19. Abschied

Er hielt Abstand. Was anderes hätte er auch tun können? Mina hatte sich am Rand der Stadt niedergelassen. Gleich neben einem der finsteren Ausgänge. Sie konnte nicht gehen, um beinahe Mitternacht wäre eine Reise an die Oberfläche Selbstmord, und so ganz nebenbei wusste sie den Weg nicht.

Er beobachtete sie aus der Ferne, neben sich Oona, deren besorgter Gesichtsausdruck seinen zu spiegeln schien. "Ich habe sie noch nie so erlebt. Sie war grausam."

"Ich habe das Gefühl, das sie dasselbe Verhalten auch schon ein paar Mal erfahren hat. Trotzdem hast du natürlich recht. Viktor hat diese Worte nicht verdient." Oona nickte langsam, legte den Kopf an seine Schulter und suchte seine Nähe. Zwar meldete sich sein schlechtes Gewissen, aber in der beschissenen Lage, in der er sich momentan befand, waren Oonas Berührungen tröstlich.

"Was mache ich jetzt? Ohne sie wird die Rettungsaktion nichts." "Lass uns schlafen gehen. Vielleicht denkt sie morgen ganz anders über die Sache.", sanft zog sie ihn von Minas Anblick und erinnerte ihn dabei, dass er noch ein wichtiges Gespräch mit ihr zu führen hatte. Defne war nicht im gemeinsamen Zelt und erleichtert schloss Oona den Zelteingang hinter ihnen.

"Bin ich froh, dass sie bei Luke bleibt. Ich will sie heute wirklich nicht mehr sehen.", sie gähnte laut und zog aus einer Kiste unter ihrem Bett einen Schlafanzug hervor. Jay schluckte, jetzt oder nie. "Oona, ich muss mit dir reden. Es geht um...uns."

"Was ist los?" "Ich denke, dass geht alles ein wenig schnell." "Schnell? Okay, das heißt du willst noch kein Label für das zwischen uns definieren?" Sie hatte es zielsicher auf den Punkt gebracht.

Unsicher strich er über seinen Kopf. Wo hatte er sich da reingeritten. Mina hasste ihn und Oona mochte ihn. Vorsichtig trat er näher und setzte sich mit ihr aufs Bett. "Ich bin mir nicht sicher, ob ich eine Beziehung möchte." Schwierige Worte. Oona spitze genervt die Lippen.

"Beziehung ist ein großes Wort und wir kennen uns nicht besonders gut." "Ja, das meine ich." Sie hob die Augenbrauen. "Willst du damit etwa Freunde mit Benefits vorschlagen?

"Nein, nein, ich glaube nur Freunde wäre eine gute Sache.", Eine schön unkomplizierte Sache. Irritiert zog sie die Schultern hoch. "Okay...ich dachte,..hab ich irgendwas gemacht?"

"Nein, nein, es ist nur so viel passiert und ich glaube, wir sollten es langsam angehen.", was redete er da? Warum konnte er nicht einfach die Reißleine ziehen.

"Das heißt du möchtest warten und schauen, wie sich die Dinge zwischen uns entwickeln." So oder so ähnlich. Er lächelte schief und nickte. Mehr Worte brachte er nicht über sich. Erschöpft legten sie sich schlafen. Oona kuschelte sich in ihr Bett, Jay lag in Defnes.

"Ich werde morgen noch mal mit Mina sprechen. Sie wird helfen, da bin ich sicher." Er war sich keinesfalls sicher, er kannte Mina mittlerweile gut genug, um ihre Handlungen zu verstehen.

Er hatte sie betrogen. Schlicht und einfach. Und dafür würde er büßen müssen, vorher würde Mina keinen Schritt auf ihn zugehen. Die Augen fielen ihm zu, keiner seiner trüben Gedanken konnte ihn wachhalten. Als er wieder erwachte, raste sein Herz.

Ein furchtbarer Albtraum und ein schlechtes Gefühl jagten ihn aus dem Zelt. Draußen bemühte er sich ruhig zu atmen. Wie von selbst wanderte er den Weg zu Minas Ruhestelle. Meter entfernt sah er sie an der Wand lehnen. Ihr Körper schien klein und schmal im Dämmerlicht des Morgens.

