30. Kleine und große Lügen
Er konnte nicht schlafen. Wie auch? Ihm gegenüber an die Glaswand gelehnt saß Ava Park. Die Ava Park. Er wollte etwas sagen. Er wollte eine Menge sagen, aber nichts kam aus seinem Mund. Kein Wort. Seine Gedanken spielten jedes Indiz, jeden Hinweis, den er vielleicht übersehen hatte ab. Hätte er es wissen können? Hätte er es wissen sollen?
Stöhnend griff er sich an den Kopf, er hatte Zeit mit ihr verbracht. Viel Zeit...und er hatte sie geküsst. Nicht nur einmal, sondern oft. Bei jeder Gelegenheit sozusagen. Seine Lippen schienen zu brennen. Die Mördertochter...er hatte Georgette Parks Tochter geküsst.
„Du solltest schlafen.", murmelte Mina mit geschlossenen Augen. Wie konnte das alles wahr sein?
„Du auch.", gab er zurück, „und trotzdem sitzen wir hier hellwach." Mina öffnete die Augen und sah ihn erschöpft an. Er kannte sie oder etwa nicht? Er hatte mit ihr gelacht, mit ihr gegessen, gekocht, geduscht.... wenn sie nichts anderes waren, waren sie doch zumindest Freunde. Gewesen.
„Du hast mich belogen.", Die Worte sollten nicht so harsch klingen, aber sein verletztes Herz ließ nichts anderes zu. „Manchmal, ja." „Ich dachte, wir wären Freunde." Mina lachte leicht.
„Freunde? Nein, ich habe keine Freunde, Jay." „Und Oona? Weiß sie wer du bist?" Mina schüttelte schweigend den Kopf. „Du bist die Mördertochter.", ein altbekannter Titel. Mina legte den Kopf schief. „Richtig. Ich bin die Mördertochter. Und jetzt?"
Verwirrt sah er sie an, hatte sie nichts dazu zu sagen? Keine Rechtfertigung, keine Entschuldigung? „Tut es dir nicht leid?"
„Was genau? Das ich dich belogen habe? Nein, das Risiko konnte ich nicht eingehen."
„Du bist Georgette Parks Tochter." Mina winkte ab. „Ach dafür kann ich nichts. Ich habe schon vor langer Zeit damit aufgehört mich dafür schuldig zu fühlen. Ich habe genug eigene Sünden für die ich büßen sollte."
Verärgert verschränkte er die Arme. „Wie mich zu belügen. War irgendwas von dem was zwischen uns passiert ist echt?" Oder waren alle Küsse, alle Gefühle nur ein weiterer Weg um zu bekommen was sie wollte. Sie ließ die Schultern hängen.
„Wie soll ich darauf antworten, Jay?" „Wie wärs zur Abwechslung mit der Wahrheit?" Sie seufzte. „Die Wahrheit? Wir haben einander benutz. Du hast mich so sehr gebraucht wie ich dich. Eine einfache Transaktion von Wissen und Ressourcen. Mehr nicht. Wir sind quitt." War es so einfach? Nein, das konnte es nicht sein. Da war mehr zwischen ihnen gewesen. Er hatte sich ihr verbunden gefühlt, sie war mit ihm in diesen Keller gegangen wohl wissend, dass es vielleicht ihr Ende wäre. Sie belog ihn schon wieder.
„Was passiert jetzt? Was wird Isabella mit uns machen?" Mina sah durch das Glas auf die Laborgeräte. Er folgte ihrem Blick und bekam eine Gänsehaut. Als Laborratte wollte er nun wirklich nicht enden.
„Du bist ein Saki. Wertvoll, bis zu einem gewissen Grad. Sie werden deine Kräfte testen, deinen Körper untersuchen. Dich erwartet vermutlich kein schlimmeres Schicksal als die Menschen, die wir heute Nacht befreit haben."
„Und dich?" Sie sah auf ihre Hände. „Ich weiß es nicht genau. Auf jeden Fall wird Isabella mich als Lockvogel für meinen Vater verwenden." Ihr Vater. Albert, nein Matthias. Der Mann, der das Serum erschaffen hat. Hass loderte in seinen Adern. Matthias hatte sein Leben zerstört. „Er ist für all das Leid verantwortlich. Es ist alles seine Schuld!"
