Kapitel 39
Als Rhana in die kleine Höhle trat, die heute ihr Unterrichtsraum sein würde, dachte sie noch immer an Lewins Worte. Konnte sie ihm glauben? Eigentlich kannte sie weder Lewin noch Idris recht gut. Obwohl sie mit Lewin schon lange verlobt war und ihn kannte, seitdem er ein Kind war, konnte sie ihre gemeinsamen Tage doch fast an einer Hand abzählen.
Am liebsten wäre ihr, wenn Ruonir hier wäre. Er hätte ihr mit Sicherheit helfen können und ihm würde sie vertrauen.
Frustriert stieß sie den Atem aus und sah sich dann um.
Es gab keine Tische oder Stühle. Lediglich zwei Kissen in der Mitte des Raumes. Dort saß Idris, der ihr deutete, sich zu ihm zu setzen.
Rhana sah sich noch einmal unschlüssig um, bevor sie auf das Kissen ging und sich darauf niederließ. Für sie war das eine sehr irritierende Wahl.
»Leg dein Artefakt zwischen uns«, wies Idris sie an, kaum, dass sie sich hingesetzt hatte.
Überrascht sah Rhana ihn an, bevor sie die Haarnadel, die sie eigentlich immer trug, aus ihren Haaren zog und langsam in die Mitte legte.
Idris beobachtete Rhanas Bewegungen und blickte dann auf die Nadel. Das Bronze der Nadel wurde von konstantem blauem Schimmer erleuchtet, das von den Blütenblättern der Blume ausging.
Idris griff nach der Haarnadel, nahm sie jedoch nicht hoch, sondern fuhr mit den Fingern über das kühle Metall.
»Das ist ein Artefakt, das wirklich gut zu dir passt«, bemerkte er, was Rhana nicht ganz nachvollziehen konnte. Ging es darum, dass die Haarnadel ihr stand oder was genau meinte er damit?
»Danke. Aber was kann sie?«, wollte Rhana wissen. Dadurch, dass Lewin ihr so viel über sein Artefakt erzählt hatte, war sie nun wirklich neugierig. Bisher hatte sie die Nadel einfach eher ignoriert, weil sie diese als nicht mehr als ein schönes Accessoire angesehen hatte.
»Sie ist in der Lage Energie zu absorbieren und wieder abzugehen«, erklärte Idris, der sie nun packte und zwischen seinen beiden Fingern hielt. »Diese Blume ist Teil eines sehr alten Artefaktes, das schon nicht mehr existiert«, erklärte er und zeigte auf die blau schimmernden Blütenblätter. »Dieses Blau ist ein Zeichen von Magie. Wenn die Blume vollständig leuchtet, ist die Nadel voll.«
Rhana runzelte die Stirn. Als sie die Nadel das erste Mal in der Hand gehalten hatte, war der blaue Schimmer wirklich sehr schwach gewesen. Sie erinnerte sich an den Moment auf dem Hügel zurück, als sie sich so schwach gefühlt hatte. Kurz bevor Kaza sie gefunden hatte. »Oh«, gab sie von sich, als ihr etwas klar wurde. »Sie kann über Blut auch die Energie von Menschen aufnehmen, oder?«, fragte sie atemlos, denn das würde ihre Erschöpfung erklären.
Idris blickte sie überrascht an. »Ja, das kann sie. Aber woher weißt du das?«, wollte er wissen, während er sie besorgt musterte.
Rhana lächelte schief. »Ich habe mich damit versehentlich gestochen«, gab sie zu, doch ihr war das so peinlich, dass sie seinen Blick mied.
Idris nahm ihre Hände und wirkte auf einmal richtig panisch. »Wann? Zeig her. Das kann gefährlich werden«, sagte er und besah sich ihre Hände, als würde er nach Verletzungen suchen.
»Das war noch, bevor ich Kaza gefunden habe«, sagte sie und schaffte es noch immer nicht, ihn anzusehen. Er klang, als würde er sich wirklich Sorgen machen. Eine Tatsache, die dafür sorgte, dass sie Lewins Worte als noch unglaubwürdiger erachtete. Idris würde ihr sicher nichts tun.