Es war kurz vor sechs. Die ersten Bewohner begannen mit der Morgenroutine. Was solls, dachte er und trat näher. Augenblicklich fuhr Minas Kopf hoch und aus müden Augen blickte sie ihm giftig entgegen. "Was tust du da?"

"Ich bring dich nach Hause. Allein findest du den Weg nicht aus dem Labyrinth an Tunneln und ich habe dich hergebracht. Also bringe ich dich auch wieder zurück." Skeptisch verengten sich ihre Augen, "was werden die anderen dazu sagen?"

"Das ist mir egal. Du hast nichts hiermit zutun. Und du willst es auch nicht. Das hast du gestern klargemacht. Du kennst den Weg nicht, hast nichts gesehen und wirst auch nichts sagen, dafür steht für dich zu viel auf dem Spiel. Ich werde mit den Konsequenzen leben müssen, aber auch das hat nichts mit dir zu tun. Bist du bereit?"

Sie rappelte sich hoch, streckte sich und knackte mit den Fingerknöcheln. Das blaue Auge sah schmerzhaft aus, ihre Schnittwunden bluteten zwar nicht mehr, aber verbunden waren sie auch nicht.

Niemand hatte sich um sie gekümmert, niemand hatte sie getröstet. Nicht einmal Oona war an ihrer Seite geblieben. Das Ausmaß ihrer Einsamkeit wollte er sich nicht vorstellen. Vielleicht hätte er dann Viktors Bitte ebenso unwirsch abgelehnt. Mitfühlend griff er nach ihrer Hand, "für den Weg, damit wir uns nicht verlieren.", log er und sah in ihren Augen, dass sie die Lüge erkannte.

Er hatte Scheiße gebaut. Verdammt große Scheiße, aber nichtsdestotrotz sehnte er sich nach ihr. Unter keinen Umständen wollte er, dass sie schmerzen litt. Sie traten in die Dunkelheit des Tunnels, die Geräusche der Stadt waren mit einem Mal verschwunden. Kein Fremder hätte am Ende des Tunnels eine lebendige Stadt vermutet.

"Das ist ein cleverer Trick.", kommentierte Mina in der völligen Schwärze ihrer Umgebung. Jay lächelte leicht. "Wir haben einige davon auf Lager. Nicht umsonst überlebt die Stadt schon eine Weile."

"Wann habt ihr euch dort angesiedelt?", Die Kälte ihrer Haut breitete sich in ihm aus, bis er ein Zittern nicht verhindern konnte. Langsam begann er sie durch die Tunnel zu führen.

"So genau kann ich das nicht sagen. Ich hab vor sechs Jahren das Serum bekommen. Danach dachte ich lange Zeit ich wäre der einzige mit einer Gabe. Außer den Parks natürlich, allerdings war die Mutation bei ihnen ja was anderes. Ich hab die Taube vor etwas mehr als einem Jahren kennengelernt. Damals gab es die Unterstadt schon, allerdings in einem viel kleineren Ausmaß."

"Vor sechs Jahren? Wie alt warst du da?" Jay lächelte, als er an diese unbeschwerte Zeit zurückdachte. Er war junge gewesen, verliebt und übermütig. Seit größtes Ziel war es die Welt zu sehen und das Leben zu genießen. Diese Perspektive hatte sich über die Jahre verändert.

Er merkte es an den Falten in seinem Gesicht, den Debatten, die er mit sich selbst führte und nicht zuletzt an seinen schlaflosen Nächten. Jedes Geheimnis hatte an seiner Gelassenheit genagt.

"Ich war 21. Und so mundane es auch klingt, hatte ich an dem besagten Tag eine Blinddarm-op. Routine, nichts Besonderes. Nur das ich während der OP anscheinend das Serum bekommen habe."

"Hattest du große Schmerzen?" Unbeschreiblich. In diesen paar Tagen hatte er an seinen Tod geglaubt und mit Evelyn Vorkehrungen für ihre Eltern getroffen. Seine gesamte Familie hatte erleichtert aufgeatmet als nach drei Tagen das Fieber verschwand und er wider Erwarten gesund wurde.

