10. Frisch aus dem Gefängnis

Seine Augenlieder waren so verdammt schwer. Er musste dringend pinkeln schaffte es vor den unzähligen Augen seiner Mitgefangenen aber nicht und zu allem Übel war ihm vor lauter Hunger schlecht.

Als die Sonne endlich durch die kleinen Fenster strahlte war es, als würde ein kollektives Seufzen durch die Gefangenen gehen. Keiner von ihnen schien auf Ärger aus und bis auf die Unterdrückung seine körperlichen Bedürfnisse war es eine ruhige Nacht gewesen.

Mit der Sonne kam leben in das Polizeipräsidium. Er hörte Schritte und Stimmen, das gelegentliche Klimpern von Kaffeetassen. Seine Augen zuckten nervös zur Uhr an der Wand. Jeden Moment...jeden Moment musste ein Beamter reinkommen und sie entlassen. Jay zählte die Sekunden, um sich abzulenken. Um punkt sieben kam endlich ein Polizist herein.

Er wirkte ausgeruht, trug eine Kaffeetasse und ein Lächeln im Gesicht. "Guten Morgen, mein Herren. Es freut mich, dass Sie sich die Nacht über so gut benommen haben. Nach einem kurzen Gespräch und einer Unterschrift werden wir Sie in die Hände ihrer Verwandten geben. Wer niemanden hat wird von unserer Streife nach Hause gebracht."

Die Männer drängten sich ungeduldig gegen die Zellentür. Jeder wollte der erste sein, doch Jay musste die Information erst verdauen. Wenn seine Familie informiert worden war, gab das mehr als Ärger. Seine Mutter machte sich ohnehin nichts als Sorgen. Diese kleine Episode würde ihnen das Herz brechen.

"Jonathan Haller?" "Anwesend." "Das würde ich meinen. Du kommst mit mir.", der Polizist deutete ihn zu folgen. Mit schlurfenden Schritten kämpfte er sich den Gang zum Verhörzimmer. Als sie an einer Toilette vorbeikamen, konnte er es nicht mehr aushalten.

"Kann ich? Bitte, ich muss schon so dringend." "Wieso haben Sie das nicht in der Zelle erledigt." "Weil da zu viele Menschen waren. Bitte." Der Polizist erbarmte sich seufzend. "Du hast dreißig Sekunden. Zwing mich nicht, dich da rauszuholen."

"Danke.", Jay lief los. In seinem Leben war er noch nie so froh gewesen sich erleichtern zu können. Nie wieder würde er seine privattoilette zuhause mit denselben Augen sehen. Hastig beeilte er sich zurück. Zumindest würde er nun auf die Fragen antworten können und nicht nur das Rauschen in seinen Ohren hören. Der Polizist brachte ihn in einen fensterlosen Raum mit einem Tisch und drei Stühlen. Erinnerte Jay erschreckend an einen dieser Krimifilme. Misstrauisch setzte er sich hin, der Beamte ihm gegenüber.

"Name?" "Denn wissen Sie schon." "Name?" "Jonathan Haller." "Beruf." "Student." "Sie wurden nach der Ausgangsbeschränkung ohne Genehmigung oder Grund aufgegriffen. Und hier steht, dass Ihre Begleitung die Flucht ergriffen hat und Sie sich gewährt haben."

"Das ist gelogen. Es war vor der Ausgangsbeschränkung. Ich würde niemals danach unterwegs sein und die Polizisten waren äußerst grob." "Ist das der Grund, weshalb Sie flüchten wollten?"

Nein, scheiße, der Grund war, dass er einer Rebellengruppe angehörte und sich eine Verhaftung nicht leisten konnte. Er musste schnell etwas sagen oder lügen oder der Mann ihm gegenüber würde ihm keinen Glauben schenken. "Ich wollte nicht mit ihr gesehen werden. Sie ist...die beste Freundin meiner Freundin. Und meine Freundin ist echt eifersüchtig.", er hoffte inständig, dass er ihm glauben würde. Der Beamte lehnte sich zurück.

"Aha, das würde auch ihre Flucht erklären. Passt perfekt. Schade nur das in der Realität niemals alles perfekt passt. Was verheimlichen Sie?"

"Gar nichts.", er schob Panik. Harte Panik, "ich bin einfach nur ein äh...Programmierer und..äh arbeite an einem Projekt für die Regierung. Ich habe nichts zu verbergen. Wenn Sie mir nicht glauben, rufen Sie im Büro von Herrn Dilo Gökmen an. Er kann es bestätigen."