Mina mied seinen Blick. „Er hat es nicht alleine gemacht, vor ihm haben schon viele das Serum verändert...verbessert, aber ja. Sein Beitrag war gewaltig." Angewidert verzog er das Gesicht. Eine gesamte Familie an Lügnern.
„Wie kannst du ihn dann noch deinen Vater nennen. Er ist ein Monster." „Du benutz das Wort sehr freizügig, Jay. Er hat Fehler gemacht, keine Frage. So wie wir alle. Matthias ist ein Produkt seiner Vergangenheit. Er war lange Zeit Isabellas Gefangener und hat in ihrem Labor Tag und Nacht geschuftet." Sie lehnte müde den Kopf gegen die Wand. Als wäre Matthias Vergangenheit eine Entschuldigung für das Zerstören der Welt.
„Fehler sind eine Sache. Er hat die Welt auf dem Gewissen, in demselben Ausmaß wie Isabella. Wie Georgette. Ist er für sie auch verantwortlich? Für Milo?" Wie viele Sünden lasteten auf dem alten Mann? „Nein.", sie schüttelte den Kopf, „das waren Isabellas Vorfahren. Meine Mutter war zuerst ein Opfer, dann eine Täterin."
Er konnte sich Georgette nicht als Opfer vorstellen. Die Macht, die diese Frau besessen hatte. Den Bildern und Videos zu urteilen, war sie eine Naturgewalt gewesen. Wer könnte sie zu einem Opfer machen? „Wie kannst du sie verteidigen? Wie kannst du Matthias verteidigen. Beide haben nichts als Zerstörung gebracht."
„Du kennst nur einen Bruchteil der Geschichte. Urteilen ist einfach, wenn man ein vorgefertigtes Bild von den Medien bekommt." Ihre hochgehobenen Augenbrauen unterstrichen die Zweideutigkeit.
Er hatte sie verurteilt. Kaum hatte Isabella ihren Namen gesagt, war alles was er über Ava Park gelesen oder gesehen hatte in seinem Kopf Amok gelaufen. Das war nicht fair ihr gegenüber. Er konnte wütend sein, wegen der Dinge, die sie ihm vorenthalten hatte, aber nicht wegen der Dinge, die nichts mit ihm zu tun hatten.
„Bist du wie sie? Hast du dieselben Fähigkeiten wie Georgette? Wie Milo?", fragte er vorsichtig. Mina mahlte unsichtbares Mehl zwischen ihren Zähnen. „Und wenn ich sie hätte? Hast du Angst vor mir, Jay?"
„Sollte ich Angst vor dir haben, Ava?"
Sie fiel in sich zusammen, machte sich klein auf dem kalten Boden und zog das Ballkleid über ihre nackten Füße. „Nenn mich nicht so." „Das ist dein Name oder?"
„Nein, ich bin Mina. Es gibt niemanden mehr dem Ava wichtig wäre." Im sanften Licht der Notbeleuchtung sah er glitzern in ihren Augen. Weinte sie? Hatte sie tatsächlich die Nerven vor ihm zu sitzen und zu weinen?
Nein, er stählte sein Herz gegen das Mitgefühl. Sie zeigte keine Reue, warum sollte er ihr also vergeben. „Du musst dir keine Sorgen machen. Meine Kräfte sind äußerst gering."
„Aber deine Geschwister-„ „-waren allesamt mächtig. Ich bin es nicht." Er wollte ihr glauben. Wirklich. Aber der Zweifel nagte an seinem Verstand wie ein hungriger Hamster. Wenn sie dieselbe Macht wie der Rest ihrer Familie hätte, könnte sie ihre missliche Lage vielleicht verändern. Er wollte zu seiner Familie. Er wollte Evelyn um Verzeihung bitten. Mina knetete ihre Finger.
„Ich kann uns nicht retten." Frustriert warf er die Hände in die Luft. „Und wie sollen wir dann hier rauskommen?"
„Keine Ahnung!", fauchte sie zurück. Gleicher Ärger hing zwischen ihnen. Sie stierten einander an. Da war sie. Die Mina, die er kennengelernt hatte, die störrische, ungeduldige junge Frau, die ihn zum Kochen brachte. Sie hatte sich nicht verändert.
