29. Alte Feinde

Isabella Nakamura. Unmöglich. Ihr Bild hatte wochenlang die Zeitungen beherrscht. Ein wahrgewordener Albtraum. Sie war nach Georgette Park, die wohl am meisten gehasste Frau Europas geworden. Zurecht. Georgette war wahnsinnig gewesen, aber Isabella hatte absichtlich die Welt ins Chaos gestürzt. Und wofür? Jay blinzelte. Ihr Sohn...hatte Mina nicht ihren Sohn erwähnt?

„Ach Gloria, zum Glück habe ich dich gefunden. Der Menschenauflauf dieses Jahr ist gewaltig. Wie geht es dir?" Unauffällig wandte Luke sich ihm zu und gemeinsam versuchten sie in den Schatten zu verschwinden. Mina alleine würde weniger Aufsehen erregen.

„Mir geht es gut. Du weißt ja, immer das gleiche. Die Arbeit hört nie auf, aber die Party ist nett." Isabella ließ ihren Blick über das Fest schweifen.

„Ein wenig zu viel, wenn man bedenkt, dass Traiskirchen nicht im Fokus der Allgemeinheit liegen sollte. Wer immer das hier organisiert hat, wird es nächstes Jahr ganz sicher nicht mehr tun."

Dasselbe hatte er sich auch schon gedacht. Ein geheimes IZANGAGA- Labor und Saki-Gefängnis sollte diese Art Zirkus nicht veranstalten, offenbar war der Organisator vorlaut gewesen.

„Es ist tatsächlich etwas viel.", gab Mina der Frau recht. „Wie geht es deiner Nichte? Sie fängt dieses Jahr doch mit der Schule an, oder?" Natürlich hatte Mina keinen Plan von irgendeiner Nichte. Die Historie ihrer Tarnungen war nicht teil des Lehrplans gewesen, dennoch ließ sie sich nichts anmerken. Geschickt log sie.

„Ja, wir sind schon sehr aufgeregt. Danke der Nachfrage. Apropos ich bräuchte nächste Woche einen Tag Urlaub um sie abzuholen. Ich sollte meinen Chef suchen."

„Dummi, das bin doch ich.", Isabella kicherte, „du kannst dir jeden Tag nehmen. Nach deiner hervorragenden Arbeit die letzten Monate, verdienst du dir eine Pause." Isabella wurde von jemanden gerufen und wandte sich entschuldigend lächelnd ab.

„Ich muss weiter. Es war schön mit dir zu sprechen." Geh, geh, geh, dröhnte es in Jays Kopf. Sie hatten es geschafft, ihre Tarnung hatte gehalten.

„Wie geht es Masao?", die Worte zerschnitten seine Hoffnungen. Ein Schatten legte sich über Isabellas Züge. Mina stand einer gespannten Sehne gleich im Halbschatten, der Gesichtsausdruck unleserlich.

„Ich habe ihn lange nicht gesehen. Er ist in einem Internat für Hochbegabte. Lieb von dir, dass du fragst." Isabella schenkte ihr ein leichtes Lächeln und wandte sich um. Sie ging davon und mit jedem Meter konnte Jay etwas leichter atmen. Mina schien es genauso zu gehen. Kaum war Isabella aus ihrem Sichtfeld sackte sie in sich zusammen.

„Was sollte das? Wer ist Masao?", zischte Luke und griff nach ihrer Schulter. Mina wich zurück.

„Nicht wichtig."

„Du hättest beinahe unsere Tarnung dafür auffliegen lassen. Also ist es wichtig. Was ist nur los mit euch zweien? Wegen euch landen wir noch in einer Gefängniszelle." Damit hatte er nicht ganz unrecht. „Wir müssen zum Schokobrunnen.", Mina ging voraus, die Antwort auf Lukes Frage blieb sie schuldig. Zurück am heißgeliebten Schokobrunnen, gönnte Luke sich Weintrauben und eine Schokobanane.

„Ich kriege noch Stressblähungen wegen euch.", murmelte er.

