineinzuwerfen. Viel sehen konnte sie zwar nicht, nur ein sonderbares, beinahe schon verzweifelt wirkendes Keuchen war zu hören. Vorsichtig machte sie wieder einen Schritt zurück...

"Sie kommen!"

Wie ein Pfeil schnellte plötzlich ein Mann hinter der Tür hervor und packte sie grob am Kragen. Die Augen des armen Irren voll Panik geweitet, sein Gesicht bleich und verängstigt zu einer Fratze verzogen.

"Was zur...!" Kaylees Herz machte einen stolpernden Satz und sofort umfasste ihre rechte Hand den silbernen Griff ihres Gehstocks, während ihre andere nach vorn schoss, um den Mann von sich zu schieben.

Gerangel brach aus.

Dr. Archer griff sofort nach dem Mann, ein Pfleger aus dem Korridor eilte ebenfalls herbei und die Nonne stieß einen erschrockenen Schrei aus.

"Mr. Hadley! Lassen Sie los!"

Kaylee stolperte instinktiv rückwärts, in dem Versuch, Abstand zu dem Angreifer zu bekommen. Der Mann mit zerzaustem, grauem Haar und einer auffallenden Hakennase folgte ihr jedoch nach und weigerte sich, den Griff zu lockern. Kaylee konnte hören, wie die Nähte ihres feinen Mantels unter den langen, dürren Finger des Mannes ächzten und drohten nachzugeben, als dieser wie von Sinnen an ihr zerrte.

"Hände weg!", zischte Kaylee wütend und versuchte die verkrampften Finger des Wahnsinnigen zu lösen, indem sie mit dem Gehstock nach dessen Armen schlug.

Der Irre ließ sich aber weder beirren noch ließ er von ihr ab. Stattdessen zerrte er Kaylee noch näher an sein schreckverzerrtes Gesicht, bis sich ihre Nasenspitzen fast berührten. Eine ekelhafte Mischung aus Schweiß und bitterem Mundgeruch stieg Kaylee in die Nase und ließ sie beinahe würgen. Die braunen Augen des Irren waren weit aufgerissen, die Pupillen geweitet und seine Augäpfel traten förmlich aus den Höhlen, als wollten sie gleich herausspringen.

"Sie kommen! Sie kommen! Ihr Flüstern, ihr Gesang! Könnt ihr es nicht hören? Sie haben Blut geleckt! Flieht, lauft! Bevor die Sonne untergeht!", kreischte er, sodass es durch den ganzen Gang hallte. "Futter für die Würmer! Futter für die Würmer!"

Da lösten endlich starke Finger seinen Griff von Kaylees Revers und rissen den Mann fort. Dr. Archer, wieder einmal brillierend in seiner Rolle als Beschützer, schob sich sofort vor Kaylee, fast wie eine Ziegelmauer, die aus dem Nichts aufgetaucht war. Es benötigte dennoch zwei weitere, herbeigeeilte Pfleger, um den Mann unter Kontrolle zu bekommen, welcher nun, scheinbar in vollem Wahn, in schallendes Gelächter ausbrach.

Keuchend stand Kaylee da und konnte nicht fassen, was da gerade wirklich passiert war. Nur kurz fiel ihr Blick in das Zimmer und erfassten das wahnsinnige Chaos dahinter. Der Boden, ja selbst die Wände waren gesäumt mit zahllose, mit verzerrten Worten beschriebenen Blättern und wirre Kritzeleien, die aussahen, als hätte ein Kleinkind versucht, etwas zu Papier zu bringen, ohne zu wissen, was es eigentlich tat. Überall, auf jeder dieser irren Notizen, war in manischer Manier ein großes Kreuz gemalt worden.

Die Pfleger schleppten den Mann indessen zum Bett, auf welches sie ihn unsanft niederdrückten und mit groben Griffen, mit ledernen Riemen fixierten. Kaylee sah eine Injektionsnadel blitzen und sich kurz darauf in weiches Fleisch versenken. Das Lachen und Schreien, eine schauerliche und bizarre Mischung, hallte über den ganzen Flur wie das warnende Grollen des Gewitters außerhalb der Fenster.

"Sie kommen! Sie kommen! Ihr werdet alle sterben! Alle! Alle tot, alle tot, alle tot! Hahaha! Die Wände getränkt in blutigem Rot! Alle tot, alle tot, alles rot!"

¹ Habit - Das lateinische Wort Habit meint Haltung und Gestalt, aber auch Kleidung. Der Habit wird auch Ordensgewand, Kutte (bei Franziskanern), Ordenstracht oder Ordenskleid genannt.

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