Kapitel 1 - Hetzjagd


England, London
West End, Soho
03. Oktober 1899, 07:04 Uhr


Ein trüber Himmel mit dichten, dunklen Wolken mischte sich in das graue Stadtbild des herbstlichen London. Aus den zahlreichen Schornsteinen stieg Rauch gen Himmel und im Wechsel mit den immer häufiger werdenden Regenschauern hüllte sich die Hauptstadt in einen Vorhang aus Regen und Smog. Ein tristes, trostlos wirkendes Bild, das jedem guten Londoner mehr als vertraut war.

Ein kalter Wind blies ihm ins Gesicht und ließ die schwarzen Haarsträhnen immer wieder ins Blickfeld seiner blauen Augen fallen. Die Böen stachen wie feine Nadelstiche in seine schweißnasse Haut und ließen seine Lungen vor Anstrengung brennen.

Aber Kyle Crowford sprintete weiter. Und das mit aller Kraft, die er bei seiner angeschlagenen Kondition aufbringen konnte.

Der schrille Pfiff einer Polizeipfeife hallte über die baufälligen Dächer und Backsteingebäude Sohos. Er dröhnte durch die verwinkelten Gassen des Londoner West Ends, unterbrach Gespräche und ließ Passanten innehalten.

Die heruntergekommenen Häuser, Läden und Stände der kleinen Händler des Einwandererviertels zogen an Kyle vorbei und verschwammen am Rande seines Blickfeldes zu verwischten Silhouetten. Die glatten Pflastersteine der Straße ließen das Trommeln seiner Schritte an den Hauswänden widerhallen. Keine zehn Fuß vor ihm stieß der Mann, den er verfolgte, zwei Geflügelkäfige in Kyles Weg. Die Passanten, die an diesem frühen Morgen unterwegs waren, schrien erschrocken auf, als sie zusammen mit dem aufgeschreckten Federvieh den hetzenden Männern auswichen.

Eine ältere Dame wurde von dem Flüchtigen unsanft zur Seite gestoßen, verlor das Gleichgewicht und landete in der Auslage eines Fischhändlers. Kisten verrutschten, Fisch und Eis verteilten sich auf der Straße. Kyle umkurvte im letzten Moment eine junge Frau mit einem Wäschekorb, taumelte um sie herum und bekam gerade noch genug Luft für ein atemloses „Verzeihung!".

In seiner Eile hatte er es jedoch versäumt, einem großen Schlagloch, in dem sich Regenwasser und Abfall gesammelt hatten, auszuweichen, und so trat er mit dem rechten Fuß geradewegs in den dicken Morast. Es platschte und Schlammspritzer verteilten sich auf seinem maßgeschneiderten Gehrock mit Futter aus indischer Seide. Kyle versuchte, nicht daran zu denken, dass der verdammte Dreck ihm gerade dazu auch noch die feinen Schuhe und die Stoffhose von Henry Poole & Co. ruiniert hatte.

Stattdessen starrte er keuchend auf den schäbigen Mantel des vor ihm flüchtenden Delinquenten, der wie eine Fahne hinter der Gestalt des schlaksigen Mannes hin und her flatterte. Dieser hatte nun einiges an Vorsprung gewonnen, und es lagen nun mehrere Yards zwischen ihnen. Der Flüchtling bog geschwind um eine Häuserecke und Kyle wäre beinahe in den Stand eines Gemüsehändlers gerutscht. Mit den Armen rudernd, gelang es dem jungen Magus gerade noch, die Kurve zu kriegen und den schlaksigen Mann langsam wieder einzuholen. Doch sein Atem ging nun stoßweise und schnell. Er würde nicht mehr lange durchhalten.

Wo zum Teufel nochmal war Archer?

Benjamin Archer, Militärarzt und Kyles Kompagnon, war irgendwo in eine der Seitengassen abgebogen, um dem Flüchtenden den Weg abzuschneiden. Doch stattdessen gewann der Mistkerl vor ihm immer mehr an Vorsprung!

„Aus dem Weg, Glotzbock!", brüllte dessen kratzige Stimme, während er den nächsten Passanten mit der Schulter erwischte und daraufhin ins Trudeln geriet.

Kyle wollte fluchen, aber dazu reichte die Puste nicht. Wenn er doch nur seinen Zauberstab benutzen könnte ...! Aber in der Gegenwart so vieler Zeugen war das Anwenden von Magie keine wirkliche Option.

