Kapitel 56
Rhana wusste nicht, wie lange sie so gesessen und einfach nur stumm geweint hat, als Schritte erklangen. »Jetzt mach doch mal langsam«, meckerte Idris, auch wenn er nicht wirklich verärgert, sondern eher überfordert klang.
Rhana sah jedoch nicht auf, sonst hätte sie bemerkt, dass Kaza es war, die an seiner Hose zog, damit er ihr folgte.
Sie hörte jedoch den Moment, in dem er Rhana entdeckte, stehenblieb und nach Luft schnappte. »Rhana«, brachte er hervor, bevor er losrannte und direkt vor ihr innehielt, um sich zu ihr zu hocken. »Rhana. Was ist los? Bist du verletzt?«, wollte er wissen und zog vorsichtig ihre Arme zur Seite, damit er sie mustern konnte.
Rhana blickte auf, doch durch den Tränenschleier konnte sie kaum etwas erkennen.
Idris schnappte nach Luft und strich ihr die Nässe aus dem Gesicht, auch wenn es nicht viel half. »Was ist passiert?«, fragte er, doch Rhana brachte kein Wort hervor.
Wie sollte sie ihm auch erzählen, was ihr auf der Seele lag? Das waren ihre privaten Probleme und damit sollte sie Idris nicht belasten.
Trotzdem öffnete sie den Mund, doch nur ein Schluchzen verließ diesen.
Sofort zog Idris sie an sich und nahm sie fest in den Arm. Seine Hand fuhr beruhigend über ihren Rücken. »Schon gut«, flüsterte er in dem Versuch, sie etwas zu beruhigen. »Wurdest du angegriffen? War es die Brücke, die dir Angst gemacht hat?«, fragte er trotzdem weiter, während er sie sanft in seinen Arme wiegte.
Rhana schüttelte leicht den Kopf. Wenigstens diese Angst wollte sie ihm nehmen. Sie war nicht verletzt.
Idris biss sich auf die Lippe, bevor er umher sah. Für einen Moment glaubte Rhana, dass er nach der Direktorin rief, doch dann hob er sie einfach hoch. Sanft und vorsichtig, als wäre sie ein Baby. »Ich bring dich in dein Zimmer«, sagte er, doch Rhana schüttelte heftig den Kopf. Sie wollte nicht in ihr Zimmer, dort würde Lewin sie nur zu leicht finden. Sie glaubte nicht, dass Lirs Verbot ihn aufhalten würde. Wenn er wollte, würde er Rhana dort finden und wenn sie mit Idris dort war ... Lewin würde ausrasten.
Idris sah sie an und runzelte die Stirn. »Dann ... bring ich dich zu mir«, bot er ein wenig unschlüssig an, wobei er sie fragend anblickte.
Rhana war überrascht darüber und nickte. Sie wusste selbst nicht wo Idris dein Zimmer hatte, weshalb sie davon ausging, dass auch Lewin es nicht wissen würde.
Idris drehte sich mit Rhana auf dem Arm um und lief Richtung Zimmer der Direktorin, aber daran vorbei.
Das hier musste so etwas wie der Familienflügel sein. Vermutlich war die Brücke noch einmal eine Art extra Schutz.
Rhana erwartete in der Nähe Türen, doch eine lange Zeit kam nichts, bis sie in einer riesigen Höhle standen.
Von den Decken und Wänden wuchsen Kristalle in den unterschiedlichsten Farben, welche einen sanften Schein erschufen.
Rhana schniefte zwar leise, war aber so gefesselt von dem Anblick, der sich ihr bot, dass sie für einen Moment vergaß, was vorgefallen war.
Ein frischer, leicht erdiger Geruch trat ihr in die Nase und sorgte für ein schwereloses, angenehmes Gefühl.
Die weitläufige Höhle schimmerte in einer hypnotischen Pracht, denn überall gab es unzählige, funkelnde Kristalle. Ein Farbenspiel aus tiefem Blau, strahlendem Weiß, leuchtendem Grün und hypnotisierendem Gold breitete sich in der Höhle aus.