Just in diesem Moment trat der Beamte zu ihnen und griff unauffällig nach einer Erdbeere. Ein einziger Blick und er wusste, dass sie ihm folgen mussten. Unauffällig. Gezwungen lachend umfasste er Lukes muskulösen Arm und sah verträumt zu ihm auf. Lukes schokoverschmiertes Lächeln war irritiert, aber er spielte mit.

Sie folgten dem Beamten turtelnd während Mina von einem Essensstand zum nächsten torkelte. In dieser Manier schlichen sie durch das feiernde Dorf, immer weiter weg von den Attraktionen, in einsame Gassen mit vereinzelten Liebespaaren, deren Suche nach Intimität auf der Straße geendet hatte.

Es dauerte nicht lange bis sie zu einem Wohnhaus kamen, dessen dunkle Fenster und geschlossene Tür alles andere als einladend waren. Verstohlen sahen sie sich um. Mina und der Beamte hatten ihre Hände verschränkt, falls sie jemand sah, würde er sie hoffentlich für zwei höllisch verliebte Paare halten.

Der Beamte öffnete die Tür des Wohnhauses und ließ sie eintreten. Der kalte Vorraum führte zu mehreren Wohnungen. Nur der Mond und ihre Handytaschenlampen spendeten Licht.

„Da hinten ist der Eingang zum Keller. Benutzt denselben Code wie im Rathaus. Pro Keller werden etwa fünf Gefangene warten. Die Keller sind durch ein weitreichendes Tunnelnetzwerk verbunden. Folgt den Tunnel nach Norden, der führt euch zum Bahnhof. Mit dem Code kommt ihr aus jedem Keller auch wieder raus."

„Wem gehört der Code?", Jay hielt den Zettel fest umklammert. Der Mann vor ihm schüttelte den Kopf. „Jemand der ihn nicht mehr brauchen wird. Das ist eure einzige Chance. Ihr habt nicht lange." Er ging.

„Dann los.", Jay ging voran, den Code griffbereit. Sie stiegen die steile Steintreppe hinunter. Mit jedem Meter wurde es kühler. Mina rieb ihre bloßen Oberarme. Kaum öffnete sich die schwere Kellertür trat ein schwall Luft hervor.

Die Beleuchtung war an. Ein top ausgestattetes Labor erwartete sie. In einem abgetrennten Raum mit gläsernen Wänden saßen vier Menschen. Luke rannte sofort zu ihnen. Mina betrachtete das Equipment und pfiff anerkennend.

„Sie haben es sich hier bequem gemacht." Das gläserne Gefängnis öffnete sich, doch die Menschen blieben ängstlich sitzen. Luke beugte sich herab. „Keine Angst. Wir sind hier um euch rauszuholen." Ein Mann schüttelte den Kopf und zeigte seine Arme. Einstichstellen. Viele davon. „Einige von uns haben das Serum bekommen. Wir sind gefährlich."

„Wir auch. Die Taube hat einen Platz für jeden einzelnen von euch. Das Serum muss nicht das Ende sein." Wobei es technisch gesehen jede dritte Person umbrachte.

„Ihr wollt doch nicht hier drinnen sterben, oder?" Eine Frau mit schwarzer Haut und großen Augen drängte sich voran, „ihr holt uns wirklich raus?"

„Ja, aber wir haben nicht viel Zeit.", das schien sie in Bewegung zu setzten. Die Menschen kamen zögerlich heraus. Amanda war nicht unter den Gefangenen.

Sie nahmen den Tunnel zum nächsten Keller, benutzen den Code um reinzukommen und fanden einen Schlachthof. Offenbar war dieser Keller für Tötungen und Autopsien genutzt worden. Zwei Gefangene kauerten in der hintersten Ecke. Die dünnen Arme umeinandergeschlungen. Einer von ihnen hatte rote Haut, der andere einen langen reptilienähnlichen Schwanz.

„Diese Bastarde.", rutschte es ihm raus, als er die Sägen und Skalpelle bemerkte. Hastig befreite Luke die Gefangenen. Ihre neuen Gefährten boten tatkräftige Unterstützung. Sie klammerten sich aneinander wie ertrinkende.