Eine Sekunde hoffte der Magier, es würde den fliehenden Mistkerl auf sein dreckiges Mundwerk legen. Doch der räudige Hund taumelte nur, dann fand er sein Gleichgewicht wieder und stürmte an einer Weggabelung nach rechts zwischen einigen Häusern hindurch. Hier wurden die Gassen schmaler, Körbe und altes Gerümpel flankierten die ungepflasterte Straße.

„Stehen bleiben!", rief Kyle aus voller Kehle; bereute es jedoch sofort. Schwindel überkam ihn, der seine Sinne deutlich einschränkte. Seine Brust wurde eng und die Luft blieb ihm weg, sodass kurz schwarze Flecken vor seinen Augen tanzten.

Dann stürmte der Mann vor ihm an einem Haufen kaputten Gerümpels vorbei – und Kyle sah seine Chance gekommen. Ohne Rücksicht auf Verluste griff er in den aufgetürmten Müll und schleuderte das erstbeste Stück in Richtung des fliehenden Gauners.

Ein zerbrochener Zinneimer traf daraufhin mit einem metallischen Klirren den Rücken des Mannes, der instinktiv einen Blick über die Schulter warf. Für eine Sekunde erblickte Kyle ein hasserfülltes, fieses Grinsen voll gelber Zähne auf dem schmutzigen Gesicht.

Kyle spürte schon, wie brennende Frustration in ihm aufstieg. Da rannte der Flüchtende auch schon aufgrund seiner höhnischen Unachtsamkeit mit voller Wucht gegen ein Fass.

Der Schwung und die Wucht des Aufpralls warfen ihn zu Boden und Kyle hörte den Mistkerl vor Schmerz aufstöhnen. Seine Flucht war zu Ende und auch Kyle verlangsamte sein Tempo. Gierig sog er die Luft so tief wie möglich in seine Lungen.

„Ich sagte ...", er musste kurz hüsteln, „... stehen bleiben ...!" Ihm war durchaus bewusst, dass eine nachdrückliche Untermalung fehlte, die seiner Forderung die nötige Gravitas verliehen hätte. Eine autoritäre Position, einen Rang oder Vergleichbares! 'Stehen bleiben, Polizei!' hatte einfach viel mehr Überzeugungskraft. Aber er war eben kein Wachtmeister - und seine wahre Profession hätte wohl dem Flüchtigen nichts gesagt, geschweige denn, die Wirkung einer Exekutive gehabt.

„Sonst was?", blaffte O'Brien, der Mann, der zu Kyles Füßen im Schlamm lag, sich inzwischen wieder aufgerappelt hatte und von dem diktierenden Ton wenig beeindruckt schien.

Kyle öffnete gerade den Mund, um etwas zu sagen, als der Kerl ihn unvermittelt ansprang. Mit einem solchen Angriff und einer solchen Gegenwehr hatte Kyle nach einem solchen Sprint nicht mehr gerechnet. Schwielige Finger packten seinen feinen Mantel und rissen grob daran. Die Augen des Magiers weiteten sich und sein Puls raste, als eine Messerklinge im matten Sonnenlicht aufblitzte.

Instinktiv versuchte er, dem Angriff auszuweichen – doch O'Brien hielt ihn fest. Mit aufsteigender Panik umklammerten Kyles Finger das Handgelenk des Mannes, um das Messer von seinem mörderischen Ziel abzubringen. Aber er war O'Brien an Kraft deutlich unterlegen, seine Reflexe langsamer. Und bei Gott war Kyle erschöpft!

Die scharfe Klinge schnitt durch den Stoff, drang tief in sein Ziel und Kyle schrie auf. Blut sickerte in den Stoff des Mantels und färbte ihn augenblicklich dunkler. Ein brennender Schmerz pochte in seiner Taille und eine ekelhafte, allzu vertraute, feuchte Wärme breitete sich mit einem ziehenden Brennen an der Stelle aus.

„Argh, loslassen!", zischte Kyle.

„Gabh go hilfreann, englischer Schweinehund!"¹, blaffte O'Brien zurück.

Kyle zerrte an Ärmel und Arm des Mannes. Stoff riss, dann trat er mit dem Knie zu. Was immer Kyle traf; es brachte O'Brien zu Fall.

Unglücklicherweise hatte sich der Bastard jedoch so fest an ihn geklammert, dass er auch den jungen Magier mit sich riss. Harter, feuchter Boden empfing beide, als sie stürzten und raubte Kyle erneut die Luft. Die Männer wälzten sich in einem unübersichtlichen Knäuel und rollten mehr als einmal übereinander. Kyle Arme tasteten nach seinen Taschen, versuchten irgendwie an seinen Zauberstab zu kommen, als ihn plötzlich eine Faust mitten ins Gesicht traf.