"Ich wünsche das Serum niemanden. Und ich kann dieser Isabella Nakamura niemals verzeihen." "Weißt du, warum sie es getan hat?", die Hand, die er in seiner hielt, zitterte leicht.

"Macht, oder nicht? Nur blöd das ihr Plan aufgefallen ist. Ansonsten hätte sie wohl still und heimlich noch mehr Menschen das Leben versaut.", er fuhr mit der Hand über die kalt-nasse Wand des Tunnels. Das Symbol, dass er suchte, tauchte zuverlässig auf und er bog rechts ab.

Sie kamen ihrem Ziel näher und mit jedem Schritte wollte alles in ihm die Zeit mit ihr hinauszögern. Es gab gefühlt hundert Dinge, die er unbedingt erklären musste und doch wusste sie das Wichtigste längst. Sie kannte den Grund, warum er ihre Geheimnisse verraten hatte, vielleicht tat es deshalb umso mehr weh.

"Sie hatte einen Sohn.", flüsterte die Frau neben ihm, "Wer?" "Isabella Nakamura. Sie hatte einen Sohn." Nachdenklich spitze er die Lippen, hatte er darüber schon mal was gehört oder gelesen? Nein, ein Sohn wurde nie erwähnt.

"Bist du sicher? Sie ist die wohl meistgehasste Person der Welt. Ich glaube, jemand so prominentes könnte kaum ein Kind verstecken." "Er war krank. Lag im Sterben." "Dann hat sie ihn vielleicht verloren bevor-"

"Nein. Jay, hör zu. Merk dir, was ich sage. Mehr wirst du von mir nicht kriegen. Sie hatte einen Sohn. Er war unheilbar krank. Und auf dieser Welt gibt es nur ein Wundermittel." Das Serum. Er stolperte über seine eigenen Füße. Natürlich. Der Grund für die Massen Ausgabe des Serums, die Taube, die Situation in der Europa sich momentan befand....sie hatte es für ihren Sohn getan. Die Bilder der zerstörten Laboratorien in Bittraslutet waren durch alle Medien gegangen.

"Woher weißt du das?" "Das Serum hätte nie in deinen Körper gelangen dürfen. Du solltest zumindest den Grund verstehen." Ihr Tonfall lag nahe, dass er nicht weiter fragen sollte. Er bog erneut ab und spürte nässe an seiner Hose. Der Tunnelboden war mit schlammigem Wasser bedeckt. Normalerweise war er trocken, dachte Jay verwirrt und führte Mina an der Wand entlang, bis sie an einem trockenen Stück abbogen.

"Ich weiß, du willst es nicht hören, aber es tut mir leid. Was ich getan habe, war nicht richtig, auch wenn ich einen guten Zweck im Auge hatte."

"Du hast recht.", sie lehnte sich von ihm weg, "ich will es nicht hören." "Kann dein Vater uns in die Labore von Traiskirchen bringen?", fragte er stattdessen forsch wohl wissend, dass sie ihm höchstwahrscheinlich nicht antworten würde. Im Grunde wollte er eine Reaktion provozieren und ihr Gespräch am Laufen halten. In der Finsternis hörte er Mina schnalzen.

"Du gibst nicht auf." "Nicht wirklich. Hast du eine Antwort für mich oder weißt du es selbst nicht." Einige Sekunden herrschte Stille, schließlich gab sie nach.

"Ich weiß es nicht. Mein Vater hat mir nichts von seinen Kontakten gesagt. Er will mich dort nicht sehen." "Und er will uns nicht helfen. Ich verstehe ihn. Die Sache ist gefährlich."

"Gefährlicher als du dir vorstellen kannst.", wisperte sie und in Jays Fantasie brodelte es. "Was soll das heißen?" "Geht dich nichts an." Damit hatte sie recht. "Ich möchte mit ihm reden. Deinen Vater, meine ich. Vielleicht kann ich ihn überzeugen. Vielleicht können wir ihn zusammen überzeugen."

"Hast du mir gestern Nacht nicht zugehört? Ich werde weder deinem Freund noch dir helfen." "Aber das hast du doch nur gesagt, weil ich deine Geheimnisse ausgeplaudert habe, oder? Ich dachte, du willst selbst nach Traiskirchen für Beth. Hat sich das geändert?"