„Bleibt zusammen. Wir müssen schnell sein.", gebot Luke während Jay schon die nächste Tür öffnete und in den Tunnel lief. Ihre Gruppe zeigte erstaunliche Disziplin und Hilfsbereitschaft.

Jeder Keller bot ein neues Horrorszenario, das Augenmerk immer auf einen gläsernen Käfig für die Gefangenen. Teilweise waren es nur Männer, nur Jugendliche, nur Frauen. In einem Keller fanden sie hochschwangere Frauen, deren hoffnungsloser Blick herzzerreißend war.

Tränen wurden vergossen, Umarmungen ausgetauscht. Die Hoffnung beflügelte ihre Schritte. Sie retteten zehn...fünfzehn...fünfundzwanzig...ihre Gruppe wuchs. Jays Verzweiflung dagegen ballte sich in seinem Magen zusammen. Amanda. Wo war sie? Wie viele Keller waren noch zwischen ihnen und dem Bahnhof? Sie würden es sich nicht leisten können, alle zu durchsuchen.

„Wie weit noch?", fragte Mina distanziert. Sie hielt zu ihrer Gruppe abstand, redete mit niemanden, berührte niemanden, half niemanden. Jay öffnete eine weitere Kellertür und warf einen Blick auf das Schild daneben.

Zu ihrem Glück waren die Wissenschaftler von Traiskirchen mit dem Tunnelsystem überfordert gewesen. Es waren Schilder und Markierungen angebracht worden um die Orientierung einfach zu machen. So musste ihre wachsende Truppe bloß den Schildern nachlaufen.

Eine große Erleichterung, denn Jay hätte niemals etwas mit der Bezeichnung >nach Norden< anfangen können.

„Es sind noch ein paar Keller, dann haben wir es geschafft.", innerlich betete er Amanda in diesen zu finden. Sie traten ein. Ein weiterer Keller, ein weiteres Gefängnis und jede Menge Folterinstrumente. Eine Sache war anders. In dem Gefängnis saßen fünf Leute und eine davon...Amanda.

Er stürzte zum Käfig und öffnete ihn. Die Gefangenen strömten hinaus und Amanda in seine Arme.

„Jay?! Oh mein Gott, Jay? Bist dus wirklich?" Ihr Kopf war kahlgeschoren worden und an ihren Armen befanden sich lange Bandagen.

„Mandy. Ich habe überall nach dir gesucht.", die junge Frau sah ihn schluchzend an. „Ich war doch hier. Ich war die ganze Zeit hier." „Ich komme dich holen. Das habe ich deinem Vater versprochen."

„Mein Vater.", ein erstickter Laut drang aus ihrer Kehle. Sie ließ sich von ihm auf die Beine ziehen. „Er wäre traurig über das was diese Mistkerle aus mir gemacht haben."

Karls Wut hätte das Dorf in seinen Grundmauern erschüttert. Sie hob die Bandagen und zeigte ihm nachwachsende Stacheln wie bei einem Stachelschwein. Mutationen. Das Serum. Mitfühlend strich er über die Bandagen.

„Es tut mir so unendlich leid." Amanda atmete zittrig ein. „Ich habe sie angefleht, aber diese Monster hatten kein Mitleid. Mit keinem von uns. Es sind so viele gestorben." Und wie durch ein Wunder hatte Amanda es überlebt.

„Du bist hier. Du hast es geschafft und jetzt holen wir euch alle aus dieser Hölle. Vertrau mir." Die Hoffnung in Amandas Augen strahlte. Er nahm ihre Hand und zog sie zum Tunneleingang. Die Gefangenen murmelten unruhig. Keiner wagte zu laut zu sein, aber die Angst lag wie eine Schicht Staub auf ihnen.

Jay legte den Zeigefinger auf seine Lippen und die Menschen vor ihm wurden hellhörig. „Es ist nicht mehr weit. Bleibt ruhig und steht zusammen. Bald haben wirs geschafft."

„Wohin gehen wir?", fragte einer der Sakis. Luke antwortete: „Zum Bahnhof. Wir haben einen Zug gestohlen und bringen euch damit alle in Sicherheit." In Sicherheit war ein großes Versprechen. Es war nirgends wirklich sicher, aber der Zug war eine Chance. Keiner war bereit diese Chance abzuschlagen.