Schwarze und weiße Flecken explodierten vor seinen Augen wie ein Feuerwerk. Es dauerte nur einen Wimpernschlag, dann drückte der schmierige Halunke seinen schlankeren Verfolger zu Boden und holte erneut mit dem Messer aus.

'Das war's!'

 Das war alles, an das Kyle in diesem Augenblick denken konnte. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er in die hässliche Fratze des verbrecherischen Iren. Die blitzende Klinge raste auf ihn zu, und sein sonst so klarer Verstand war mit einem Mal wie leer gefegt.

Da legte sich unvermittelt ein Schatten über sie beide und eine noch größere Gestalt riss O'Brien plötzlich von ihm herunter.

Kyle sah, wie Dr. Archers Faust ausholte und dann in das überraschte Gesicht des Gauners krachte. Der erste Schlag war so heftig und voller Wut, dass er O'Brien direkt von den Füßen riss. Doch Dr. Archer ließ nicht locker: Er packte den Iren am Kragen, zog ihn halb auf die Beine und schlug noch zweimal zu.

Mit einem Keuchen blieb er schließlich am Boden liegen, und der Doktor trat ihm auf den ausgestreckten Arm. „Loslassen!", fauchte der Soldat grimmig. Die zerschundenen Finger des Iren ließen die Klinge los und Dr. Archer trat sie außer Reichweite, bevor er sich eilig Kyle zuwandte.

„Scheiße nochmal... wo zum Teufel waren Sie?", stöhnte Kyle, während er sich unbeholfen aufrichtete und zischend die Luft einsog. Trotz der nicht unbeträchtlichen Schmerzen, an denen er gerade litt, schaffte er es, seinem Partner einen vorwurfsvollen Blick zuzuwerfen. Archer überragte Kyle mühelos um mehr als anderthalb Köpfe und war fast zwei Meter groß. Die Schultern waren breit, seine Hüften schmaler; seine Statur glich weniger der eines Doktors oder eines Lords, sondern vielmehr eines Ringers oder Boxkämpfers.

„Hat er Sie verletzt?", stieß der Doktor aus, ohne auf den Vorwurf einzugehen. Er schien kaum außer Atem zu sein. Nicht mal geschwitzt hatte er. Was für ein Aufschneider! Kräftige Hände packten Kyle an den Armen und zogen dessen hagere Gestalt zurück in eine halbwegs senkrechte Position.

Ein schmerzhaftes Stöhnen stieg in Kyles Kehle auf, bevor er es unterdrücken konnte. Auch wenn er sofort die Lippen aufeinanderpresste, schossen doch seine Finger instinktiv zu der frischen Stichwunde.

Dr. Archer war jedoch schneller. Er griff nach Kyles Hand, schob sie beiseite und griff selbst nach der Verletzung. Er schob den schweren Mantel beiseite, vergrößerte den Riss in der Brokatweste über dem Einstich und mit dem geübten Blick eines Mediziners glitten seine Augen über die Verwundung. „Nichts Lebensbedrohliches."

Stirnrunzelnd musterte Kyle den Doktor. Dessen schokoladenbraunes Haar, an den Seiten etwas kürzer geschnitten als das Deckhaar, war von der Verfolgungsjagd völlig zerzaust. In den grünen Augen des ehemaligen Militärarztes lag eine seltsame Mischung aus Sorge und Zorn, und seine Lippen unter dem akkurat gestutzten Dreitagebart kräuselten sich missbilligend.

Kyle könnte nur vermuten, weswegen der Doktor derart verärgert war. Zweifellos hatte es jedoch nichts mit seinem Grund der Empörung zu tun: Die körperlichen Wunden konnten schließlich verheilen, besonders, wenn der Doktor dabei half. Aber die importierte indische Seide seines Innenfutters war vollkommen ruiniert! Das war mehr als nur ärgerlich.

„Das müssen wir nähen. Darum kümmere ich mich später", sagte Dr. Archer, verwies auf die Stichverletzung und drückte Kyle kurz die Schulter.

In diesem Moment war hinter ihnen ein gequältes Stöhnen zu hören. O'Brien drehte sich zur Seite und schien langsam wieder zu sich zu kommen. Der Doktor machte auf dem Absatz kehrt und packte kurz darauf den immer noch leicht benommenen Schurken am Schlafittchen.

„Sie kommen mit uns. Und ich rate Ihnen, keine krummen Dinger mehr zu versuchen", knurrte Archer warnend.