Schillernde Muster tanzten durch den Raum, während Idris mit ihr weiter eintrat.
Rhana wusste nicht, wo sie zuerst hinsehen sollte. Es gab so viel zu entdecken.
Es gab mehrere erhöhte Punkte, einen schillernden See und einige Ecken, die eher in Schatten lagen, Rhana dadurch aber noch mehr faszinierten.
Je weiter Idris eintrat, desto deutlicher hörte Rhana ein sanftes Klingen. Als würden die Kristalle untereinander eine Melodie formen, die sich beruhigend auf ihr Gemüt legte.
Der Boden der Höhle war mit einem weichen Moos bedeckt, das Idris Schritte förmlich schluckte und so die Melodie nicht störte.
An den Wänden erkannte Rhana ab und an kleine, ebenfalls leuchtende Pilze.
Fast hatte Rhana das Gefühl, ein lebendiges, atmendes Wesen zu betreten. »Ist das die Höhle von Freya?«, fragte sie, denn die Drachen besaßen immerhin eine Höhle vor den Zimmern ihrer Menschen. Oder eher die Menschen besaßen Zimmer neben den Höhlen.
Idris lachte leise. »Nein«, hauchte er, als würde er die Melodie nicht stören wollen. Allerdings blieb er Rhana eine Antwort schuldig, die verstand, dass er nicht darüber sprechen wollte.
Rhana, welche die Ruhe der Höhle gern empfing und in sich aufnahm, beruhigte sich wieder etwas. Jetzt spürte sie die Erschöpfung und Müdigkeit in sich aufsteigen, während Idris starke Arme ihr das Gefühl gaben, sie wäre in Sicherheit.
Idris schritt weiter durch die Höhle und auf eine Tür zu, die aus Kristall gefertigt war. Sie sah wunderschön aus und passte gar nicht richtig in die Höhle. So etwas Elegantes hätte Rhana eher in einem Adelshaus wie dem von Königin Suna erwartet.
Je näher sie kamen, desto deutlicher wurde, dass die Tür aus Kristallen geschaffen war. Sie hatte große Ähnlichkeit mit dem Kristall, den Idris ihr geschenkt hatte. Der, der die Form von Kaza hatte.
Die kleine Drachin stolperte im Moment hinter Idris her und sah sich genauso fasziniert um, wie Rhana.
Diese bekam sofort ein schlechtes Gewissen. Es war Kaza zu verdanken, dass Idris sie gefunden hatte. Wäre Idris nicht gekommen, wusste Rhana nicht, was sie getan hätte. Die Sache mit Lewin belastete sie sehr.
»Danke, dass du für mich da bist«, flüsterte sie.
Nachdem sie ihr ganzes Leben hinter sich gelassen hatte, um auf diese Schule zu gehen, gab es kaum jemand, der ihr besonders nahe stand. Lediglich Idris war ein Freund geworden. Sie hatte hier niemanden sonst.
Idris blieb stehen und blickte zu Rhana hinab, die noch immer in seinen Armen lang. »Natürlich«, sagte er, als wüsste er nicht, wofür sie sich bedankte.
Rhana kuschelte sich näher an Idris, dessen Wärme und Duft sie nur noch mehr beruhigte. Am liebsten würde sie diesen nie wieder missen, doch sie verstand ihre Gefühle nicht ganz.
Schließlich blieb Idris stehen und schob mit dem Fuß vorsichtig die kristallene Tür auf.
Rhana hielt die Luft an, während sie versuchte, nicht zu blinzeln. Sie wollte alles wahrnehmen, was sie hier erwartete.