Sie folgten ihnen gehorsam. Im letzten Keller versammelten sie sich. Mittlerweile waren sie gut hundert Menschen. Die Treppe in das Erdgeschoss besaß ein Schild.

>Nordausgang, Bahnhof< war in fetten Buchstaben zu sehen. Wie nett von IZANAGA ihnen den Fluchtweg so deutlich zu markieren. Jay ließ Amanda los und starrte die Treppe nach oben. Das war der Weg. Jemand würde nachsehen müssen ob der Weg frei war. Dieser Jemand war er.

Er schluckte hart. Sein Herz raste. Okay, okay, sagte er sich, kein Problem. „Ich werde nachsehen, ob die Luft rein ist." Sein Blick glitt zu Luke und Mina,

„Haltet sie ruhig." Sein Freund nickte ernst. Mina sah ihn schweigend an. Wo waren ihre Gedanken? Er hatte keine Zeit ihren Streit zu bereinigen, keine Möglichkeit eine Entschuldigung für seine Worte zu formulieren. Die Mission verlangte alles. Sie würde warten müssen.

Jay stieg die eiskalten Steinstiegen hinauf in das Haus. Es war ein Einfamilienhaus, dessen Wohnraum seltsam gestellt wirkte. Auf leisen Sohlen näherte er sich dem Fenster. Partygäste. Es wurde nach wie vor gefeiert. Zeit für ein Ablenkungsmanöver.

Vorsichtig öffnete er die Eingangstür und schlüpfte hinaus. Mit einem Sprung war er im Vorgarten verschwunden. Im Schatten der Wiese liegend vergrub er seine Hände in der Erde und schloss die Augen.

Wurzeln reichten weit, doch weiter reichte das Pilznetzwerk, das alles Lebende im Erdreich verbanden. Er hatte diese Fähigkeit nie wirklich trainiert, es war eine Idee gewesen, ein Gedankenspiel.

Ärgerlich hatte er das bei den Vorbereitungen für diese Mission feststellen müssen. Zu viele Ideen und zu wenig Wille sie in die Tat umzusetzen. Während viele Sakis ihre Gaben auf die eine oder andere Art trainierten, hatte er seine gefließlich ignoriert.

Die Taube hatte seine IT-Kenntnisse gebraucht, nicht seine Pflanzenkünste. Nun musste er sie in die Tat umsetzen, eine Wahl blieb nicht. Er atmete tief durch und ließ seine Gedanken in das Erdreich wandern. Das Pilznetzwerk reagierte auf ihn. Nicht wie die Pflanzen, einer Huldigung gleich, sondern eher wie alte Freunde.

Er bat sie die Nachricht von weißen Blumen durch ihr Netzwerk zu übermitteln und mit einem Seufzen gewehrten sie ihm den Wunsch. Bei nächsten Mal, so hatte er den Eindruck, würden sie einen Preis verlangen.

Zufrieden kroch Jay zurück zur Eingangstür und verschwand im Dunkel des Vorraums. Er schlich zurück, das Herz wild schlagend, das Adrenalin durch die Adern pumpend. Luke empfing ihm.

„Können wir raus?" „Nein, zuerst muss Ron das Ablenkungsmanöver starten. Die Nachricht habe ich abgesetzt." „Das heißt warten.", bemerkte Mina bitter. Ihre Augen hatten wieder eine blaue Farbe angenommen und auch Lukes Haut wurde allmählich heller.

„Gabis Veränderungen lassen nach." Sie hatten keine Zeit mehr zu verlieren. Wenn die Nachricht ankam, sollte er es höre. Angespannt hofften sie auf ihre Rettung. Türen knallten. Das Geräusch kam aus derselben Richtung wie sie. Es folgte ihnen. Jemand folgte ihnen. Nur zwei Türen und ein Tunnel lagen zwischen ihnen.