Er hoffte nicht. Ihre eigene Motivation war sein letzter Trumpf. Sollte sie ihre Schwester aufgeben, verlor er die Verbindung zu ihrem Vater vollständig.

"Ich werde meinen Vater nicht in die Sache hineinziehen. Ich kann es nicht, verstanden.", ihre entschiedenen Worte trafen hart. Seufzend lenkte er ein. "Es ist deine Entscheidung. Ich werde einen anderen Weg finden." Traiskirchen schien zu rufen.

"Es gibt keinen. Lass sie gehen." "Könntest du es? Einfach aufgeben, obwohl du weißt, dass deine Freunde dich brauchen?" Sie waren an der Leiter in die Freiheit angekommen. Oben wartete ein kühler Keller, dessen Erdgeschoss die Universitätsbücherei war. Fachgebiet Pädagogik. Schweigend kletterten sie hoch. Erst als sie im Halbdunkel des Kellers standen und er ihr gleichgültiges Gesicht wahrnahm sank sein Herz in die Hose.

"Du würdest aufgeben." "Ich habe aufgegeben. So viel über die Jahre. Traiskirchen ist mehr als wir dachten und deine Rebellenbewegung...ist sehr viel weniger als ich dachte. Mein Vater kann es sich nicht leisten dafür wieder der Regierung in die Hände zu fallen." Warte...wieder? Verwirrt zog er die Augenbrauen zusammen.

"Dein Vater war kein Regierungsmann, er war deren Gefangener?" "Du und deine Fragen, Jay, ich kann dir die Antworten nicht anvertrauen. Das hast du mir bewiesen.", autsch. Ein Stich in die Magengegend. Er beschloss das Thema sinken zu lassen.

"Komm, ich bring dich raus.", mit gebührendem Abstand traten sie vorsichtig aus dem Keller in die Bücherei. Nur der alte Bibliothekar hob überrascht den Blick aus einem Buch und nickte ihnen verschwörerisch zu. Der Tunnel wurde oft benutzt, besonders zu den Randzeiten der Bücherei. Kaum einer schenkte dem muffig riechendem Gebäude große Aufmerksamkeit.

Sie traten an die frische Luft und sahen sich in der kalten Morgensonne um. Nur wenige Menschen waren unterwegs. Viele gähnten verschlafen. "Ein neuer Tag beginnt.", meinte seine Begleiterin und sah ihn vorsichtig an. Irgendwie fühlte sich das hier nach einem endgültigen Abschied an.

"Wann werde ich dich wiedersehen?", die verzweifelte Bitte in seiner Stimme war selbst ihm unangenehm, aber der Gedanke sie für immer aus seinem Leben zu streichen, war furchtbar. Er hatte doch gerade erst begonnen, sie kennenzulernen. Mina legte den Kopf schief. "Warum würdest du das wollen? Wenn du weißt, dass ich meine Entscheidung nicht ändern werde."

"Du und deine Fragen, Mina. Ist es okay, wenn ich diese eine unbeantwortet lasse?" Sie lächelte leicht. "Du bist schon ein komischer Typ.", ihr lächeln verschwand, "ich hoffe, Oona weiß das zu schätzen."

"Oona und ich sind Freunde."

"Damit seid ihr mehr als wir beide. Auf Wiedersehen, Jay.", sie drehte sich um und verließ ihn. Viel zu schnell und viel zu einfach. Ihre Gestalt verschwand in einem U-Bahn-Abgang, bevor er auch nur ein weiteres Wort murmeln konnte.

Mit müden Augen stieg er in die nächste Straßenbahn und fuhr nach Hause. Seine Familie war weitestgehend ausgeflogen. Das Gebäude lag im Stillen, dennoch erwartete ihn ein kleiner Wirbelwind in seiner Wohnung im Dachgeschoss.

Als er die Tür öffnete, saßen Sumi und Evelyn am Couchtisch und malten. Beide blickten ihn mit solch unterschiedlichen Gesichtsausdrücken an, dass er sich ein Lachen nicht verkneifen konnte. Sumi rannte auf ihn zu, lachend und fröhlich wie immer. Evelyn brodelte vor Wut.