Die Wahrheit über ihre Herkunft hatte sie zu keinem anderen Menschen gemacht. Sie hatte nur seine Art mit ihr zu reden verändert, sie hatte ihn verändert. Aber Mina war gleichgeblieben. Die Erkenntnis war seltsam beruhigend.
„Okay.", er zog das Wort genervt in die Länge, „dann rede noch mal mit Isabella. Vielleicht können wir einen Deal mit ihr machen. Oder sie umstimmen. Sie scheint dich zu mögen, trotz allem."
Ihr Skeptischer Blick verdrehte seine Worte zu einem Scherz. Verdammt, das war seine letzte Idee. „Lass dich nicht täuschen. Isabella ist vor allem eines wichtig und das ist Profit und ihre Macht."
„Aber die Art wie sie mit dir geredet hat...", er ließ den Satz unvollendet. Mina stütze die Arme auf ihre Beine und sah ihn leicht lächelnd an.
„Mein Vater und Isabella...die zwei hatten mal was miteinander." Gossip von der saftigen Sorte. Neugierig lehnte auch er sich nach vorne.
„Das ist interessant. Ich hätte sie nicht so eingeschätzt." Sein Gegenüber zuckte mit den Schultern. „Ich schätze die ganze Sache mit Gefangener und Häscherin hat die zwei zu einem äußerst merkwürdigen Punkt gebracht.", in seinem Kopf erschien ein unangenehmes Bild der Beiden. Minas säuerlicher Ausdruck zeugte von demselben Bild.
„Der einzige Grund warum sie mir gegenüber kein absolutes Arschloch ist, ist die Tatsache, dass ihr Sohn mein Halbbruder ist." Ehrliches Erstaunen färbte seine Stimme.
„Dein Bruder?" „Jap. Mein Bruder." „Wow." Sie seufzte tief. „Meine Familie ist kompliziert." Das war eine Untertreibung. Die Einsamkeit in ihren Worten, machte ihn sprachlos. Er konnte das Loch in ihrem Herzen praktisch sehen.
Seine Familie war reine Liebe und Geborgenheit. Keine Ecken, keine Kanten und sie würden ihn nie wiedersehen. Sie würden nie wissen, was aus ihm geworden war. Vielleicht würde Luke es zumindest Evelyn erklären, aber würde sie seine Entscheidung nachvollziehen können. Er zweifelte stark daran.
So eine Scheiße. Wenn das seine letzten Stunden wären, wollte er sie nicht wütend verbringen. Hätte Mina ihm nur die Wahrheit gesagt, oder sich zumindest entschuldigt. Rational gesehen, verstand er ihre Geheimnisse, IZANAGA hatte offensichtlich nach Matthias gesucht und dementsprechend auch nach ihr. Trotzdem konnte er seine verletzten Gefühle nicht einfach abstellen.
Ärgerlich fuhr er durch seine Haare. Es war schön wieder sein eigenes Gesicht zu haben, aber das Gefühlschaos war ein Albtraum. „Ich wünschte, du hättest mir die Wahrheit gesagt.", Mina lächelte ihn bekümmert an.
„Ich wünschte, das hätte ich gekonnt." „Mehr hast du nicht zu sagen?", er wartete weiter auf die Reue in blauen Augen und bekam sturen Widerwillen.
„Ich habe getan, was ich tun musste. Dafür werde ich mich nicht entschuldigen." Wie konnte man nur so sein? Er senkte den Blick, tränen brannten in seinen Augen.
„Dann wars das jetzt zwischen uns?" Sie schluckte hart. „Es ist besser so."
„Besser?", er schnaubte, bald schon würde Isabella Gott weiß was, mit ihnen anstellen und Anstand eine gemeinsame Front zu bilden, stieß Mina ihn weg. Ihr Vater hatte das Serum geschaffen, ihre Mutter die Welt an den Rand der totalen Zerstörung gebracht.
Was waren ihre Sünden? Was hatte sie noch von ihren Eltern geerbt. Die Stunden vergingen. Halb dösend, halb wachend lagen sie auf dem kalten Betonboden und lauschten dem leisen Klicken der Maschinen
„Sie werden bald kommen oder?", fragte er in die gespenstische Stille ihrer Zelle. Mina nickte. „Ich schätze schon." „Hast du Angst vor dem was sie mit uns machen werden?"