„Was sollen wir tun?", die Menschen drängten sich ängstlich näher zum Ausgang, „ich will nicht mehr zurück." Angst schlug große Wellen. Sollten sie gefunden werden, bevor das Ablenkungsmanöver anfing, wäre alles vorbei. Er sah zurück zum letzten Keller und schließlich zu Amanda.

Es gab nur eine Möglichkeit. Schnell zückte er das Serum aus seiner Tasche und drückte es Luke in die Hand. „Bring es zu Teona. Sie wird wissen, wie wir es am besten nutzen können. Ich halte euch den Rücken frei." Entsetzen weiteten Lukes Augen.

„Sie werden dich töten." „Wir haben keine Zeit zu verlieren." Die Verfolger kamen näher. Er drängte sich an den Menschen vorbei zum Kellerausgang. Just in diesem Moment konnten sie von der Oberfläche Geschrei hören. Rons Ablenkungsmanöver.

Das Dorf sollte von Ratten geflutet werden und so die Partygäste in die Dorfmitte treiben. Der Plan schien zu funktionieren. Der Weg zum Bahnhof war frei. „Bring sie zum Bahnhof, Luke. Ich verschaffe euch Zeit."

Er sah den Widerwillen in Lukes Gesicht, dennoch zögerte sein Freund nicht. Er begann ihre Leute raus zu führen, der Tunnel leerte sich. Jay gab den Code ein und legte die Hand auf die Türschnalle.

Das war es. Wenn er sie öffnete gab es kein Zurück mehr. Harte Angst legte sich um seine Lunge, machte das Atmen schwer und die Beine wacklig. Vor seinen Augen tanzten die Gesichter seiner Familie.

Evelyn...er hatte ihr versprochen wiederzukommen. Er hatte gelogen. Eine Träne floss über seine Wange. Ein verdammter Lügner, als das würde seine Schwester in ihn Erinnerung behalten.

„Verzeih mir Evie.", eine Hand legte sich auf seine. Kalte Finger, kornblumenblaue Augen. Mina stand neben ihm. Sie hatte ihr Gesicht zurück, also dürfte das bei ihm auch der Fall sein.

„Was tust du hier?", er schüttelte den Kopf, „geh, bring dich in Sicherheit." „Ich kann nicht.", sie zitterte, ihr Blick voller ungesagter Worte. Was...warum...Ach egal! Er küsste sie. Hart, verzweifelt. Es war der Geschmack ihrer Lippen mit denen er sterben würde. Das war okay.

Dann öffnete er die Tür und betrat das Kellerlabor zeitgleich mit ihren Verfolgern. Was hatte er erwartet? Beamte? Wissenschaftler? Sicherlich nicht Isabella Nakamura mit einem erfreuten Grinsen auf den blutroten Lippen. Ihr Anblick jagte ihm einen Schauer über den Rücken.

„Oh Hallo, meine Liebe. Lange nicht gesehen." Die schwarzgekleideten Soldaten neben ihr richteten die Pistolen auf sie. Oder eher auf Mina. Sie war das Hauptaugenmerk. Jay schloss die Tür hinter sich und trat vor seine Freundin.

Diese verrückte Selbstmordaktion war seine Idee gewesen, Mina würde ganz sicher nicht den Preis bezahlen. Zumindest nicht vor ihm. „Frau Nakamura. Ich bin Jay. Wir wurden einander noch nicht vorgestellt." Isabellas Blick wanderte von Mina zu ihm. Ein überraschter Ausdruck legte sich auf ihre Züge.

„Ist das dein neuer Freund? Süß. Auch wenn er etwas naiv wirkt." „Hey, du kennst mich nicht!", stieß er hervor. Was bildete sich diese Frau ein? Isabella ignorierte ihn mit einer leichten Handbewegung.

„Ganz anders als dein William. Sag mir, wie geht es ihm? Hat er sich erholt?" „Er ist tot.", zischte Mina abweisend. Bildete er sich die Vertrautheit zwischen den beiden Frauen nur ein? Isabella lachte leicht.

„Sicher? Nein, das glaube ich dir nicht. Ich würde nicht mehr leben, wenn es so wäre." Ein gruseliges Lächeln erschien in Minas Gesicht. „Damit hast du recht. Trotzdem geht es dich nichts an." Isabella trat näher, dicht gefolgt von ihren Wachen.