Der Name eines Regierungsmitglieds wirkte wahre Wunder. Sofort änderte sich die überlegene Haltung des Polizisten. Er räusperte sich und verschwand aus dem Raum. Jay hielt nicht viel von Beten und Hoffen, doch in diesem Augenblick hoffte er inständig das Gökmen ihn nicht ans Messer liefern würde.

Die Minuten verstrichen, Jay schwitzte. Sein Shirt klebte am Rücken, von seiner Hose ganz zu schweigen. Endlich kam der Polizist wieder in den Raum. Etwas blasser als zuvor. Er legte eine Akte auf den Tisch und setzte sich steif auf den Stuhl Jay gegenüber.

"Ich habe mit meinen Vorgesetzten gesprochen, dieser hat mit Herr Gökmen gesprochen und jetzt-" "Und jetzt? Darf ich gehen?", unterbrach Jay hoffnungsvoll und biss sich in die Unterlippe. Er musste vorsichtiger sein. Je weniger er von sich gab umso besser. Der Polizist nickte langsam.

"Herr Gökmen hat Ihre unschätzbare Arbeit an diesem Regierungsprojekt bestätigt. Und auch, dass Sie sich nichts zu Schulden kommen lassen würden. Ich darf Sie also nach einer kleinen Unterschrift entlassen." Er schob ihm die Akte zu. Nervös nahm Jay sie entgegen und schlug die erste Seite auf. Rechtlicher Kauderwelsch kam ihm entgegen.

"Was ist das?" "Nur ein standardisiertes Dokument. Sie plädieren darin auf Schuldig eines Vergehens gegen die Ausgangsbeschränkung und stimmen einer Überprüfung sämtlicher privaten Daten zu. Dafür entlassen wir Sie in die Obhut Ihrer Verwandtschaft."

Damit er nicht fliehen würde, während die Polizei sein Leben durchleuchtete. "Ich habe nichts falsch gemacht. Warum sollte ich schuldig plädieren?" Der Polizist beugte sich vor. "Weil wir sonst davon ausgehen müssen, dass Sie noch viel schlimmere Vergehen begangen haben und eine längeren Inhaftierung notwendig ist, bis wir sicher sein können, dass Sie keine Gefahr sind."

Sie würden ihn durch irgendwelche bescheuerten Gesetzeslücken und selbst gebaute Rechtslöcher auf unbestimmte Zeit einsperren. Und Sie würden sein Leben trotzdem auf den Kopf stellen. Scheiße. Jay ballte die Hände zu Fäusten.

"Das ist Erpressung. Wenn Herr Gökmen-" "Herr Gökmen kann Sie nur so weit bringen. Sie wollten vor der Polizei fliehen, ihre Begleitung ist geflohen. Das sind handfeste Verdachtsmomente, mit denen wir Sie noch sehr lange bei uns behalten könnten. Gökmen haben Sie dieses Angebot zu verdanken. Mehr nicht. Also unterschreiben Sie oder darf ich eine dauerhafte Zelle vorbereiten lassen?"

So ein verdammter Mist. Er raufte sich die Haare. Seine Augen schmerzten, die Sicht verschwamm. Er war so müde und konnte die Zeilen vor ihm nicht mal klar lesen. Aber um nichts in der Welt würde er noch eine Nacht in dieser Zelle verbringen. Sollten diese Mistkerle ihn doch durchleuchten, sie würden nichts finden. Dafür war er zu vorsichtig gewesen. Viel zu vorsichtig. Mit zittrigen Fingern unterschrieb er den Vertrag. Der Polizist riss ihn sofort an sich und stand auf.

"Gut. Kommen Sie mit. Ihre Schwester wartet schon." Seine Schwester? Dieser Bastard, er hatte genau gewusst, dass Jay unterschreiben würde, wie sonst hätte seine Schwester so schnell ankommen sollen. Langsam hinter seinem Häscher trottend, versuchte er ruhig zu bleiben.

Sobald er zuhause war, musste er noch einmal alle seine Aufträge durchgehen, Beweise vernichten. Sie traten in den Vorraum. Zu viele Menschen warteten dort, um ihre Liebsten abzuholen. Jedem von ihnen stand die Sorge und Panik sowie eine schlaflose Nacht im Gesicht. Bei Evelyn war es nichts anderes.

