Endliche Ewigkeit
Auf allen vieren krabbelte er zum Display, um das Bild besser zu erkennen. Durch den Sprung im Glas war es leider immer etwas verzerrt. Jedoch sah er sich unzweifelhaft selbst in der Szene. Trotz des eindeutigen Zeitstempels, der behauptete, dass der Stream in diesem Moment live übertragen wurde.
„Was zum Teufel soll das?", murmelte er und zog das Standbild mit den Fingern größer.
Das war kein Fake. Er erinnerte sich an die Szene. Es war vor gut einem viertel Jahr zu Kims Geburtstag als er ihm aus einer dicken Schraube, vier Muttern und etwas Draht ein kleines Spielzeugauto gebastelt hatte. Mit einem Tippen ließ er das „Live-Bild" weiterlaufen. Und tatsächlich: Sein damaliges Ebenbild holte das Geschenk hinter dem Rücken hervor und wurde mit einem laut gekrähten „Anke, Papaaa!" belohnt. Ein dicker Kloß bildete sich bei der Erinnerung in seinem Hals.
„Verflucht, Cathrine", meinte er halberstickt und versuchte, sich zu sammeln. „Das ist echt, aber bereits ein halbes Jahr her. Warum zeigen die das als heutigen Live-Stream?"
Seine Kameradin setzte sich neben ihn und betrachtete die Bilder. „Hm ... Weil es gerade nichts Interessanteres gibt? Die Zuschauer merken doch eh keinen Unterschied."
„Quatsch. Die zeigen in den Livesendungen den ganzen Tag nur Alltagsszenen. Langweiliger geht ja wohl kaum. Warte ..." Mit den Fingern scrollte er durch die anderen Streams und spulte das Gezeigte ein paar Stunden zurück bis zu den frühen Morgenstunden. Weiter war nicht möglich.
„Hier", mit dem Zeigefinger deutete er auf die Ankunft einer Truppe kleiner Mädchen im Erziehungstrakt. „Das ist Emily. Sie hat immer mit Kim gespielt. Ihre Eltern mussten ihr vor ein paar Wochen die Haare abschneiden, da sie Läuse hatte. Aber siehst du: Hier sind sie noch lang."
„Stimmt. Daran kann ich mich erinnern. Ich hatte ihr zum Trost in der Kantine eine Extraportion Pudding ausgegeben. Das sind alles Wiederholungen." Sie kaute auf ihrer Lippe und schien intensiv nachzudenken. „Dann haben sie entweder technische Probleme ..."
„... oder es geschieht etwas im Bunker, das sie nicht zeigen wollen", vollendete er ihren Gedanken und sein Herz machte einen Sprung. „Meinst du, es ist doch noch zur Revolution gekommen? Das wäre fantastisch!"
„Möglich. Aber wenn da die Kacke am Dampfen ist, kann das auch schnell nach hinten losgehen." Sie lenkte erneut seine Aufmerksamkeit auf den Bildschirm. „Hol das Fenster mal nach vorne, der Lackaffe scheint eine Ankündigung machen zu wollen."
Damit zog er es in die Breite und erhöhte die Lautstärke. James Browdy zeigte wie immer sein strahlend weißes Haifischlächeln, das nie die Augen erreichte. Er stand wie üblich im virtuellen Studio mit einer Fülle laufender Bunkerszenen im Hintergrund.
„Hey, meine Freunde! Ich habe heute eine gigantische Ankündigung zu machen. Die größte in den letzten 100 Jahren. Sie treibt mir gleichzeitig Tränen der Freude und der Trauer in die Augen." Damit tat er so, als wische er sie weg. „Was ihr aktuell seht, ist die letzte Staffel der Bunkerstreams. Ja – ihr habt richtig gehört."
Er legte eine theatralische Pause ein und die Kamera zoomte auf sein geschminktes Gesicht. „In drei Monaten endet die 100-jährige Erfolgsgeschichte dieses in der Menschheitsgeschichte einmaligen sozialen Experiments. Das ist traurig für euch, da ihr mit den tapferen Familien im Bunker aufgewachsen seid. Gleichzeitig ist es großartig für die Einwohner, da wir ihnen eröffnen können, dass sie in unserer friedvollen Welt, sorgenfrei und in Freiheit weiterleben werden."