„Nicht mehr als vor allem anderen.", hörte er ihr flüstern. Seine Angst lag dünn auf seiner Haut. Die Tür zum Keller wurde geöffnet und das Licht schaltete sich ein. Jay blinzelte gegen die Neonbeleuchtung und zwang die Panik in seinem Herzen nieder. Er würde ihnen nicht die Genugtuung geben vor ihnen zu kauern.
„Jay.", die Stimme gehörte einer bekannten Person. Anstelle eines blutdürstigen Wissenschaftlers stand Amanda vor ihnen. Ihre Stacheln waren in Verteidigungsstellung kerzengerade. Hastig stand er auf, Mina tat es ihm gleich. Ungläubigkeit stand in ihren Zügen.
„Was tust du hier?" „Ich rette euch, was denn sonst?" Minas Augen sprangen zwischen den Türen hin und her.
„Dann beeil dich." Dagegen konnte er nicht argumentieren. Amanda zog eine ihrer Stacheln aus der Haut und begann ein Loch in das Glas zu schneiden. Schweiß stand auf ihrer Haut und Blut rann ihre Hand hinunter. Der Stachel verletzte sie. Er wollte sie bitten aufzuhören, aber das hier wäre ihre einzige Chance zu entkommen.
Mina feuerte sie an und schließlich konnten sie gemeinsam das Glas zur Seite heben und sich durch das Loch quetschen. Es war nicht groß, aber für Jays schlaksige Gestalt und Minas kleine Figur kein Problem. Amanda hielt ihre blutige Hand eng am Körper.
„Los jetzt." Keine weiteren Worte waren von Nöten. Isabellas IT-Team schien bei der Party ordentlich gefeiert zu haben, denn der Code mit dem sie die Gefangenen befreit hatten war immer noch gültig. Anfängerfehler. Schnaubend öffnete er die Tür und rannte mit den Frauen aus dem Keller. Die Sonne ging gerade auf als sie das Haus verließen und in panischem Sprint die Straße zum Bahnhof entlangliefen.
Die ersten, warmen Sonnenstrahlen tränken die Umgebung in ein goldenes Licht. „Was ist mit den anderen?"
„Luke und Oona haben sie weggebracht. Der Zug ist abgefahren." Wortwörtlich. Sie brauchten einen anderen Fluchtweg.
„Wir brauchen ein Telefon.", Minas Atem kam stoßweise, aber bei weitem nicht so abgeharkt wie seiner. Er hielt Amandas Hand, zog sie hinter ihnen her. Die Gefangenschaft hatte ihr einiges an Kraft gekostet. Jay war bereit sie zu tragen, sollten ihre Beine nachgeben.
Der Bahnhof war verlassen, also rannten sie weiter die Landstraße entlang. Weg, sie mussten einfach weg. Jeder Meter zwischen ihnen und Traiskirchen unterstützte ihre Flucht. Hinter ihnen hörten sie Motorengeräusche. Überwältigt sah er sich um.
Ein Auto. Verdammt ein Auto aus Traiskirchen. Es würde sie sehen, es würde sie wieder in das Labor bringen. Die niedrigen Büsche am Straßenrand boten keinerlei Deckung.
Sie waren verloren. Das Auto wurde deutlich langsamer und hielt neben ihnen an. Ein Soldat mit widerlichem Grinsen im Gesicht betrachtete sie abschätzig.
„Sieh einer an. Gehört ihr etwa zu unseren Entflohenen?" Keiner von ihnen antwortete. Wieso sollten sie? Bereit zu kämpfen hob Jay die Hände und rief die Pflanzenwelt zu sich. Einige der Wurzeln streckten sich, Blumen wuchsen, aber es gab nichts in der Natur, dass dem Soldaten gefährlich werden konnte.
Die Wurzeln waren seine beste Chance, sie würden den Mann vielleicht zum Stolpern bringen und eine Möglichkeit schaffen ihn zu überwältigen. Das war ein großes Vielleicht, aber besser als nichts.
Amanda brach zusammen. Sie knickte ein und saß mit zitternden Gliedmaßen neben ihm im Staub. „Oh je. Ich bringe euch besser gleich zurück. Seid so freundlich und legt die hier an."
Der Soldat warf metallenen Handschellen vor sie und wartete. Die Selbstzufriedenheit in seinem Blick war übelerregend.
