14. Gefährliche Pläne

Das unscheinbare Zelt am Rande der unterirdischen Zeltstadt wurde durch eine einzelne Lampe erhellt. Als Jay gefolgt von Defne eintrat schluckte er hart, presste seine nervösen Fingerspitzen in die Hosentaschen. Falko stand dort, zusammen mit zwei Frauen und einem jungen Mann.

Alle starrten sie ihn an. Eine der Frauen hatte ein drittes Auge auf der Stirn, die andere, keine Haare. Der junge Mann nickte ihm freundlich zu. Seine schwarze Haut glitzerte im Lampenlicht. Falko verschränkte die Arme.

"Du willst mit uns sprechen, Jay, also sprich."

"Sollten wir uns nicht vorstellen?"

"Sollten wir nicht.", giftete Falko, "wir verschwenden hier sowieso nur unsere Zeit. Wir haben Wichtigeres zu besprechen." Damit meinte er zweifellos Oonas Fall. Und obwohl er ihm unter anderen Umständen zugestimmt hätte, musste Jay standhaft bleiben.

"Ich würde euch nicht zusammentrommeln lassen, wenn es nicht auch wichtig wäre."

"Du kannst das kaum beurteilen.", meinte die junge Frau ohne Haare. Ihre großen dunklen Augen waren nicht feindselig, aber vorsichtig. Die dreiäugige lächelte sanft.

"Ich kenne dich, Jay. Ich habe dich schon sehr oft in unserer Zuflucht gesehen. Öfter als du es solltest gemäß unserer Sicherheitsmaßnahmen. Aber irgendwie findest du deinen Weg zu uns und niemand hält dich auf. Du bist immer umgeben von Freunden, immer mit wertvollen Informationen oder Ressourcen. Aus diesem Grund habe ich zugestimmt, dass wir uns treffen. Deine Taten sprechen laut und ich werde sie nicht überhören. Was ist es, dass du uns sagen möchtest?", erwartungsvolle Stille.

Jay hörte seinen Puls in den Ohren rauschen. Er trat näher, nahm seinen Platz im Kreis der fahlen Lampe ein. Defne zog sich in die Schatten zurück. Er räusperte sich.

"Danke, dass ihr mir zuhört. Ich habe äußerst wichtige Informationen über den Verbleib unserer gefangenen Sakifreunde. Ich kenne den Ort an dem die Regierung sie gefangen hält."

Atem wurden eingezogen, ein Raunen ging durch die Runde. Die Haarlose schüttelte den Kopf. "Das kann ich nicht glauben. Wir suchen seit Jahren nach dem Gefängnis. Jahren! Sie verlegen sie, verstecken sie, es nimmt kein Ende. Woher hast du deine Informationen?"

Gute Frage. Verdächtige Frage. Jay wollte weder Gökmen noch seinen Deal erklären müssen und schüttelte vehement den Kopf. "Das ist doch jetzt völlig egal. Ich kenne den Ort. Und vermutlich halten sie dort auch Karls Tochter Amanda fest. Ich möchte, dass wir unsere Leute befreien."

"Amanda?", Falko schnaubte, " um sie geht es dir? Deshalb willst du hals über Kopf einer vermutlich falschen Spur folgen?" Ärgerlich biss Jay die Zähne zusammen. Er mochte den Ton des älteren Mannes überhaupt nicht.

"Das ist eine große Behauptung. Niemand hat das Sakigefängnis mit Bestimmtheit finden können. Wenn du sie wirklich gefunden hast, ist das eine große Sache. Bist du dir sicher?", fragte die dreiäugige Saki. Jay sah zu Defne. Ihre Miene verriet nichts. War es zu leicht gewesen? Hatte Gökmen ihn vielleicht belogen? Nein. Das glaubte er nicht. Aber die Menschen vor ihm ließen ihn zweifeln.

"Ich bin mir sicher." Falko schnaubte. "Und woher nimmst du diese Sicherheit?"

"Ich habe meine Quellen." "Und wir sollen darauf vertrauen, dass deine Quellen keine Falle planen?", Falko spielte den kleinen Teufel auf der Schulter. Stille, während diese Worte Jays Vorhaben durchlöcherten. Schließlich lächelte die Dreiäugige ihm zu.