Es ging wieder in die Totale und das Datum „31. März" sowie ein entsprechender Countdown ab heute wurden eingeblendet. „Wir werden in einer großen Zeremonie alle verbleibenden Einwohner hinausbegleiten und mit ihnen gemeinsam nach Kuba fliegen – genauso wie auch mit den bisherigen Entlassenen. Also, Freunde, streicht euch das Datum rot im Kalender an und genießt die letzten Wochen mit den Bunkerfamilien. Damit kommen wir zu den heutigen Highlights ..."
„Scheiße", entfuhr es Cathrine. „Das ist ganz sicher kein Zufall. Ich möchte Wetten, die haben da drin alle festgesetzt, getötet oder sonst was."
„Getötet?!" Er starrte sie entgeistert an.
„Nein, entschuldige. Ich sollte den Teufel nicht an die Wand malen. Wahrscheinlicher ist, dass man sie überwältigt hat und die nächsten Monate nutzt, um alles für diese Evakuierung vorzubereiten. Ansonsten hätten die eine andere Ausrede gefunden. Ein großes Feuer, ein Gasleck oder so."
„Wie kannst du so ruhig darüber reden!", schrie er und sprang auf. „Da sind auch deine Freunde drin. Sie schweben in höchster Gefahr! Wir müssen sie dort rausholen. Sofort!"
„Melvin", ausnahmsweise war sie es, die den kühlen Kopf behielt und nicht direkt auf 180 ging. „Wenn wir das könnten, hätten wir das längst gemacht. Gefahr hin oder her. Die Frage ist, ob sie wirklich entlassen werden oder es nur eine weitere Lüge ist."
„Das ist doch klar: Es ist gelogen. Ansonsten müssten die keine drei Monate warten und solange Wiederholungen zeigen. Sie könnten sofort damit beginnen, alle freizulassen." Für ihn stellte sich diese Frage nicht. „Und selbst, falls es wahr sein sollte: Wir haben immer noch nicht herausgefunden, was mit unseren Eltern und Freunden passiert ist, die vor uns entlassen wurden. Angeblich führen sie auf Kuba ein sorgenfreies Leben. Nur, dass wir über die öffentlichen Netzwerke dort niemanden erreichen können."
„Wohl war. Wer weiß", sie zuckte mit den Achseln, „vielleicht war deine ursprüngliche Theorie mit dem Benutzen der Körper bzw. dem Überschreiben des Gehirns durch die Persönlichkeiten anderer Menschen, doch näher an der Wahrheit, als uns damals Henry und dieser Browdy Glauben lassen wollten."
Darüber hatten sie bereits stundenlang ergebnislos spekuliert. Die Entlassenen waren nicht aufzufinden und wurden laut der Sendung nach Kuba ausgeflogen, wo sie gemeinsam mit den anderen Schönen und Reichen dieses Landes ein sorgenfreies Leben führten. Praktischerweise war es für einen Normalbürger nahezu unmöglich, auf diese paradiesische Insel zu reisen. Und die Medien hatten offenbar kein Interesse daran, der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Was steckte dahinter? Wollte man die Entlassenen einfach aus dem Weg haben, damit sie nicht auf die Idee kamen, ihre Freunde und Familien zu befreien – so wie sie es planten? Oder war das eine weitere Lüge? Eine zufriedenstellende Antwort hatten sie nicht gefunden.
„Auf jeden Fall brauchen wir mehr Kohle", meinte Cathrine. „Sehr viel mehr. Und zwar schleunigst. Eine schlagkräftige Söldner-Truppe zu engagieren, um ein großes Loch in den Fake-Bunker zu blasen, kostet mindestens 50.000. Die bekommen wir mit den lausigen Kämpfen in den nächsten Wochen nie zusammen. Und auf andere Kämpfer zu Wetten, wäre ein reines Glückspiel. Damit steckt man schneller bis zum Hals in der Kacke, als Boulder Scheine zählen kann."
Da konnte er nicht widersprechen. Ihre Vorbereitungszeit hatte sich gerade auf maximal drei Monate reduziert. Der Countdown vor ihm zählte unerbittlich die wenigen verbleibenden Tage. Aber wenn er daran dachte, dass in diesem Augenblick möglicherweise in den Gängen ihres Bunkers gekämpft wurde oder Spezialtrupps der Polizei hindurchstürmten ... da wurde ihm ganz anders. Sie mussten handeln und dafür war er bereit deutlich größere Risiken einzugehen als in den Kämpfen in der Arena.