O'Brien sah übel zugerichtet aus. Seine Lippe war aufgeplatzt und seine Nase hatte eine ungesunde Krümmung. Blut verschmierte den größten Teil des hässlichen, rattenhaften Gesichts und Kyle konnte nicht umhin, ein wenig Genugtuung zu empfinden.

Während Archer den Mann festhielt, griff der Magier nach der Umhängetasche des Gauners. Sie war durch die Verfolgungsjagd sichtlich in Mitleidenschaft gezogen worden. Das Leder war schmutzig und mit braunen Schlammflecken übersät.

„Finger weg!", zischte O'Brien und begann verzweifelt, um sich zu schlagen. Der Doktor reagierte schnell und verdrehte dem Mann mit einem groben Handgriff den Arm auf den Rücken. Der Ire verzog schmerzverzerrt das Gesicht.

„Sie haben doch nichts dagegen, wenn wir das mitnehmen?", sagte Kyle süffisant, hob die Tasche vor O'Briens Gesicht und erntete einen hasserfüllten Blick dafür.

„Das ist Diebstahl!"

„Schau an; ein Komiker!" Kyle lachte halbherzig und öffnete die Klappe der Tasche, ohne den Mann weiter zu beachten. „Was für eine Ironie, dass uns ein Hehler etwas über Diebstahl erzählt." Dabei warf er O'Brien für einen kurzen Moment einen eisigen Blick zu. Im Inneren befand sich eine größere silberne Schale, die mit allerlei Ornamenten und Zeichen verziert war. In einem Samttuch schimmerte ein Kelch, und eine Pergamentrolle enthielt eine Sammlung uralter Schriften, die den jungen Magus an Runen oder Keilschrift erinnerten.

„Wo ist der Rest?", fragte Kyle streng, aber O'Brien fletschte immer noch feindselig die Zähne, anstatt zu antworten.

„Euch Bullenschweinen sage nichts!", bellte er stattdessen, zog geräuschvoll die Nase hoch und spuckte Kyle vor die Füße, direkt neben die feinen Lederschuhe, die dank der kleinen Verfolgungsjagd endgültig hinüber waren. Kyle verzog das Gesicht in bodenlosem Ekel. Er machte sich jedoch nicht die Mühe, das Missverständnis bezüglich ihrer Profession aufzuklären. Sie hatten jetzt nicht die Zeit für solche Spielchen. Gleich würde es hier von tatsächlichen Beamten nur so wimmeln.

„Archer?"

Er musste nicht zweimal fragen. Dr. Archer holte kurz aus und rammte seine Faust mit voller Wucht in O'Briens Magen. Der Mann krümmte sich, würgte Galle und Speichel heraus, verdrehte die Augen und verlor das Bewusstsein.

„Erinnern Sie mich bitte daran, dass ich Sie niemals wirklich verärgere, Archer", murmelte Kyle zu Ben, und beinahe wäre ihm das leichte Lächeln entgangen, das sich in den Mundwinkeln des Doktors abzeichnete.

Kyle griff nach dem Revers des Mannes und tastete über den rauen, abgenutzten Stoff. Sein Atem ging dabei immer noch schwer. Dann endlich fand er die verborgene Innentasche und das, was sie gesucht hatten. Das graue Londoner Tageslicht glitt über die Oberfläche eines unebenen, pflaumengroßen Steins, in dessen Mitte sich ein sauberes Loch befand. Okkulte Gravuren verzierten das Artefakt mit verschnörkelten Mustern.

„Ein Gloine nan Druidh", murmelte Kyle und warf dem bewusstlosen Iren einen kurzen Blick zu. „Ein Druidenglas", übersetzte er für Dr. Archer, der von solchen Dingen weit weniger Ahnung hatte. Dann öffnete er O'Briens Mantel weiter und zog als Erstes einen länglichen Eichenstab hervor, in den nordische Runen eingraviert waren. Dann folgte eine goldene Brosche, die der Magier vorsichtig in sein Taschentuch steckte. Das Diebesgut in der Umhängetasche war nichts als okkulter oder esoterischer Plunder, den der Hehler zu überhöhten Preisen an unwissende Narren verkaufte. Diese Dinge hier aber war etwas ganz Anderes.

In diesem Moment ertönte wieder der schrille Ton der Polizeipfeifen.

Kyle blickte in die Richtung, aus der sich eilige Schritte näherten.

„Nun, wir haben, was wir gesucht haben. Ich denke, es wird Zeit, zu verschwinden."

¹ Irisch: Gabh go hilfreann - Fahr zur Hölle





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