"Ich will dir glauben. Wenn wir unsere Leute wirklich retten könnten, wäre das ein großer Moralbooster und würde die Regierung vielleicht daran erinnern, dass wir lebende, fühlende Menschen sind und keine Ratten, die man einfach wegschließen kann. Aber das Risiko ist nicht zu vernachlässigen. Du sagst, du kennst den Aufenthaltsort. Warst du schon dort?" Verwirrt hob er die Augenbrauen.

"Nein, natürlich nicht. Ich dachte, wir organisieren einen Rettungstrupp und hol die Leute da raus."

"So einfach geht das nicht. Hier in den Tunneln kennen wir uns aus. Das ist unsere Domäne. Aber an der Oberfläche sieht das anders aus. Ich würde sofort erkannt werden, die Polizei würde keine Sekunde zögern. Bei vielen unserer Mitstreiter ist das der Fall. Wir können nicht blind loslaufen. Das wäre Selbstmord." Ein Echo von Defnes Worten, aber so leicht würde er nicht aufgeben. Nachdenklich fuhr er sich durch die Haare. Es musste eine Möglichkeit geben.

"Ich möchte einen Vorschlag machen.", alle Augen ruhten auf der Dreiäugigen, ihre Ruhe war ansteckend, "Jay, du könntest die Gegend auskundschaften. Dir sieht man das Serum nicht an. Fahr dorthin und schau dich um, mach Fotos und erzähl uns alles."

Auskundschaften wäre ein Risiko. Besonders alleine...da kam ihm ein Gedanke. "Ich mache es. Ich werde Informationen sammeln und sie euch zukommen lassen. Unter der Bedingung, dass ich bei der Rettungsmission dabei sein kann. Ich möchte helfen." Die Dreiäugige nickte erfreut.

"Berichte was du siehst, und wir werden alles für eine Rettungsmission in die Wege leiten. Einen Plan erstellen. Einen richtigen Plan mit freiwilligen und einem Notfallplan, falls alle Stricke reißen.", sie sah in die Runde, "aber ich bin der Meinung, dass wir diese Rettungsmission brauchen. Unsere Leute brauchen Hoffnung. Wir können uns nicht mehr lange in den Tunneln verkriechen, das ist kein Leben, für niemanden von uns. Die Regierung, die Bevölkerung muss sich mit uns abfinden."

"Und wenn sie das nicht tun?", die Wut in Falkos Augen loderte heller als die Lampe. Jay hatte noch nie eine solche Wut gesehen. Sie machte ihm Angst.

"Wir werden einen friedvollen Weg finden. Zuerst müssen wir an unsere Leute denken.", der tiefe Bariton des schwarzhäutigen Mannes hing in der Luft wie gutes Parfüm. Vorsichtig sah er dem zurückhaltenden Mann in die Augen und bemerkte eine ungeahnte Energie dort. Auch in ihm loderte Kampfgeist, aber von anderer Sorte als der Falkos.

"Ich stimme zu. Jay soll sich dort umsehen.", merkte die Haarlose an und widerwillig gab Falko nach. "Na gut. Dann zeig uns wie gut deine Quellen sind." Damit war eine Entscheidung getroffen. Die Lampe wurde gelöscht und die Führungsebene der Sakis zerstreute sich in alle Richtungen. Jay trat aus dem Zelt. Defne berührte ihn an der Schulter, in ihrem Blick lag Besorgnis.

"Ich hoffe, du weißt, was du da tust." Das hoffte er auch, aber er hatte keine andere Wahl. Es war seine Schuld, das Amanda in diesem Gefängnis saß, er würde sie nicht im Stich lassen. Seine Freundin verschwand in den Gassen der Zeltstadt. Das war alles viel. Oona, die Regierung, eine Rettungsmission und nun musste er sich einen Plan überlegen, wie er an die benötigten Infos zu diesem Gefängnis kam. Seufzend fuhr er sich über die Haare. Wo sollte er anfangen?