„Ich spreche mit Boulder", beschloss er. „Der hat sicher gute Verbindungen und kann uns eventuell einen Job vermitteln, der massiv mehr bringt."
„Wenn das so einfach wäre, würde das jeder machen", gab sie zu bedenken.
„Schon, aber er kennt inzwischen unsere Kampfqualitäten."
„Wie du meinst." Überzeugt klang anders. „Ich werfe mir kurz was über und komme mit. Die fette Schnecke ist bestimmt noch unten."
Eine Viertelstunde später standen sie erneut auf der Balustrade über dem Käfig, während sich zwei Kerle unter lautem Gejohle der Zuschauer die Schädel einschlugen.
„Einen Job?" Boulders Schweinsäuglein musterten insbesondere Cathrine von oben bis unten.
„Nicht sooo einen", warf Melvin ein und zog die Aufmerksamkeit auf sich. „Gerne etwas Handfesteres. Wir sind ausgebildete Soldaten. Du hast gesehen, was wir in der Arena können. Wir tragen keinerlei Cybertech in uns. Wirklich nichts. Außerdem kennt uns hier in den Shadows niemand. Wir sind erst vor zwei Wochen in Emerald angekommen und man findet uns in keiner Datenbank. Wir sind quasi unbeschriebene Blätter."
Nun, das stimmte nicht ganz. Aber er spekulierte darauf, dass der Mann nicht zu den regelmäßigen Zuschauern des Bunkerstreams zählte. Und sich nicht dafür interessierte, dass er von der Polizei als Mörder gesucht wurde.
„Hm ..." Boulders beringte Finger strichen über das Doppelkinn. „Quasi jungfräuliche Elite-Kämpfer? Und ihr wollt ordentlich was verdienen – egal womit?"
„Na ja, so ganz egal vielleicht auch nicht ..."
„Ein Chummer von mir", er ließ ihn nicht ausreden und ignorierte den Einwand, „plant schon seit Längerem ein großes Ding. Hat sich aber bisher nicht herangetraut, weil seine eigenen Leute deutlich ... verbrauchter ... sind als ihr. Ich gebe euch die Adresse und warne sie vor, damit die euch nicht direkt abknallen."
„Das klingt ..."
„Und", unterbrach der Dicke ihn erneut mit erhobenem Zeigefinger, „ich bekomme 20 % von eurem Verdienst. Egal, was ihr mit denen ausmacht. Keine Diskussion. Eine bessere Chance bekommt ihr nicht. Haben wir einen Deal?"
Jetzt war es Cathrine, die sich einmischte: „Nein! Ich gebe dir doch nicht ..."
„Deal", Melvin streckte seine Hand aus und Boulder schlug ein.
„Und was ist mit dir?", wandte er sich an seine Kameradin. „Bist du auch dabei?"
„Ich ... Was für eine Scheiße. Ja ... Deal." Auch sie schlug ein. Am gequälten Gesichtsausdruck des Glatzkopfes war deutlich zu erkennen, dass sie mehr Kraft in den Händedruck legte als nötig.
Zum Schluss erläuterte er ihnen den Weg.
★★★
Inzwischen war es nach Mitternacht und ein eiskalter Nieselregen ließ seine Kleidung auf der Haut kleben. Dicke Tropfen fielen träge vom vollgesogenen Schirm seiner Mütze in die Pfützen, in denen sich die seltenen Straßenlichter spiegelten, bevor seine platschenden Schritte die Bilder zerrissen.
Der Stadtteil, durch den sie mit ihren durchnässten Stiefeln marschierten, nannte sich Greensboro und stand im deutlichen Kontrast zum ihnen bekannten Stadtbild mit seinen Hochhäusern. Vor ihnen erstreckte sich eine gebogene Straße mit flachen, teils verfallenen Einzelhäusern sowie verwilderten Büschen und Bäumen auf beiden Seiten. Hin und wieder drang Licht hinter vergitterten und vernagelten Fenstern hervor. Meist waren es jedoch pechschwarze Fensterhöhlen, Gerippe ausgebrannter Dächer, halbherausgerissene Eingangstüren sowie rostige Autowracks in den Einfahrten, die das Bild prägten. In der Luft hing ein unscheinbarer Geruch von verbranntem Gummi. Menschen waren keine zu sehen. Ob ihn das beruhigen sollte, wusste er nicht. Hinter jedem der finsteren Büsche der weiten Schwarzbereiche konnte sich ein Schütze verbergen, der nur auf unbedarfte Wanderer wie sie wartete.