„Aber du bist hier. Ich habe dich nicht gesucht. DU bist zu mir gekommen." „Weil du Beths Blut immer noch für deine Forschung verwendest.", fauchte Mina und kam Stirn an Stirn auf Isabella zu. „Und? Beth ist tot. Es ist ihr egal und das Serum in ihrem Blut gehört rechtmäßig mir."

Die Aussage war wie ein Schlag ins Gesicht. Mina trat zurück und atmete hörbar aus. „Wie viel hat dir dieses Recht gebracht, Isabella? Wie viel Blut klebt an deinen Händen. Das Serum ist ein Fluch, kein Segen."

„Hm.", ein nachdenklicher Ausdruck zeigte sich auf Isabellas Gesicht. Jay hielt sich im Hintergrund. Jede Minute, die Mina ihre Rivalin in Schach hielt war eine gewonnene Minute für ihre Freunde. Luke, Oona, Amanda...sie würden es aus Traiskirchen schaffen. Mit einer Handbewegung Isabellas drängten die Wachen sie in den gläsernen Käfig und versperrten die Tür. Scheiße, das war zu erwarten gewesen.

„Versteh mich nicht falsch. Ich weiß, was das Serum dir und mir gekostet hat, aber es hat auch vielen Menschen das Leben gerettet. Es hat Masao das Leben gerettet." Schock malte harte Falten in Minas Gesicht.

„Masao, dein Sohn?", mischte er sich ein, „du hast deinem eigenen Kind das Serum gegeben?" Isabella legte den Kopf schief.

„Du hast ihm von Masao erzählt? Also doch nicht nur ein Toyboy um die Zeit totzuschlagen." „Er hat mit der Sache nichts zu tun.", warf Mina ein und schob ihn zurück. Isabella lächelte über die Aussage. „Du hast ihn hergebracht. Er hat meine Gefangenen befreit. Noch tiefer könnte er wohl kaum in der Sache drinstecken. Also, Jay, richtig? Was weißt du noch über meinen Sohn?" Jay schüttelte den Kopf, „Ich kenne nur das Monster, das seine Mutter ist."

„Monster? Nun das klingt etwas dramatisch, findest du nicht?" Angewidert verzog er das Gesicht. „Wie kann man seinem eigenen Fleisch und Blut so etwas antun? Die Schmerzen, die das Serum verursacht-"

„-Sind nichts gegen die Schmerzen, die Masao längst litt. Du hast keine Ahnung, was mein Sohn alles erleiden musste.", stille Wut lag in ihrer Stimme. Langsam trat sie näher.

„Das Serum hat ihn gerettet.", erwiderte sie ruhig. Es war diese unangenehme Ruhe, die Jay hart schlucken ließ. „Um welchen Preis?", flüsterte Mina. In ihrer Stimme schwang traurige Resignation. Als hätte das Serum bereits zu viel von ihr verlangt. Isabella sah sie an. Die Härte in ihrem Blick hätte selbst einem Laser standgehalten.

„Meinst du die Menschen, die ich in meinen Forschungseinrichtungen als Laborratten missbraucht habe? Oder meinst du die unbedarfte Bevölkerung, der ich das Serum verabreichen ließ? Ich nehme an, der Preis wäre anderen zu hoch gewesen. Aber nicht uns, richtig?" Mina senkte den Blick.

„Was hat das Serum aus dem Jungen gemacht?" Isabella blieb stumm, offenbar war ein Nerv getroffen worden. Mina legte die Hände gegen das Glas. „Wo ist Masao?"

„Fort. Wie ich sagte, ich habe ihn schon eine Weile nicht gesehen. Nach dem Serum...er ist fort." Ein Hauch von Mitgefühl regte sich in seiner Brust. Isabella wirkte wie eine unglückliche Mutter, besorgt um ihr Kind. Auch in Mina sah er etwas Ähnliches wie Mitgefühl, aber ihres schien tiefer zu gehen und mit Zorn versetzt zu sein. Isabella schnalzte mit der Zunge.

