Kapitel 10 - Was der Orden nicht weiß...
"Das darf doch wohl nicht wahr sein!" Dr. Archer entgleisten die Gesichtszüge für einen Moment. Dann schlug er sich die Hand vor das Gesicht und gab ein lautes, angestrengtes Stöhnen von sich. "Das heißt dann wohl, dass wir stundenlang von London aus aufs Land hinausgefahren sind, um nach einem Gentleman zu suchen, der sich jetzt wieder an unserem Ausgangsort befindet?"
Kaylee konnte sich bei diesem entnervten Anblick des sonst so stoischen Arztes trotz allem selbst empfundenen Frust ein Glucksen nicht verkneifen. Schnell jedoch zog sie die Hand vor die Lippen, räusperte sich, um es mit einem Hüsteln zu überspielen und kam schnell zum Ernst der Lage zurück.
"Nun, wir konnten ja kaum erahnen, dass wir nach einem Verdächtigen in der Hauptstadt suchen. Dennoch verstehe ich Ihren Frust durchaus."
"Und was tun wir jetzt? Ich meine, den Mann in London wiederzufinden dürfte nahezu unmöglich sein."
Da zog Kaylee die schmalen Augenbrauen höher. "Das würde ich nicht zwingend behaupten. Wir haben hier immerhin den Namen des Unternehmens, welches mit dem rätselhaften Fremden in Verbindung zu stehen scheint. Dem können wir in London zumindest einmal nachgehen. Die Bank of England führt ein recht ausführliches Register der größten Unternehmen und Fabriken in und um London, die Handel mit dem Ausland betreiben, in welchem In- und Teilhaber gelistet sind. Inklusive der entsprechenden Adressen."
Bei diesen Worten lockerte sich Benjamins harte Miene wieder auf. "Das ist hervorragend! Aber wenn wir jetzt schon einmal hier sind, sollten wir dennoch das Mädchen befragen. Und wenn es nur darum geht, eine genauere Beschreibung des Unbekannten zu erhalten."
Kaylee nickte zustimmend. "Zweifellos." Ihr Blick haftete sich nachdenklich an die Frachtpapiere, die vor ihr auf dem Tisch lagen. Irgendetwas passte hier nicht zusammen, auch wenn es ihr nicht in den Sinn kommen wollte, was. "Das ergibt keinen Sinn."
"Wie bitte?" Dr. Archer konnte nicht ganz folgen. Eben noch hatte Crowford ihm noch zugestimmt!
"Die Lieferung hier in Whitby abzuladen und dann weiterzutransportieren, das ergibt eigentlich keinen Sinn. Die Bahnverbindungen für Güterzüge sind nicht unbedingt hervorragend ausgebaut – wie wir selbst auch zu spüren bekommen haben. Das Schiff hätte direkt nach London übersetzen oder einen südlicheren Hafen anlaufen können. Und selbst, wenn dies nur ein Zwischenhalt war, hätte der unbekannte Gentleman einfach mit dem Schiff nach London weitersegeln können. Warum mit der Kutsche fahren oder mit einem der Züge?" Kaylee schüttelte den Kopf.
Dr. Archer neigte den Kopf leicht zur Seite und rieb sich über den Bart an seinem Kinn. "Vielleicht wird der unbekannte Herr schnell seekrank und ihm bekommt das Reisen zu Schiff nicht. Wie dem auch sei, aus den Papieren werden wir nicht schlauer, als wir es jetzt sind. Also lassen Sie uns keine weitere Zeit verlieren und zu dem Hospital fahren." Dr. Archer hob den Blick und haftete ihn an Kaylee. "Woher wissen Sie so etwas eigentlich?", fragte er, kaum da sie sich von ihrem Stuhl erhob und in die Innentasche des Mantels griff, um ein, mit einer goldenen Klammer zusammengehaltenes Bündel Geldscheine herauszuziehen.
"Woher weiß ich was?" Kaylee zählte einen kleinen Betrag und etwas Trinkgeld für die plappernde Kellnerin ab und legte diesen auf das dafür vorgesehenen, kleinen Tablett ab.
"Das diese Route keinen Sinn ergibt. Woher wissen Sie diese Dinge über Exportrouten und das mit dem Handelsregister in London?" Kaylee war natürlich sofort klar, dass des Doktors Neugierde nur bedingt mit ihrem Fall zu tun hatte...
Die wenigsten Mitglieder des Ordens kannten genaue Details über den Reichtum des Kyle Crowford und wie er zu diesem gekommen war. "Nun, ich kenne mich mit dergleichen Themen hervorragend aus, weil ich Anteile unterschiedlicher Unternehmen besitze. Und unter anderem, auch ein paar der Eisenbahn", antwortete Crowford und sah Dr. Archers Gesicht das zweite Mal entgleisen.
"Sie sind Aktionär und haben Anteile der Eisenbahn?!" Ben starrte seine Gefährtin ungläubig an.