"Du nimmst viel Risiko für Amanda auf dich. Gibt es einen Grund?", hörte er den bekannten Bariton erneut. Der junge Mann stand plötzlich neben ihm. "Ähm, ja, nein, ich hätte sie eine Freundin genannt. Ich kannte beide, sie und ihren Vater lang genug, um sie zu vermissen. Ich hab Karl gebeten den neuen Mitarbeiter einzustellen und jetzt ist er tot. Amanda ist meine einzige Chance es wieder gutzumachen."

"Schuldgefühle können ein guter Motivator sein. Pass nur auf, dass sie dich nicht zu einem unbedachtem Risiko verleiten." "Hältst du meinen Plan für bescheuert? Oder zu gefährlich? Ich weiß, dass ich viel verlange. Aber wenn wir nichts tun...wie können wir damit leben?"

Der Fremde reichte ihm die Hand. "Ich bin Viktor. Amandas Verlobter und nein. Dein Plan ist alles andere als dumm. Wahnsinnig gefährlich ja. Aber ich habe nur auf eine Möglichkeit gewartet für Amanda zu kämpfen. Ich weiß, dass es vielen in der Zeltstadt ähnlich geht. Die meisten von ihnen haben Geliebte im Gefängnis. Danke, dass du mir eine Chance gibst. Für sie zu kämpfen ist alles, was uns noch bleibt."

Jay blickte über die verteilten Menschen, die Sakis, zusammengedrängt, verängstigt. Würden sie ihm wirklich helfen? "Wird es Freiwillige für die Mission geben?"

"Mehr als du denkst.", raunte Viktor und neigte den Kopf. Mit dieser Verabschiedung ging er. Jay hatte kaum Luft geholt als noch jemand aus den Schatten auf ihn zu kam. Oona trat zögerlich näher, die dunklen Augen groß mit Sorge, die Hände verknotet.

"Wie ist es gelaufen?" "Besser als erwartet.", antwortete er mit einem Lächeln und zog ihre Hand in seine. Die warme Haut ihrer Finger überraschte ihn, irgendwie hatte er mit Kälte gerechnet. Schnell verwarf er den Gedanken und konzentrierte sich auf die Frau vor ihm.

"Also wirst du dich wieder in Gefahr begeben? Langsam weiß ich warum deine Schwester ständig so nervös ist." Ein wunder Punkt. Jay verzog die Lippen und hastig ruderte Oona zurück.

"Tut mir leid. So war es nicht gemeint." Er winkte ab und sah auf die Uhr. Es war spät geworden. Die Müdigkeit ersetzte das Adrenalin in seinen Adern mit rasender Geschwindigkeit. Er sehnte sich nach einem warmen Bett. Leider würde es nur Minas Sofa werden. Hoffentlich hatte sie zumindest ein Schlafsofa.

"Möchtest du mir zum Ausgang begleiten?", ein wenig ruhe mit Oona alleine würde seine Nerven beruhigen, zumindest hoffte er das. Sie nickte lächelnd. Geschickt spazierten sie durch die engen Gassen zu dem Ausgang, der ihn zu Minas Haus bringen würde. Es war noch ein langer Weg durch die Dunkelheit, aber was tat man nicht für die Gerechtigkeit.

"Hast du dein Ziel erreicht? Werden sie dir helfen Amanda zu befreien?", ihre zaghafte Frage offenbarte Furcht. Zärtlich strich er über ihren Handrücken.

"Ja, und nein. Sie wollen nichts unternehmen bevor sie nicht mehr wissen. Was gut ist. Mein Plan einfach hereinzuspazieren war vermutlich nicht sehr ausgereift."

"Vermutlich." "Ich werde mich dort umsehen." "Wo?" "Na im Gefängnis. Oder zumindest in der Umgebung." Schockiert ließ sie seine Hand los und blieb vor dem verborgenen Ausgang stehen.

"Das ist nicht dein Ernst. Ganz alleine? Das ist doch viel zu gefährlich!" "Es ist ein Risiko sicher, aber ein kalkulierbares. Ich muss mir nur was überlegen, damit ich nicht zu verdächtig aussehe. Ich dachte an Mina. Vielleicht will sie eine Freundin spielen. Das hat schon mal geklappt." Oonas Augen schienen Feuer zu sprühen.