„Was? Hast du dazu nichts zu sagen? Komm schon, Liebes, sag mir, dass ich falsch gehandelt habe. Sag mir, dass du Masao niemals das Serum gegeben hättest. Dass du einen anderen Weg gefunden hättest. Dass ich ein gottloses Monster für meine Taten bin. Los jetzt, ich warte."

Hätte es einen anderen Weg gegeben? Die Verzweiflung kam in Wellen von der älteren Frau. Mina betrachtete die Frau, die sie gefangen hielt mit gleichgültiger Miene. Schweigende Sekunden verstrichen, bis Mina die Schultern hängen ließ und seufzte.

„Nein, Isabella. Ich kann nicht. Ich habe kein Recht dazu." „Was? Das ist Blödsinn!", er zeigte auf Isabella, „sie hat ihr Kind absichtlich verstümmelt." Seine Freundin warf ihm einen unglücklichen Blick zu.

„Ich habe kein Recht zu urteilen.", sie sah zu Isabella, „Lass uns gehen. Wir haben keinen Nutzen für dich.", ihre sanfte Stimme überraschte ihn, er hätte mit Wut oder Ärger in Minas typischer Ungeduld gerechnet. Isabella lächelte traurig.

„Glaub mir, ich wünschte es wäre so." Und er glaubte ihr tatsächlich. Das war keinesfalls das Gespräch, dass er sich vorgestellt hatte. Es wirkte eher wie die Familienzusammenkunft einer wirklich furchtbar dysfunktionalen Familie.

„Ich brauche deinen Vater." Ein Schatten legte sich über Minas Züge. „Tu das nicht. Lass ihn da raus. Er hat genug durchgemacht."

„Haben wir das nicht alle? Es ändert nichts an den Tatsachen. Keiner meiner Mitarbeiter kann seinem Genie das Wasser reichen. Matthias hat mir das perfektionierte Serum zu lange vorenthalten. Eine weitere Chance werde ich mir nicht entgehen lassen. Du bist sein einziger Schwachpunkt. Du wirst ihn zu mir locken." Mina zitterte.

„Tu das nicht, Isabella. Ich warne dich." „Das ist lieb von dir. Aber es wird nichts ändern.", sie wandte sich ab und ging ein paar Schritte Richtung Tür.

„Zudem brauche ich Ersatz für das Blut deiner Schwester." „Beth war eine Saki. Mina ist keine. Ihr Blut wird kaum was bringen.", warf Jay ein und erinnerte sich an Alexas Forderung. Hatte doch mehr dahintergesteckt? Der Kopf von IZANAGA hob erstaunt die Augenbrauen.

„Keine Saki?", sie lachte kehlig und warf Mina vielsagenden einen Blick zu. „Soll ich oder willst du es ihm lieber sagen."

„Du sagst kein Wort!" Die Wut in Mina schien endlich zu explodieren. Sie schlug gegen die gläsernen Gefängnistüren und knurrte. Das Glas zeigte keine Regung. Isabella lächelte leicht.

„Was soll sie mir nicht sagen? Mina, bitte." „Mina? Ist das der Name, den deine Eltern ausgesucht haben, bevor die Welt dir einen anderen gab?" Mina knirschte mit den Zähnen.

„William hat den Namen ausgesucht, nicht die Welt." „Welcher Name? Wer bist du?", er hatte genug von den Geheimnissen. Wenn er in dieser Gefängniszelle starb, dann mit der Wahrheit. Sanft umfasste er Minas Gesicht, suchte in ihren blauen Augen nach den Antworten, die sie ihm seit ihrem ersten Treffen vorenthalten hatte.

„Sag mir die Wahrheit." Ihre Lippen blieben geschlossen, es war Isabella, die antwortete. „Ihr Name ist Ava Park. Georgette Parks Tochter und nach meinem Wissen eine der wenigen Saki-geborenen."

Jay starrte in Minas kornblumenblaue Augen während die Tür ins Schloss fiel und sie alleine im halbdunkel des Labors zurückblieben.

Ava Park.

Verdammt.


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