"Mama und Papa sind heute Morgen weggefahren und du hättest eigentlich Sumi übernehmen müssen. Aber natürlich war der Herr mal wieder nicht da und jetzt musste ich mein Morgentraining ausfallen lassen, um auf die kleine Nervensäge aufzupassen."

Sumi verstand die Worte nicht, jedoch waren die Mimik und Gestik unverkennbar. Traurig fing sie in Jays Armen an zu weinen. Er drückte sie liebevoll an sich und benutzte Zeichensprache, um sie zu beruhigen.

"Es tut mir leid, Evie. Es gab Komplikationen und ich musste verschwinden."

"Wie in letzter Zeit häufiger. Seit du diese Mina kennengelernt hast, bist du nur noch auf der Flucht. Ich frage mich, wann ich dich zum letzten Mal gesehen habe.", die Wut wandelte sich in Angst. Seine kleine Schwester wollte ihn nicht verlieren. In schnellen Schritten war er bei ihr und umarmte sie fest. Um jede ihrer Tränen tat es ihm leid. In einer anderen Welt würde er ihr nie solchen Kummer bereiten wollen, hier jedoch sah er sich gezwungen.

"Zumindest bei einer Sache kann ich dich beruhigen. Ich werde Mina nicht mehr sehen." Diese Tatsache auszusprechen war schmerzlich. Es ähnelte im Gefühl stark Liebeskummer und das, obwohl ihn mit Mina in keinster Weise eine solche Beziehung verband. Trotzdem...die Gefühle waren da. Vielleicht hatte er sich wirklich ein klein wenig in sie verliebt. Nicht das es nun etwas ändern würde.

Überrascht befreite Evie sich aus seiner Umarmung und verschränkte die Arme. "Wieso? Was ist passiert?"

"Zu viel. Die Kurzversion. Ich habe ihr Vertrauen gebrochen, mit ihrer besten Freundin rumgemacht und sie schließlich in eine echt beschissene Situation mit meinen Arbeitgebern gebracht." Evie verzog den Mund.

"Nicht deine beste Seite." "Kannst du laut sagen. Ich war ein Arsch und das Schlimmste ist...ich hatte sie echt gern. Keine Ahnung wieso, aber wenn ich bei ihr war, hab ich mich irgendwie anders gefühlt." Er ließ sich auf die Coach sinken und platzierte Sumi auf seinem Schoss. Evelyn setzte sich neben ihn.

"Du hast dich auch irgendwie anders verhalten." Das war ihm bis eben nicht aufgefallen. "Wirklich?" "Vielleicht mochte ich sie deshalb nicht, sie hat dich verändert." Inwiefern konnte ihm Evelyn anscheinend auch nicht sagen. Seufzend wechselte er das Thema.

"Ich weiß, ich hab Mama versprochen Sumi zu übernehmen, aber ich muss an die Uni. Wenn ich nicht bald echte Ergebnisse bei diesem Projekt liefere, werfen die mich vermutlich wegen Verrat ins Gefängnis."

Und er meinte das ernst. Laut den Nachrichten von Amir, stand sein Ruf auf dem Spiel. Die junge Frau neben ihm ließ sich genervt in die Kissen sinken und spielte mit den Pailletten auf Sumis Kleidchen.

"Okay. Ich kann sie dir bis Mittag abnehmen. Aber um zwei Uhr hab ich eine Prüfung bei der Kleinkinder verboten sind. Kann ich sie dir um eins vorbeibringen?" Das wäre nicht ideal, aber eine bessere Lösung würde sich ihm kaum präsentieren.

"Danke, Evie, du rettest deinem Bruder damit den Arsch." Er drückte ihr einen dicken Kuss auf die Wange und setzte Sumi auf ihren Schoss.

"Schon gut. Schon gut. Wir machen uns einen schönen Vormittag, Sumi.", in Zeichensprache erklärte sie ihrer jüngeren Adoptivschwester was beschlossen worden war. Hastig griff Jay nach seiner Tasche, packte alles Notwendige hinein und rannte los.

Wenn er sich beeilte, wäre er um halb acht in der Uni. Einen kurzen Tripp zum Bäcker und mehrere Öffis später erreichte er den Hörsaal, in dem seine Kommilitonen bereits fleißig arbeiteten.