„Los jetzt.", er zog eine Schusswaffe und richtete sie auf Amanda. Hastig hob Jay die Handschellen auf und stellte sich vor Amanda. „Okay, okay. Wir machen schon.", eine der Handschellen reichte er Mina, die ihn vollkommen ignorierte. Der Soldat sah sie an und leckte sich über die Lippen.
„Soll ich dir helfen, Süße?" Mina legte den Kopf schief. „Nein, nicht nötig.", sie hob die Hand, machte eine Faust und ein grausiges Knacken ertönte. Der Soldat fiel tot um. Sein verdrehter Kopf war ein eindeutiges Zeichen für das gebrochene Genick.
Sprachlos sah er Mina an. Eines ihrer Augen war definitiv braun. Keine Einbildung. Kein Lichtspiel. Sie war eine Saki. Sie war eine Park und sie hatte Kräfte.
„Du hast gelogen.", brachte er hervor. Der Tote neben ihm schien die Lüge in den Himmel zu schreien. Mina blinzelte heftig und griff sich an den Kopf.
„Wir haben keine Zeit dafür. Steig ins Auto, Jay."
„Aber, ...", Angst ließ ihn zurückweichen. Angst vor ihr. Angst vor ihrer offensichtlichen Bereitschaft zu töten. Amanda schleppte sich zum Auto und warf sich auf die Rückbank.
„Jay, scheiß drauf. Wir müssen von hier verschwinden. Jetzt!", ihre verzweifelte Stimme bewegte seine Beine. Er setzte sich hinters Steuer. Mina nahm neben ihm Platz. Sie fuhren los und ließen den Toten hinter sich zurück. Er würde entdeckt werden, sein Auto würde gesucht werden.
Die Zeit arbeitete gegen sie. „Sobald wir in Wien sind, müssen wir das Auto loswerden.", murmelte Mina trocken. Sie hielt sich die blutende Nase.
„Ist das der Preis, den du zahlst? Du benutzt deine Kräfte und deine Nase fängt an zu Bluten?", er warf ihr Seitenblicke zu. Immer auf der Hut. Schließlich hatte sie ihm bewiesen, wie weit sie bereit war zu gehen. Die Mördertochter. Trauer spiegelte sich in ihren unterschiedlich gefärbten Augen. Das braun verschwand langsam.
„Ich habe dir gesagt, meine Kräfte sind gering." „Gering? Das nennst du gering? Telekinese in dieser Größenordnung würde ich nicht gering nennen."
„Wie du meinst."
„Klar, wenn man sie mit Milo oder Georgette vergleicht sind deine Fähigkeiten tatsächlich weniger ausgeprägt.", wenn die Telekinese, die sie zur Schau gestellt hatte, das gesamte Ausmaß ihrer Fähigkeiten war. Irgendwie bezweifelte er das stark. Mina verbarg noch mehr. Der Vergleich mit ihrer Familie brachte einen kalten Ausdruck auf ihre distanzierten Züge.
„Du hättest ihn nicht töten müssen. Wir hätten ihn K.O schlagen können.", murmelte er, unfähig sein Missfallen zu verstecken. Mord war nie eine Option. Wieso also hatte sie diesem Drang so bereitwillig nachgegeben? Minas Augen wurden zu schlitzen.
„Hast du schon mal jemanden bewusstlos geschlagen?" „Nicht so richtig, aber-„
„und du bist dir sicher, dass du ihn hart genug getroffen hättest, um ihn für Stunden außer Gefecht zu setzten."
„Also... nein. Ich weiß nicht...", ihm fehlten die Worte während Mina ihm einen mitleidigen Blick zuwarf. „Denn wenn er nach zehn Minuten wieder aufgewacht wäre, hätte der kleine Vorsprung, den wir jetzt haben, keinerlei Bedeutung. Sie hätten uns erwischt, Jay, sie hätten uns eingefangen und wieder in diese Zelle gesteckt."
Sie hatte recht. Er hasste es, aber sie hatte recht. Wie hart musste er seinen Gegner schlagen? Verdammt, er hatte keine Ahnung und er wollte auch niemanden schlagen. Gewalt war nie sein Ziel gewesen, nie sein Interesse. Wieso zwang die Welt ihn zu so etwas?