Der Flur selbst war in ein sanftes, buntes Licht getaucht und trotzdem erkannte sie die Gemälde an den Wänden. Es waren keine Bilder, sondern die Wände selbst waren bemalt. Mit Farben, die im Licht der magischen Kristalle, welche den Boden zierten, zu schimmern schienen. Manchmal fragte sich Rhana, ob nicht sogar echtes Gold und Diamanten im Spiel waren.
Rhana bemerkte die vielen Türen, die von dem Tunnel abgingen. Einige waren sogar geöffnet, sodass sie einen kurzen Blick hineinwerfen konnte. Dabei entdeckte sie einen riesigen Speisesaal und eine gemütlich wirkende Wohnstube.
Sie musste recht in ihrer Annahme haben, dass es sich hier um den Familienflügel handelte. Aber warum sollte Idris Familie einen großen Speisesaal besitzen?
Auf dem Fest hatte er sich als Raenac-Naytan vorgestellt. Das hieß, er war adlig. Damit waren es seine Eltern auch.
Wer wohl Nae und Lirs Eltern waren, dass sie einen Doppelnamen hatten? Von welchem Familienzweig kam dieser überhaupt?
Rhana bemerkte, wie sich die Fragen über Idris Herkunft in ihr breit machten.
Schließlich betrat er eine Höhle, die einen angenehmen Duft nach Gewürzen verströmte. Ein wenig erinnerten sie Rhana an ihre Heimat, doch da war noch etwas anderes. Etwas Exotischeres.
Sie konnte Zimt, Kardamom und Muskat ausmachen. Es schwebte in der Luft, sodass sich Rhana eingeladen fühlte. Fast wie in einer kleinen Bäckerei. Allerdings stellte sie bald fest, dass der Geruch aus einem kleinen Räuchergefäß kam. Das kleine, aus verziertem Metall geschmiedete Gefäß schickte feine Rauchfäden an die Decke, welche zu tanzen schienen.
Rhana sah sich um und ihre Augen weiteten sich, als sie das riesige Bett in der Mitte des Raumes entdeckte. Es war viel größer als für einen normalen Menschen. So opulent und mit reichen Stoffen verziert, dass es Rhanas Meinung eher in ein Schloss und nicht in eine Höhle gehörte. Mit nur einem Blick erkannte sie den Preis der Stoffe, die mit feinen Goldfäden verziert waren. Unbezahlbar.
Die großen Kissen, die üppig auf dem Bett verteilt waren, strahlten in vielen bunten Farben, sodass sie fast wie Edelsteine aussahen. Generell würde Rhana diesen Raum als Schatzkammer eines Drachens betiteln. So kannte sie es aus Märchen.
Selbst die Wände der Höhle waren mit schweren Tüchern verhangen, die aus feinsten Stoffen bestanden. Sie waren verziert mit allerlei Szenen. Detailliert und künstlerisch auf einem Niveau, dass Rhana sich nicht vorstellen konnte, wie lange es gedauert haben musste, sie zu besticken.
Langsam setzte Idris Rhana ab, die sich die Schuhe von den Füßen streifte. Die dicken Teppiche am Boden waren einfach zu fein, um sie mit ihrem Dreck zu beflecken. Das würde man nie wieder reinigen können.
Idris lachte leise, half ihr aber, ihre Schuhe auszuziehen. »Komm«, sagte er sanft und führte sie zu seinem Bett. »Du kannst dich hinlegen und etwas ausruhen. Ich mache dir einen Tee«, bot er an, während er an Rhanas Seite blieb.
Diese wankte etwas, denn die Erschöpfung saß ihr in den Knochen. Zudem schmerzte ihr Kopf immer mehr, was vermutlich daran lag, dass sie zu viel geweint hatte.
Idris führte sie zum Bett, wo sich Rhana setzte. Sie versank ein Stück in der Matratze und spürte das Bedürfnis, sich darauf fallen zu lassen.
Niemals hätte sie geglaubt, dass Idris sie in sein Zimmer einlud oder dass es so aussehen würde.