„Was mag hier nur geschehen sein?", fragte er Cathrine. Seine Stimme klang gedämpft, als würden die Schatten sie verschlucken.
„Sieht aus, als wäre hier vor Längerem ein wütender Mob durchgezogen. Aber es passt zur Wegbeschreibung Boulders. Weit kann es nicht mehr sein."
Leider besaßen sie kein Smartphone. Geräte auf dem Schwarzmarkt, die man ohne offizielle ID kaufen konnte, waren unerschwinglich teuer. Und ein Robo-Taxi wäre deutlich zu auffällig gewesen. Sie wollten nicht, dass man später ihre Spuren verfolgen konnte.
Ein paar Kreuzungen später zeigte sich mehr Leben auf der Straße. Jedes zweite Haus war beleuchtet, einzelne Passanten in langen Regenmänteln kamen ihnen entgegen und das eine oder andere schäbige Auto surrte vorbei.
„Schau!" Er deutete nach vorne. Ein gleichmäßiger gelborangener Schein wurde im Himmel vom dichten Nieselregen reflektiert. „Das muss es sein."
„Okay. Halte nach der West Market Street Ausschau. Dort sollen wir unseren Kontakt finden."
An der nächsten Abzweigung sahen sie das entsprechende Schild. Auf der Straße parkten fahrende Ungetüme, deren ausladende Karosserien mit breiten Kotflügeln, verchromten Ladeflächen und schillernden Lacken nichts mit den anonymen Roboter-Wägelchen in der Innenstadt gemein hatten. Es waren die Machos unter den Fahrzeugen. Dröhnende Bässe drangen aus einem der Häuser. Zwei in Lederkluft gekleidete Kerle saßen in einem der Eingänge mit Bierdosen in der Hand und beäugten sie. Die Griffe großkalibriger Revolver ragten aus ihren Gürteln.
„Dann wollen wir mal hoffen, dass Boulder wortgehalten und uns angekündigt hat", meinte er und schluckte. Auch Schusswaffen hatten sie sich bisher nicht geleistet. In den Shadows, in denen sich jeder möglichst aus dem Weg ging, war das kein Problem gewesen. In dieser Gegend in der vermutlich eher das Recht des Stärkeren herrschte und offen zur Schau gestellt wurde, sah die Sache anders aus.
Als sie an dem Haus mit den beiden Kerlen vorbeiliefen, erhoben diese sich und schlenderten ihnen wortlos in zehn Metern Entfernung hinterher. Auch in den anderen Eingängen lungerten Frauen und Männer in Lack, Leder und halb-militärischen Uniformen herum und warfen ihnen lange Blicke zu. An einer Hauswand sah er ein fast manngroßes Maschinengewehr lehnen und fragte sich, welche Größe dessen Träger hatte. Ein kurzer Pfiff erklang von der gegenüberliegenden Straßenseite und ließ sie innehalten.
„Hey, Schnuckies! Kommt rüber", rief eine Frau in den Dreißigern mit langer violetter Mähne und winkte ihnen.
Langsam schritten sie zu der Truppe hinüber. Sie saß gemeinsam mit einer Handvoll Männer und Frauen unter dem Schutz einer Veranda. Sie alle trugen Frisuren in Neonfarben, teils als Irokesen, hochstehenden Stacheln oder Rastalocken. Ihre wild zusammengewürfelte Kleidung aus mit Nieten besetztem Leder, Lackstiefeln und selbstleuchtenden Applikationen stach selbst für Emeralds Verhältnisse heraus. Keiner wirkte angespannt oder aggressiv, aber ihre lockere Haltung verdeutlichte, dass sie in Cathrine und ihm keinerlei Gefahr erkannten. Sein Herz klopfte vernehmlich und wollte ihn darauf hinweisen, dass für sie das genaue Gegenteil galt. Vermutlich balancierten sie hier sehr nahe am Abgrund. Deutlich näher als jemals zuvor in Emerald.
„Ich nehme an", meinte die Frau, als sie kurz vor der Veranda standen, „ihr seid die Sahnetörtchen, die Boulder mir versprochen hat?"
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