"Mina?! Du willst sie damit reinziehen. Sie hat keine Kräfte, keine Möglichkeit sich zu wehren." "Sie ist ziemlich kräftig und ich glaub sie kann Selbstverteidigung."

"Selbstverteidigung?", unterbrach sie ihn unwirsch, offenbar hatte er sie damit wütend gemacht, "Glaubst du das hilft ihr, wenn sie ihr mit Pistolen um die Ohren schießen?"

"Nein, aber so weit wird es nicht kommen.", versuchte er sie zu beschwichtigen, "wir werden dort spazieren gehen und niemand wird etwas vermuten. Das wird klappen." "Ich will nicht, dass du sie mitnimmst. Lass sie in Ruhe. Ich gehe mit dir." Er überwand den Abstand zwischen ihnen und umfasste ihre Schultern.

"Du wirst überall gesucht. Wenn du nur einen Schritt hinausmachst, hat die Regierung dich und das wäre schlecht. Sehr schlecht. Niemand sucht nach Mina. Sie ist nicht in Gefahr. Ich will sie nur fragen. Wenn sie nein sagt, habe ich meine Antwort sowieso."

Widerwillig ließ sie sich in eine Umarmung ziehen, er konnte ihr den Zorn auf ihre Situation deutlich ansehen. Und er verstand sie. Das Gefühl in der Zeltstadt eingesperrt zu sein war furchtbar und es nagte an jedem einzelnen Bewohner. Die Dreiäugige hatte recht. Sie brauchten Hoffnung.

"Okay, ich schätze du kannst sie fragen, aber wundere dich nicht, wenn sie nein sagt. Sie ist nicht der Typ für Risiko." "Nicht? Das hätte ich nicht erwartet. Sie wirkt ziemlich tough."

"Ist sie auch, nur nicht risikofreudig. Wir hatten öfter mal die Gelegenheit auf verbotene Partys zu gehen, aber sie hat sich immer strikt geweigert." Das war eine besonnene Entscheidung.

Am Anfang der Ausgangsbeschränkung hatte es noch einige dieser illegalen Zusammenkünfte der Jugend gegeben, mittlerweile war das Risiko für die meisten zu groß. Es gab immer noch vereinzelt Partys von sehr mutigen Feierlustigen, aber fortgehen, wie in seiner Jugend gab es nicht mehr.

Evelyn hatte ihre wilden Jahre zuhause verbracht. Er vermisste das Tanzen, weniger den Alkohol und die Musik. Die Musik vermisste er wirklich.

"Du und Mina. Ist da mehr?", fragte er sanft. Die Frage war ihm schon eine Weile im Kopf herumgespuckt. Er wollte sich nicht in seine komplizierte Beziehung drängen, vor allem wenn Liebe im Spiel war. Oona lächelte leicht über seine Worte und lehnte den Kopf an seine Schulter.

"Nein. Wir sind Freunde, fast ein bisschen wie Schwestern. Als ich hierhergezogen bin, war ich sehr einsam. Ich kannte niemanden und die Welt erschein mir ein bisschen zu groß. Ich glaube Mina ging es genauso. Sie wirkte verloren und genauso allein wie ich."

"Hatte sie keine anderen Freunde? Sie lebt doch schon länger in Wien, oder?" Oona zuckte mit den Achseln, "Ich habe nie andere Menschen in ihrer Umgebung gesehen. Ganz sicher keine Freunde. Ihr Vater kommt hin und wieder vorbei, aber außer Streiten tun die beiden nichts." Das klang mehr als einsam, eher isoliert. Was war in Minas Vergangenheit passiert, dass sie diesen Weg für sich wählte?

"Was ist mit dir? Wo ist deine Familie? Du hast mir nie von ihnen erzählt." Oona sackte noch mehr gegen ihn. "Ist eine lange Geschichte. Die Kurzfassung ist ein abwesender Vater, eine überarbeitete Mutter und eine strenge Großmutter. In dem Dorf, in dem wir lebten gab es nichts von Interesse für mich. Deshalb der Neuanfang. Das ich einen weiteren machen muss, daran hab ich nie gedacht. Mutter und Oma würden ausflippen, wenn sie wüssten, dass ich eine Saki bin."