"Ja. Unter anderem an der Great Northern Railway, um genau zu sein. Was denken Sie, warum wir so spontan noch Plätze in der ersten Klasse erhalten konnten?"
Benjamin blinzelte verdutzt. Dann kniff er die Augen zusammen, denn sein Verstand fand eine weitere Logiklücke in dem Schleier, mit dem Kaylee ihre Vergangenheit und ihr Alter Ego umgab. "Und woher hatten Sie die finanziellen Mittel für diese Aktien? Sicherlich lag das Kleingeld dafür nicht eben auf der Straße?"
Die Great Northern Railway war eine der vermögendsten Eisenbahn-Institutionen in ganz England und die Teilhaber saßen normalerweise in großen Hallen, umgeben von kichernden Schönheiten. Dort ließen sie Kristallgläser aneinander klirren, während die Herren teuren Champagner schlürften. Die meisten entstammten altem Geldadel oder waren selbst Aristokraten. Seine Gefährtin war weder das Eine, noch das Andere, zumindest so weit der Doktor wusste.
Kaylee lächelte zur Antwort. Es war diese Art Lächeln, welches viel Ungesagtes dahinter verbarg. "Sind Sie sicher, dass Sie das wissen möchten, werter Doktor?" Geschwind verstaute sie das Geldbündel wieder in ihrem Mantel und zuckte mit den Schultern. "Sagen wir einfach, ich habe schlicht das erstaunliche Talent und gewisses Geschick darin, kluge Investitionen zum richtigen Zeitpunkt zu tätigen. Nur eine meiner vielen Fähigkeiten."
"Und Ihre Begabung für die Dunklen Künste hat nicht zufällig etwas damit zu tun?" Benjamin konnte sich diese Frage einfach nicht verkneifen. Immerhin hatte er selbst Kaylee schon einmal dabei beobachtet, wie sie Knochen und Orakel warf, um das Schicksal zu befragen.
"Wer weiß." Kaylee setzte sich den Zylinder auf das schwarze Haar und für eine Sekunde umspielte dieses verräterische Lächeln ihre Lippen, welches immer dann zum Vorschein kam, wenn der gute Doktor glaubte, sie durchschaut zu haben.
"Wir sollten uns nun lieber auf den Weg machen und die junge Dame befragen", beharrte Crowford indes erneut und zupfte den Gehrock am Revers zurecht, ehe sie sich umdrehte und in die Richtung der Relaisstation aufmachte, an der die Postkutschen die Pferde austauschten.
Das kleine, unscheinbare Haus reihte sich zu anderen in dem beschaulichen Kurort ein und fiel höchstens durch die angebauten Stallungen auf, aus denen das Schnauben von Pferden und das Scharren der Hufe zu hören war. Eine Geräuschkulisse, die sich irgendwie nicht so ganz in das Idyll des Hafens einfügen wollte, zugleich aber hineingehörte wie ein sorgsam platzierter silberner Buchstabe in einem alten Manuskript.
"Mein Gefühl sagt mir, wir sollten nicht noch mehr Zeit verlieren."
Das Rauschen von Wellen sowie das Kreischen der Möwen blieb hinter ihnen zurück und wich wieder dem monotonen Rattern der Kutschenräder. Im Innern der Kutsche roch es muffig und alt, die Polster waren unbequem und durchgesessen. An manchen Stellen waren die gerissen oder notdürftig geflickt worden und Kaylee öffnete sofort das Fenster, damit zumindest ein wenig frische Seeluft in das Innere strömen konnte. Danach rutschte sie ständig murrend auf dem Polster hin und her.
Ein Stück außerhalb der Stadt, hinter einem Wäldchen, das kaum als Forst bezeichnet werden konnte, ohne andere Wälder damit zu beleidigen, schlängelte sich die vergleichsweise schmale Straße durch die hügelige Landschaft. Eine Brücke streckte sich über einen kleinen Fluss, der gemächlich seinen Weg an ihrer Strecke entlang plätscherte und sich vermutlich bei Whitby im Meer verlor.
Hinter einer kleinen Biegung, die um einen Hügel führte, erhob sich schließlich ein imposantes Bauwerk aus der Landschaft. Umgeben von einem gusseisernen Zaun mit einschüchternden Spitzen, die von kunstvollen, ehernen Blättern umringt wurden, war das große Bauwerk des Hospitals mit dem Hauptgebäude und den beiden seitlichen Neben-Flügeln ein unerwarteter Anblick. Inzwischen war der Himmel von dunklen Wolken bedeckt und kein Sonnenstrahl schaffte es mehr, die beklemmende Stimmung zu vertreiben, die zumindest Kaylee bei diesem Anblick befiel.
Obwohl das Gebäude aus hellem Stein gebaut worden war, zeichnete sich an eben jenen deutlich die Nähe zum Meer und der Zahn der Zeit daran ab. Das Gemäuer war inzwischen gräulich, an vielen Stellen kletterte Efeu an der Fassade empor, dessen kleine Blätter sich in der leichten Brise wie Wellen auf einem immergrünen Meer wiegten.