»Du brauchst eine kleine Stärkung«, entschied er und trat auf eine Kommode zu. Diese war bedeckt mit kleinen Schalen in denen allerlei Trockenfrüchte zu finden waren. Darunter auch Datteln, wie Rhana erkannte.
Idris nahm diese und brachte sie Rhana.
Nur zögerlich griff Rhana danach und biss in die weiche Frucht. Sie war getrocknet und ein klein wenig mit Honig gesüßt, sodass der Geschmack sich wie ein Feuerwerk in ihrem Mund ausbreitete.
Ihr Blick blieb jedoch weiter auf Idris hängen, der zu einem kleinen, niedrigen Tisch ging. Dort stand eine Vorrichtung auf der eine Karaffe mit Wasser stand. Dieses dampfte bereits, als hätte Idris erwartet, gleich einen Tee servieren zu müssen.
Die Tassen, die er nutzte, waren so fein gearbeitet, dass Rhana sich kaum traute, diese zu berühren. So edles Porzellan hatte sie noch nie gesehen.
Das Besondere an diesem Raum war jedoch, dass er Idris gehörte. Und dieser bewegte sich in ihm, als wäre nichts dabei.
»Sammelst du ...«, setzte sie an, bevor sie sich ermahnen konnte, die Frage nicht so plump zu formulieren.
Idris reichte ihr die dampfende Tasse Minztee und lachte leise. »Unsere Familie sammelt alles Mögliche«, stimmte er zu und fuhr sich peinlich berührt durch die Haare. »Man könnte sagen wir haben eine Schwäche für alles, was glänzt«, gab er zu, was Rhana lediglich nicken ließ. So hätte sie es nicht formuliert, war aber vermutlich trotzdem eine Art zu sagen, dass sie Reichtümer horteten.
»Du hast wirklich einen Blick für Qualität«, bemerkte Rhana, die nicht genau wusste, was sie sonst dazu sagen sollte. Ihr Händlerherz schlug höher und sie fragte sich, woher Idris die ganzen Sachen hatte. Hatte er sie selbst gekauft oder waren sie geerbt?
Dann entdeckte sie ein Bild in einem goldenen Rahmen auf dem Nachttisch.
Es war Idris, der von zwei Personen umgeben war. Sie hielten sich in den Armen wie gute Freunde.
Sie erhob sich und trat darauf zu. Dass sie gerade in Idris Privatsphäre schnupperte, kam ihr nicht in den Sinn. Dazu war sie zu gefesselt von der Frau, die grinste.
Langsam griff Rhana danach, doch bevor sie das Bild berühren konnte, nahm Idris es und schob es in eine Schublade. »Freunde von mir«, sagte er ausweichend und irgendwie, als wäre es ihm peinlich.
Rhanas Herz schlug heftig in ihrer Brust, während sie sich die Frau ins Gedächtnis rief. Es vermischte sich mit einer Erinnerung aus ihrer Kindheit.
Die wunderschönen schwarzen Haare und die intensiven Augen ihrer Mutter ließen Tränen in ihr aufsteigen und sie wollte unbedingt nachsehen, ob die Frau auf dem Bild ihr wirklich so ähnlich war, wie sie es in diesem Moment gesehen hatte.
Vielleicht täuschte sie sich, denn ihre Mutter war vor vielen Jahren verschwunden. Sie konnte nicht so strahlend neben einem Idris stehen, der auf dem Bild kein Jahr älter aussah als jetzt.
Rhana war sich sicher, sich geirrt und sich das nur eingebildet zu haben, doch sie konnte nicht nachsehen.
Obwohl es sie unruhig machte, akzeptierte sie Idris stumme Bitte, denn in seiner Stimme schwang eindeutig Trauer mit.
Sie konnte nur raten, doch entweder war die Freundschaft vorbei oder die Freunde ... nicht mehr in dieser Welt.
Rhana wollte keine alten Wunden aufreißen, also setzte sie sich zurück und widmete sich ihrem Tee.
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