So wie viele andere auch. Er drückte sie an sich. Es sollte ihr ein wenig von seiner Wärme geben, der Wärme seiner liebenden Familie. In diesen Zeiten offensichtlich ein rares Gut. Schließlich ließ er sie los. "Ich wünschte, ich könnte dich mitnehmen."

"Kommst du bald wieder?" "Sobald ich kann. Versprochen."

Sie waren sich nahe, ihr heißer Atmen streifte seine Wangen. Jay lächelte leicht und beugte sich vor. Ohne Zögern ging Oona den Rest des Weges. Es war ein süßer Kuss, leicht und zaghaft. Sie roch nach blumiger Erde, ihre Haut war ein samtiges Gewand. Ihr Haar kitzelte seine Wangen, es war unendlich weich zwischen seinen Fingern. Das altbekannte Feuer begann sich durch seine Andern zu drängen. Er fühlte sein Herz springen und dachte....an Kälte. Blaue Augen blitzen in seinem Kopf auf und hastig zog er sich zurück. Verwundert hob Oona die Augenbrauen.

"Was ist?" "Nichts. Nichts, ich muss nur wirklich los. Sonst erwischt mich die Polizei doch noch. Ich komme bald wieder." "Okay. Ich warte hier. Gibt ja anscheinend sonst keinen Ort für mich."

"Tut mir leid.", Er küsste ihre Wange und ging los. Er ließ sie zurück, die Schultern hochgezogen und ein komisches Gefühl im Bauch. Er sah auf seine Hände und schüttelte den Kopf. Was war nur los mit ihm? Über seine eigenen Gedanken verwirrt legte er die Hand an die eiskalte Wand und begann sich seinen Weg durch die Dunkelheit zu lotsen.

Die Kälte ließ ihn immer wieder an klirrende Augen denken, das kurze blonde Haar. Mina. Warum sie? Dankbar flüchtete er tiefer in die Finsternis, genoss die Ruhe und verbannte seine Gefühle für diese sehr unterschiedlichen Frauen. Er hatte wichtigeres zu tun. Er musste Pläne aushecken. Oder so...

Es dauerte keine Minute, da drehten sich seine Gedanken im Kreis. Oona, Mina, Amanda, Karl und nicht zuletzt Evelyn. Seine Familie und die Tatsache, dass er sie wieder in Gefahr bringen musste, um seinen eigenen Ansprüchen auf Gerechtigkeit nachzukommen. Aber eine andere Möglichkeit sah er nicht.

Sein Kopf begann zu schmerzen und der Magen knurrte laut. Wann hatte er das letzte Mal etwas gegessen? Oder getrunken? Seine schweren Beine trugen ihn voran, bis endlich die Markierung zu seinem Ausgang auftauchte und er über die Leiter durch das Loch in einer Mauer kletterte.

Ein schwerer Müllcontainer verbarg den Eingang in die Tunnel. Bemüht leise schob er sich dahinter hervor und hinaus auf die Straße. Am Himmel erkannte er den Mond und die Sterne.

Es war knapp eine Stunde nach Mitternacht. Ein Frösteln lief über seine Arme und er zog den Pulli enger um seinen Körper. Trotz der Müdigkeit zwang er sich auf seine Umgebung zu achten, die Straßenschilder zu suchen und nicht langsam zu werden. Für langsam hatte er keine Zeit, denn mit jeder Sekunde im Freien erhöhte sich die Chance von der Polizei erwischt zu werden.

Keuchend blieb er vor Minas Wohngebäude stehen und schickte ihr eine sms mit einem einzelnen Smiley. Nichts Aufregendes, nichts dass irgendwer für verdächtig gehalten hätte. Beinahe sofort wurde die Tür geöffnet und die junge Frau zog ihn ins Innere.