„Du hättest ihn trotzdem nicht töten müssen.", zischte er wütend zwischen zusammengebissenen Zähnen. Er hörte sich wie ein trotziges Kind an. Und er fühlte sich auch so. Alles woran er denken konnte, war die Familie des Soldaten. Sie würden in wenigen Stunden eine furchtbare Nachricht erhalten und es wäre zum Teil seine Schuld.
Mina sah ihn schweigend an. Was hatte sie erlebt, dass derartige Erfahrungen sie nicht mehr überwältigten? Er wollte es nicht wissen. Zum ersten Mal wollte er nichts über Mina und ihre Vergangenheit, ihre Geheimnisse erfahren. Das Mysterium hatte im Blut ihrer Feinde seinen Reiz verloren.
In stummer Erschöpfung fuhren sie bis zum Stadtrand. Das Auto wurde zwischen anderen geparkt, das Kennzeichen verhingen sie mit einem Stofffetzen von Minas ehemalig schönem Ballkleid.
„Ich kenne einen Tunnel in der Nähe. Komm Amanda. Wenn wir mal dort sind, kannst du dich ausruhen." Die junge Frau hing an seiner Schulter. Sie war vollkommen fertig. Mina stütze sie von der anderen Seite und gemeinsam trugen sie ihre mutige Retterin zum Tunneleingang.
Die Straßen waren verlassen. Die Ruhe lag gespenstisch auf ihnen. Die Sonnenstrahlen wurden intensiver. Der neue Tag brach mit beängstigender Schnelligkeit über sie herein. Sie mussten sich beeilen. Bald schon wären die ersten Leute unterwegs. Es brauchte nur eine Person sie bemerken und es wäre aus. Die Furcht trieb sie voran.
Endlich erreichten sie den Kanal. Er war mit einem Maschendraht verhangen, aber ein Loch in der Ecke bot Durchschlupf. Amanda kroch durch den Morast in die Dunkelheit und saß dort schwer atmend.
Jay hockte zwischen Amanda und Mina. Eine lange Sekunde sahen sie einander in die Augen. Das kornblumenblau schien im Halbdunkel zu leuchten. Er wollte ihr die Zuflucht verweigern. All ihre Lügen, ihre Gewalt, die Gefahr, die sie mit sich brachte, aber sie war eine Saki. Es war ihr gutes Recht Zuflucht zu suchen. Und wo sonst würde sie sie finden?
„Mina.", begann er und verschluckte jedes weitere Wort. Die junge Frau ihm gegenüber schüttelte langsam den Kopf.
„Keine Sorge, ich komme nicht mit.", die Gleichgültigkeit in ihrem Blick machte ihn wahnsinnig. „Das ist nicht, was ich sagen wollte."
„Du musst es nicht sagen. Ich kenne diesen Blick. Ich weiß, wann es Zeit ist zu gehen." Diese Worte...verdammt. Warum tat das so weh? Er sollte froh sein, dass er sie nicht explizit um einen Abschied bitten musste, doch alles in ihm schrie sie an einen Hauch von Gefühl zu zeigen.
„Es gibt keinen sichereren Ort.", versuchte er sie halbherzig zu überzeugen. „Ich bin keine von euch. Ich gehöre nicht in die Unterstadt. Ich gehöre nicht zur Taube." Wie oft hatten sie alle Mina genau diese Worte ins Gesicht geworfen? Sie, die von Geburt an eine Saki gewesen war.
„Pass auch dich auf, Jay. Und auf deine Familie.", ihr trauriges Lächeln zerbrach etwas in ihm. Sie wandte sich um und ging, verweigerte ihm Abschiedsworte, die in seiner Kehle festzustecken schienen. Geh ihr nach, schrie ein kleiner Teil von ihm. Der Rest blieb im Dreck sitzen und wartete darauf, dass sie zurückkäme. So konnte er sie nicht gehen lassen. Oder doch?
„Jay.", Amandas flüstern war drängend. Sie brauchte Hilfe. Sie brauchte ihn. Entschlossen presste er seine Gefühle beiseite und hob Amanda auf seinen Rücken. Die schweren Beine ignorierend verschwanden sie in der Dunkelheit.
Anmerkung der Autorin: Ach Jay...Seid ihr bereit für den Epiolg?
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