Amir, Amelia und Leo saßen um einen großen Tisch herum, jeder auf seinen Laptop konzentrierend. Es herrschte eine gespenstige stille. Die anderen Studenten sahen blass aus. Beinahe kränklich. Die blau schimmernden Augenringe und die abgemagerten Körper deuteten auf kontinuierliche Überarbeitung hin.

Seine Freunde sahen kaum besser aus. Amir begrüßte ihn mit einem Nicken, die anderen sahen nicht einmal auf. Leise setzte er sich und holte seinen Laptop hervor. Amir beugte sich zu ihm, während das Gerät startete.

"Ich hab dir die Probleme geschickt."

"Alles okay? Hier sieht jeder erschöpft aus." Amelia warf ihm einen gleichgültigen Blick zu. "Du siehst jetzt auch nicht besser aus.", das mochte stimmen.

Die Letzen Wochen hatten an ihm gezehrt. Ohne Umschweife stürzte er sich auf die Probleme in dem Programm und verbannte damit jegliche lästige Gedanken an Mina und Traiskirchen. Und für eine Weile gab es nichts außer seinem Laptop und dem Stetigen klicken der Tastatur.

Das knifflige Lösen von verdrehten Problemen war der Kern seiner Leidenschaft im Programmieren. Alles war logisch, alles hatte einen Sinn. Er merkte nicht wie die Zeit verging. Die Tür des Hörsaals wurde geöffnet und mehrere in Anzügen gekleidete Personen traten ein.

Einer davon war Professor Morosan, dann kam Dilo Gökmen, Luise Wagner und zum Schluss eine ihm unbekannte Frau. Sie hatte die Haare unter einem breiten Hut, die großen Augen blickten sich neugierig um. Ihre Kleidung war im Gegensatz zu ihren Begleitern auffallend luxuriös. Ein feines, schwarzes Kleid. An jeder anderen Person wäre es zweifellos unscheinbar, doch diese Fremde umgab eine Aura der Macht.

Sie kam ihm bekannt vor. Die Regierungsbeamten und deren Gast redeten leise miteinander. Jay bemühte sich ihnen keine zusätzliche Aufmerksamkeit zu schenken und den braven Studenten zu mimen. Unmöglich wie es schien. Zielstrebig traten sie an Jays Tisch. Morosan plusterte sich auf.

"Unsere begabteste Truppe. Sie konnten viele der Probleme in der App beheben. Leo Liberté hat großartige Arbeit beim GPS-markierungssystem geleistet. Und man darf die Arbeit von Amelia Nikolevic natürlich auch nicht vergessen. Wie Sie sehen, habe ich außergewöhnliche Studenten unterrichtet und deren volles Potential unserem Projekt zugeführt."

Verwundert warfen seine Freunde sich stumme Blicke zu. Morosan hatte ihnen gar nichts beigebracht. Er hatte ihnen nur Arbeit gegeben. Frau Wagner stellte noch einige Fragen, die offensichtlich von ihrem geheimnisvollen Gast kamen. Die blutroten Lippen der Fremden spitzen sich bei einigen Antworten verräterisch. Gökmen trat zu ihm.

"Jay, ich würde gerne mit dir sprechen.", es war ein Flüstern. Natürlich mochte er das. Kaum merklich nicht Jay. Die Regierungsbeamten verließen den Raum und ein erleichtertes Seufzen ging durch die Studentenschaft.

Nach zehn Minuten stand Jay leise auf und entschuldigte sich bei seinen Freunden. Er müsse das Klo aufsuchen. Seine Freunde reagierten mit genervten Nicken. Auf leisen Sohlen schlich Jay zu dem Zimmer, in dem er bereits einmal eine Unterredung mit Gökmen gehabt hatte.

Sicherlich würde er dort auf ihn warten. Und das tat er auch. Als Jay die Tür öffnete sah er sich einem gestresst wirkenden Dilo Gökmen gegenüber. Hastig schloss er die Tür, zeitgleich holte Gökmen sein Störgerät aus der Tasche. "Im Befolgen von Anweisungen bist du nicht besonders gut, Jay." 

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