Sie stand mit hochgezogenen Schultern neben Oona, die Haare verschwuschelt, die Kleidung zerknittert. Als sie ihn sah, rannte sie sofort in seine Arme. Ihre Wärme vertrieb einen Teil seiner Kälte. Erleichtert sah er in ihr Gesicht.

"Evie, was machst du hier?" "Sollte ich Mama und Papa herkommen lassen? Ich hab abgehoben als die Polizei angerufen hat. Unsere Eltern haben schon genug Sorgen. Das hier bleibt unter uns."

Sie hatte seine Gedanken gelesen. Jay gab ihr einen Kuss auf die Wange und schenkte Oona ein kleines Lächeln. Was tat sie hier? Ein Beamter reichte ihm persönliche Gegenstände und zwischen den Beiden Frauen eingekeilt gingen sie ins Freie.

Es war früher Morgen, die Sonne wärmte nur bedingt und ein eisiger Wind wehte. Evelyn reichte ihm einen Hoodie. "Ich dachte nach so einer Nacht brauchst du was kuscheliges." Er lächelte über diesen Gedanken. Oona nahm seine Hand.

"Es tut mir leid. Alles. Ich dachte nicht, dass zwiebeln holen solche Konsequenzen haben könnte. Wenn ich das gewusst hätte..." "Du hättest es unmöglich ahnen können. Es gab noch keine Ausgangsbeschränkung als wir los gingen. Wir hatten Zeit. Wir waren sicher...bis diese Polizisten. Ach, passiert ist passiert."

Sie wirkte erschöpft, blass und statt ihren farbenfrohen Kleidern trug sie schwarz. Diese ganze Geschichte schien ihr schwer zu fallen. "Ich lebe. Das ist das Wichtigste.", flüsterte er und umarmte sie fest. Am liebsten hätte er die Sorge aus ihren Knochen gepresst. Ein Ding der Unmöglichkeit.

Sie gingen weiter, ihr Ziel war die Bushaltestelle. Jay ließ sich führen. Er war zu müde, um auf seine Umgebung zu achten. Gerade deswegen war Minas Anblick ein kleiner Schock. Sie wartete ungeduldig bei der Bushaltestation. Sie trug eine Mütze und ein weites rotes Flanellhemd, sowie zerrissene Jeans.

Jay kam mit seinen Begleitern näher, nah genug um die Augenringe und den verbissenen Zug um ihre Lippen zu sehen. Er sah ihr in die eisig blauen Augen und wartete. Oona trat vor und wollte intervenieren, Mina hielt sie auf.

"Diese Sache ist zwischen uns, Oona." Weitere Sekunden vergingen, sie starrten einander in die Augen, tausend Gedanken rasten auf einmal. In Jay tobten Wut, das Gefühl verraten worden zu sein und eine erschreckende Erleichterung. Sie kam in einer Intensität, dass es ihm fast den Atem raubte. Mina seufzte.

"Ich werde mich nicht entschuldigen.", das hatte er auch nicht erwartet, "ich habe mich geschützt und obwohl es scheiße ist, dass sie dich gekriegt haben, bin ich froh, dass ich schneller war."

"Du hättest ihn helfen müssen.", warf Evelyn ein, die Abneigung gegen Mina war mit Händen greifbar. Selbst Oona war über ihre Worte erbost. Er hob die Hände, den Blick unverändert auf Mina.

"Nein, hätte sie nicht. Sie hätte nichts tun können. Gar nichts. Ich stand zu nahe dran, hab mich zu viel unterhalten. Ich hätte mitkriegen müssen, was diese Mistkerle vorhatten. Mina war klüger. Ich will keine Entschuldigung von dir, dafür nicht. Zumindest ist einer Entkommen." Überraschung blitzte in dem Blau ihres Blickes.

"Ist das dein Ernst?", entfuhr es Evelyn, doch weiter kam sie nicht. Der Bus kam und in vollkommener Stille stiegen sie ein. Zu viele Pendler traten den Weg zur Arbeit an und das bedeutete zu viele Ohren konnte lauschen.

"Lass uns reden. Du, ich und Oona.", hauchte Mina und da war es das Fünkchen vertrauen, dass er sich von Oona erhofft hatte. Er nickte und nahm Oonas Hand. Endlich würde er Fortschritte machen. "Evelyn, du solltest nach Hause fahren."

"Den Teufel werde ich tun.", zischte sie und verschränkte die Arme, "ich hab dir gerade einen Riesen Gefallen getan. Ich bleibe bei dir." Nervös sah er sich um, er wollte kein Aufsehen erregen, er durfte es nicht. Das Gefühl beobachtet zu werden saß tief in seinem Magen.