Im Halbdunkel einer altersschwachen Lampe sahen sie sich an. Sie deutete ihm kein Wort zu sagen und hinter ihr die Treppen hinaufzuschleichen. Als er in den Aufzug steigen wollte, schüttelte sie wild den Kopf und zeigte auf ihre Ohren. Er wäre so gerne mit dem Aufzug gefahren, doch Minas Gesichtsausdruck war eindeutig. Zu viele neugierige Nachbarn.

Er trottete mühselig die Stiegen hinauf und blieb keuchend vor der Wohnungstür stehen. Mina schloss auf und schob ihn hinein. Als die Tür endlich ins Schloss fiel atmeten sie beide erleichtert auf.

"Du bist spät.", flüsterte sie und zog ihn das enge Vorzimmer entlang ins Wohnzimmer. Ihre Wohnung war...anders. Er hatte mit viel Schwarz und Metalzeug gerechnet, aber die Wände waren von einem sanften blau. Eine einzelne Lampe erhellte das Zimmer, die großen Lichter wagten sie nicht aufzudrehen.

Das Sofa definitiv selbst gebaut, niedrig und riesig nahm den meisten Platz ein. Eine Kingsize Matratze umgeben von gefühlt hundert bunten Polstern. Ein Boxsack hing in der Mitte des großzügigen Raumes.

Die kleine Küche war kaum der Rede wert. Hatte Oona nicht erwähnt, dass Mina eine gute Bäckerin war? Warum war die Küche dann so klein? Wieder etwas das an dieser Frau keinen Sinn ergab.

"Ich hab das Sofa hergerichtet. Brauchst du sonst noch was?", erst in diesem Moment fiel ihm ihr Outfit auf. Der übergroße braune Pulli hatte Oxford Universität auf der Brust. Und die rostrote Sweatpants war auch kaum, was er erwartet hatte. Verwundert hob er die Augenbrauen.

"Was ist?" "Du trägst andere Farben als schwarz."

"Ist das verboten?" "Nein, ich hab dich nur noch nie in etwas anderem gesehen. Sieht gut aus." Sie verdrehte die Augen. "Okay, du bist offensichtlich sehr müde. Wie wärs, wenn du jetzt schlafen gehst."

"Warte, ich brauch was zu essen und hast du zufällig ein Shirt, in dem ich schlafen kann?" Ihr genervter Seufzer brachte ein Lächeln auf seine Lippen, dennoch trat sie in die Küche und holte einen halben Kuchen aus dem Kühlschrank. Mit großen Augen sah er auf das Backwerk.

"Zitronenkuchen. Mehr hab ich momentan nicht." "Das nehm ich auch." Sie stellte ihm den Kuchen vor die Nase an den kleinen, runden Esstisch. Danach verschwand sie ins Schlafzimmer. Was für ein Glück! Zitronenkuchen! Er nahm den ersten Bissen und riss die Augen auf. Der war wirklich gut. Also erstaunlich gut.

Mina trat mit einem Shirt aus dem Zimmer und legte es neben ihm auf den Sessel. Mit zwei Meter Abstand beobachtete sie ihn von der Küche aus.

"Der Kuchen ist super. Woher hast du ihn?" "Gebacken. Ich...musste nachdenken. Backen hilft da üblicherweise." Also doch eine gute Bäckerin. Er wischte sich die Hände ab und griff nach dem Shirt.

Mina beobachtete jeder seiner Bewegungen, es war fast schon ein wenig unheimlich. Es war ein einfaches, graues Shirt, ohne Schrift oder Logo. Und es war groß. Definitiv Männergröße. Woher sie es wohl hatte?

"Danke." "Kein Ding. Sonst brauchst du nichts?" "Nein, ich bin echt froh, dass du mich hier schlafen lässt."

"Sicher. Morgen kannst du mir ja alles erzählen. Es war ein langer Tag." Sie hatte keine Ahnung. Jay fühlte sich hundert Jahre älter. Er nahm noch einen Bissen.

"Gute Nacht.", Mina winkte ihm und verschloss die Schlafzimmertür. Er war allein. Allein mit seinen Gedanken, seinen Ängsten und seinen Plänen. Stöhnend zog er sich das Schlafshirt an und legte sich auf das Sofa.

Er versank in der weichen Matratze und beinahe augenblicklich in einen traumlosen Schlaf. 

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