Über dem Haupteingang thronte ein kleiner Turm über die Dächer der Seitenflügel. Das runde Ziffernblatt einer stetig klickenden Turmuhr mit ihren Zeigern aus Messing zeigte die fünfzehnte Stunde an. Penibel gestutzte Hecken flankierten den Kiespfad zum Rondell vor der Eingangspforte, auf dem die Kutsche schließlich zum Stehen kam.
Dr. Archer ließ den Blick über das Gebäude schweifen, während Kaylee aus dem Innern kletterte.
"Soll ich auf Sie warten, Gentlemen?" Der Kutscher warf wiederholt einen Blick in Richtung des Gebäudes und wirkte dabei ebenso unwohl, wie auch Kaylee sich beim Anblick des rechten Flügels fühlte. Dort waren vor jedem Fenster eiserne Gitter angebracht, die eher an ein Gefängnis als ein Hospital erinnern mochten. Beim Gedanken daran, was im Innern vorging, wurde wohl so manchem flau im Magen.
"Nein, vielen Dank. Es kann länger dauern." Kaylee griff in die Innentasche ihres Mantels und zog das Bündel Scheine heraus. Noch in der Bewegung bemerkte sie, dass sich scheinbar etwas daran verhakt hatte – da glitt es auch schon aus der Tasche. Ein dumpfes Geräusch erklang, als der Stein mit dem Loch in der Mitte im Kies landete und dort wie ein Auge mit einem vorwurfsvollen Blick liegen blieb.
Dr. Archer bückte sich und hob den flachen Stein auf, während der Kutscher nur die Stirn runzelte und scheinbar dann beschloss, es schlicht zu ignorieren. Stattdessen legte sich sein Blick auf den Gentleman mit dem Geld und er streckte bereits die Hand aus.
Kaylee eilte sich sichtlich, dem Mann seine Bezahlung auszuhändigen und noch während sich die Kutsche ratternd wieder entfernte, reckte sie nun ihrerseits die flache Hand in Richtung Benjamin.
"Es scheint mir, als ob Sie die Angewohnheit besitzen, nicht alles, was wir konfiszieren, an den Orden auszuhändigen, Mr. Crowford." Dr. Archer drehte den Stein mit einem sichtlich kritischen Gesichtsausdruck in den Händen, ehe er ihn an die Magierin zurückreichte. "Das könnte Ihnen noch ziemliche Schwierigkeiten bereiten."
"Das Druidenglas stand nicht in der Listung der vom Orden gesuchten und zu beschlagnahmenden Objekte", erwiderte Kaylee und steckte den Stein wieder zurück. "Und solange es in keinem Bericht explizit erwähnt und als Artefakt offengelegt wird, ist die Inbesitznahme kein Verstoß gegen die Ordensregeln. Ich betrachte ihn als Kompensation für meinen Mantel. Und meine Verletzung."
"Ach? So wie ein ganz bestimmtes Schwert, welches sich auch zufällig noch in Ihrem Besitz befindet? Und von welchem Sie sehr inniglich darauf beharrten, es nicht in meinem letzten Bericht zu erwähnen?"
"Also jetzt hören Sie mal. Ich bin der Meinung, dass ich mir das Schwert mit der Tötung des Dämons ausreichend verdient habe. Und was der Orden nicht weiß..." Kaylee wackelte schelmisch mit den Augenbrauen und Dr. Archer wollte über diese viel zu charmante Form der Dreistigkeit stöhnen.
Sie hatte sichtlich kein schlechtes Gewissen und eigentlich hätte Dr. Archer das mehr beunruhigen sollen. Die junge Magierin zeigte sich so reuelos wie ein Lausbube, der dem Nachbarn Äpfel stahl und darin eher einen kleinen Streich als ein wirkliches Vergehen sah.
"Was ist eigentlich aus dem Schwert geworden?", fragte er mehr interessiert als rügend.
Kaylee schnalzte mit der Zunge, hob ihren Gehstock, schob mit dessen Knauf den Zylinder ein wenig höher und klopfte dann zweimal damit auf den Kiesboden. Verschmitzt wackelte sie erneut mit den Augenbrauen.
"Das, lieber Dr. Archer, werden Sie eines Tages ganz sicher herausfinden", meinte sie dann und grinste verwegen.
"Wir sollten uns stattdessen etwas einfallen lassen, wie wir zu Miss Clarence kommen. Nach dem Vorfall werden die Angestellten des Hospitals der Presse gegenüber zweifellos abweisend sein. Und ich bezweifle, dass wir als Familienangehörige durchgehen werden."
Da stieß Dr. Archer ein Lachen aus und beschritt die erste Stufe zum Hospital. Manchmal sah Kaylee den Wald vor lauter Bäumen tatsächlich nicht, weil sie alles komplizierter machte, als es sein musste. Erst im Café, und nun auch in diesem Fall. Nun war er es, der verschmitzt grinste.
"Ich habe da schon so eine Idee."
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