"Wenn du dir sicher bist.", antwortete Mina statt ihm. Er hatte kein Recht Evelyns Entscheidung zu revidieren, auch wenn er als großer Bruder das Bedürfnisse hatte sie vor allem Schlechtem zu bewahren. Sie war erwachsen und hatte ihn gerade gerettet, sie verdiente ein Mitspracherecht.

"Okay.", ein kleines Lächeln wanderte zwischen ihnen und erstaunt fühlte er Minas interessierte Augen auf sich. "Hier lang.", Mina führte sie. Der Weg ging zurück zu Spring Rabbit. Wo alles begonnen hatte. Wie selbstverständlich sperrte sie die Türen auf und trat in die leere Halle.

"Die Leute kommen erst gegen halb Neun.", meinte sie und ging weiter zu einer Hintertür auf der Büro stand. "Was ist mit Albert, dem Chef? Wann kommt er?" "Gegen acht. Ich habe ihm gesagt, dass ich den Raum brauche." Eine Treppe führte hinunter in den Keller.

"Und da hat er dir mal eben die Schlüssel gegeben und zugestimmt." Mina stand im Türrahmen zum Keller und zuckte mit den Achseln. "Er vertraut mir." Jay hatte in den letzten Jahren zu viele Keller gesehen. Als sie alle in dem hell erleuchteten Büro standen, sperrte Mina die Tür oben ab und drückte auf einen Knopf. In der Halle hörte man Musik. Sie trat zu ihnen und nahm die Mütze ab. Die blondierten Haare standen in alle Richtungen ab.

"Hier können wir reden." "Bist du sicher?", Jay sah sich um. Mehrere Bürotische, ein Kühlschrank, eine Lounge und ein kleiner Sportbereich unterteilten den Raum in verschiedene Bereiche. Oona ließ sich auf das Sofa fallen, Mina griff in den Kühlschrank und holte ein Sandwich hervor. Es ihm reichend, nahm sie neben Oona auf einem breiten Sessel Platz.

Verblüfft besah er sich das Sandwich. Hatte sie das extra für ihn gekauft? Woher hatte sie gewusst, dass er ihr nicht böse sein würde? Ach, auch egal. Wie ein hungriger Wolf stürzte er sich auf das Essen und ließ sich dabei in einen der Sessel fallen. Evelyn blieb stehen. Sie ging mit langen Schritten im Raum herum.

"Okay, können wir nochmal darüber reden, wie du meinen Bruder den Löwen zum Fraß vorgeworfen hast?" "Evie bitte. Es gibt wichtigeres.", kommentierte Jay mit vollem Mund. Seine kleine Schwester warf die Hände in die Luft.

"Wichtigeres als deine Sicherheit? Wenn wir ihr nicht vertrauen können...." "ich vertraue ihr.", Jay hatte die leere Verpackung auf den Couchtisch vor ihm geworfen, "und ich weiß Oona vertraut ihr."

"Und wir vertrauen Oonas Urteil weil...? In Wahrheit kennst du keine der Beide! Kaum lernst du sie kennen, landest du im Knast. Das klingt nicht nach einer förderlichen Freundschaft." Unglücklicherweise. Die Haare raufend versuchte er die richtigen Worte zu fassen. Soweit es diese gab.

"Du kennst nicht das ganze Bild, Evie. Es gibt Dinge, die ich dir nicht erzählt habe." "Und die wären?" Er atmete tief durch und warf Mina einen Blick zu. War sie bereit ihn zu unterstützen? Die Frau vor ihm nickte leicht. "Es geht um Oona."

"Um mich? Wieso das denn?", nervös strich sie ihre Haare zurecht. Mina übernahm, sie griff nach Oonas Hand. "Du bist in Gefahr." "Ich habe den Auftrag bekommen, dich über genau diese drohende Gefahr zu informieren." Oona sah zwischen ihnen hin und her.

"Was? Ihr zwei macht mir Angst." Verwirrung zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab, Mina stöhnte genervt. "Jay wurde geschickt. Von wem ist relativ egal. Ob Rebellen oder Gang oder von seiner Oma. Das ist egal. Die Gefahr ist real. Die Regierung hat bereits einige Beobachter in unserer Nähe platziert. Ich habe angenommen, Jay sei einer von ihnen und so ganz will ich diesen Verdacht nicht loslassen, aber es wird etwas gespielt, Ooni. Etwas stimmt nicht. Das musst du doch auch bemerkt haben."