Idris schnalzte mit der Zunge. »Sollte so etwas noch einmal passieren, sag mir sofort Bescheid«, befahl er regelrecht. »Und nutzte sie nicht allein.«
Rhana war ein wenig überfordert, nickte aber. Was sollte sie sonst tun? Ihm sagen, dass sie vermutlich gar nicht in der Lage sein würde, zu sprechen, wenn sie sich erneut stach? Immerhin war sie das letzte Mal regelrecht zusammengebrochen.
»Dann bring mir bei, wie ich sie richtig zu nutzen habe«, bat sie, denn im Moment wusste sie zwar, was die Haarnadel konnte, doch nicht, wie sie diese richtig einzusetzen hatte.
»Deshalb bist du hier«, erwiderte Idris, der nun wieder zu der Nadel griff. Dann streckte er die andere Hand zu einer kleinen Kiste aus, die schräg hinter ihm stand. Diese war Rhana nicht aufgefallen, da sie eher unscheinbar aussah und teilweise hinter Idris versteckt lag.
Rhana beobachtete ihn genau und war schockiert, als er einen Frosch herauszog. Kein Stofftier, sondern einen echten, lebenden Frosch, der jedoch in seiner Hand erstarrte.
»Du musst die Nadel zuerst mit Magie aufladen«, erklärte er und führte diese an den Frosch.
Rhana blieb der Atem weg. Am liebsten hätte sie nicht hingesehen, doch irgendwie konnte sie auch nicht den Blick abwenden. Wenn es sie schon so umgehauen hatte, was würde dann mit dem armen Frosch passieren?
Als Idris die Blume auf den Frosch drückte, rechnete Rhana damit, dass seine Lebenskraft in die Blume gesaugt wurde und das Tier austrocknete, doch nichts davon war der Fall. Eigentlich geschah nichts. »Lebewesen mit einem Bewusstsein haben eine natürliche Barriere«, erklärte Idris mit einem Lächeln. »Es ist also nicht einfach, ihre Magie zu nutzen.«
Rhana spürte Erleichterung in sich aufsteigen. Sie konnte also niemanden verletzen. Das war gut.
»Wenn das so nicht geht, wie kann ich es dann aufladen?«, fragte Rhana, die nun immer aufgeregter wurde.
Idris wandte sich erneut um und holte einen kleinen Topf mit einer Pflanze hervor. »Versuch es mit dieser«, wies er sie an und reichte Rhana die Haarnadel.
Nur zögernd griff Rhana danach und musterte dann die Pflanze. Irgendwie fühlte sie sich unwohl damit, doch sie musste wissen, was ihr Artefakt konnte.
Rhanas Hände zitterten, als sie die Haarnadel in Richtung Pflanze ausstreckte und diese berührte. Es dauerte einen kleinen Moment, bis etwas geschah, doch dieses Mal konnte Rhana zusehen, wie die Pflanze welkte. In sekundenschnelle.
Ihr Herz klopfte heftig und sie stieß einen überraschten Schrei aus. Was würde geschehen, wenn sie die Nadel fallenließ? Würde sie sämtliche Pflanzen in der Umgebung aufsaugen?
Idris griff nach ihrer Hand. »Schon gut«, sagte er sanft. Er schien ihre Angst und ihren inneren Konflikt irgendwie zu registrieren.
»Aber ... aber«, stammelte Rhana, die nicht wusste, wie sie damit umgehen sollte.
»Solange du die Nadel nicht aktiv hältst, wird sie nicht aktiviert«, beschwichtigte Idris, als wüsste sie, was ihr durch den Kopf ging.
Verständnislos blickte sie ihn an. Dann legte Idris ihr eine Hand auf den Kopf, als wolle er sie mit dieser Geste beruhigen. »Es wirkt jetzt vielleicht gefährlich, aber das ist es nicht«, versicherte er sanft. »Probieren wir sie weiter aus, dann wirst du es schon sehen.«
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