Ein Schatten wanderte über die sonst fröhlichen Gesichtszüge der jungen Frau. "Ich wollte es nicht sehen." "Also hast du sie bemerkt?", Jay hatte Naivität angenommen, nicht Verleugnung. Oona nickte langsam. "Ich hatte gehofft, dass sie von alleine wieder weggehen."

"Das werden sie nicht. Die Regierung hält dich für eine Saki. Eine mächtige Saki, zumindest nach dem Aufwand, den sie betreiben." Ihre Freundin begann den Kopf zu schütteln, "Nein, das kann ich nicht sein. Ich bin nicht..."

"Du bist keine Saki?", fragend hob er die Augenbrauen. Evelyn trat still und heimlich hinter ihn und hörte gebannt zu. Für einige Sekunden herrschte vollkommene Stille, bis auf die Musik in der Halle über ihnen. Schließlich hob Oona die Hand.

Mit Tränen in den Augen begann sich ein Funke zwischen ihrem Daumen und Zeigefinger zu bewegen. Blau gleißend sprang er von Finger zu Finger. Es war wunderschön und beängstigend zugleich. Eine Gänsehaut überzog seine Arme. Das war es. Elektrizität. Oona war ein laufender Generator. Was würde die Regierung für kostenlosen Strom geben, eine Möglichkeit unabhängig saubere Energie zu produzieren.

Oona schniefte laut, holte ihn damit aus seinen Gedanken. Eine grausige Einsamkeit stand in ihren Augen, Jay konnte es nicht ertragen. Er war vor nicht allzu langer Zeit ebenfalls in dieser Situation gewesen. Kommentarlos nahm er die Zimmerpflanze aus ihrer üblichen Ecke und stellte sie vor sich auf den Tisch.

Sein Lächeln sollte ermutigend wirken. Unter seiner Berührung begann die Pflanze zu wachsen. Immer weiter und höher und grüner. Oonas Augen waren tellergroß. "Du bist ein Saki."

"Genau wie du. Ich weiß, wie schwierig das sein kann. Wenn man einen Teil von sich immer unterdrücken, verstecken muss. Und dabei ist meine Fähigkeit noch relativ passiv unterwegs." Sie lachte erleichtert. Und damit war das Eis gebrochen.

"Ich hab ihm beim Training geholfen.", Evelyn setzte sich stolz neben ihn auf einen der Sessel. "Das muss schön gewesen sein. Ich hatte noch nie wirkliches Training. Ich habe diese Gabe noch nicht lange. Vielleicht ein Jahr. Es hat ganz leicht angefangen. Kaum spürbar, aber in letzter Zeit wird sie immer stärker."

"Das kann vorkommen. Jeder reagiert anders auf das Serum." "Ich habe nur versucht sie zu verstecken. Mein Leben hat sich in den Jahren stark verändert und ich bin endlich angekommen. Ich wollte nicht das sich wieder alles ändert.", Oona blickte sorgenvoll zu Mina,"Ich wollte nicht das sich etwas zwischen uns ändert. Deine Freundschaft bedeutet mir viel."

Mina lächelte, doch er sah die geballten Fäuste, das Eis in ihren Augen. Ihre Worten waren das Gegenteil ihrer Körpersprache. "Ich würde dich niemals anders behandeln. Du und ich gegen den Rest der Welt. Daran wird sich wegen so einer Kleinigkeit nichts ändern. Versprochen."

Irgendwie glaubte er ihr, aber irgendwie auch nicht. Als wäre da ein weiterer Satz, den sie nicht aussprechen wollte. Wenn der richtige Zeitpunkt kam, würde er sie danach fragen, aber nun gab es Wichtigeres. Die Freundinnen fielen sich in die Arme. Mit einem Lächeln lösten sie sich voneinander. Oona wischte noch ein paar Tränchen von der Wange und sah ihn schniefend an.

"Das wäre geklärt. Ich bin ein Saki und die Regierung weiß davon." "Sie haben Angst." "Aber wovor? Ich kann es nicht kontrollieren. Ich bin kaum der Rede wert."

"Sie scheinen das anders zu sehen. Wir brauchen einen Schlachtplan.", warf Mina ein und er konnte ihr nur zustimmen. "Selbst wenn du dich nicht für gefährlich hältst, tut es die Regierung offensichtlich schon. Wir müssen dich aus der Gefahrenzone bringen."

"Mich aus der Gefahrenzone bringen? Was soll das überhaupt heißen? Wer schickt dich wirklich, Jay?" Nun würde sich weisen, ob sein Vertrauen in die beiden gerechtfertigt war.

"Ich komme von der Taube. Wir sind eine Organisation, die es Menschen wie uns ermöglicht ein neues Leben anzufangen. In einem anderen Land mit anderem Namen. Weit weg von dem Wahnsinn der in Europa Wurzeln geschlagen hat und weit weg von IZANAGA."

"Was hat IZANAGA damit zu tun?", Minas blick war skeptisch. Jay hatte das eigentlich nicht erwähnen wollen. "Private Personen, meistens steinreich halten sich Sakis gerne als Haustiere oder benutzen sie anderwärtig. Die Regierung billigt das Ganze, wenn für sie auch was dabei rausspringt."

"Isabella kennt keine Grenzen.", hörte er Mina flüstern. "Okay, das ist scheiße, aber abhauen ist doch wirklich nicht notwendig, oder? Es sind doch nur ein paar unangenehme Gesetze."

"Das wird nicht dabeibleiben.", hörten sie Evelyn leise, "so fängt es immer an. Ich weiß nicht, wie gut du in Geschichte bist, aber alle Zeichen sind eindeutig. Sakis sind nicht willkommen. Entweder sie werden getötet oder benutzt. Das ist die Realität und unsere Zukunft."

"Nicht wenn wir es verhindern können. Die Taube arbeitet-" "die Taube ist nichts gegen ein europaweites Gremium. Wenn die Gesellschaft beschließt, dass ihr den Aufwand nicht wert seid, werden sie kurzen Prozess machen. Und du bist offensichtlich etwas Besonderes, Oona. Sie wollen dich. Dringend. Also müssen wir alles tun, um dich aus ihrer Reichweite zu kriegen."

"Gehörst du auch zur Taube?" Evelyn schüttelte den Kopf, "Nein, Jay wollte mich nicht dabeihaben, aber ich höre viel und sehe viel. Unsere Gesellschaft befindet sich an einem Wendepunkt. Die Regierung will Sakis als Sündenböcke verwenden, um ihre diktatorischen Ambitionen auszuleben. Wir sollten es ihnen nicht noch leichter machen."

Jay lächelte stolz, besser hätte er es kaum ausdrücken können. Oona nickte langsam und sah zu Mina. Dessen Miene war vollkommen neutral. Er konnte darin nicht lesen, doch Oona schien Zustimmung zu sehen.

"Okay. Was schlägst du vor?" "Geh nach Hause. Pack einen kleinen Rucksack mit den allerwichtigsten Dingen. Sei praktisch, nicht sentimental. Kleidung, etwas zu essen und deine Papiere. Triff Vorkehrungen für deine Wohnung. Ich werde dich am Abend abholen und zur sicheren Unterkunft meiner Organisation bringen."

"Und dann?" "Dann werden meine Chefs einen Plan schmieden, wie sie dich aus dem Land bringen können." "Dein Plan ist Flucht? Ich soll einfach alles hinter mir lassen. Alles, was ich mir mühsam aufgebaut habe und irgendwo im nirgendwo ein neues Leben anfangen? Das vielleicht sicherer ist als das hier aber vielleicht auch nicht. Mehr hast du nicht?" Mina runzelte die Stirn.

"Das klingt nicht besonders gut durchdacht. Und das kommt von mir, meine Pläne sind scheiße." "Das ist, weil ich nicht den ganzen Plan kenne. Wir passen sehr auf mit Informationen. Mein Boss hat mir gesagt, dass ich dich warnen und wenn möglich in Sicherheit bringen soll. Alles weitere wird sich dann zeigen."

"Aber dafür müsste ich alles zurücklassen? Wenn ich einmal verschwunden bin, gibt es kein zurück." Eine Schwere hing in der Luft. Endgültigkeit. "Oona. Unsere Zeit hier ist abgelaufen."

"Ich will noch nicht." Mina sah ihre Freundin mitfühlend an. Jay runzelte die Stirn. "Wirst du sie begleiten?" "Einen Teil des Weges. Nur das Land kann ich nicht verlassen." Warum klang der letzte Satz wie eine Gefängnisstrafe, die Mina abzusitzen hatte? Jay wurde nicht schlau aus dieser Frau.

"Ist es okay, wenn ich dich am Abend abhole?" Nach einem langem Atemzug nickte Oona und brach die Spannung. Ein Plan war gefasst. 

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