Um alles
Vorsichtig klappte sie die Blätter der Zeitung auseinander. Es sollte der letzte Tag in Lille sein, ihr Zug würde in zwanzig Minuten abfahren.
"Kommissar Layance verletzt - angegriffen vom Mörder von Lille"
Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Wie konnte das wahr sein? Er hatte niemals etwas getan! Wäre sie doch bloß niemals davongelaufen, doch nun war es zu spät...
"Der Kommissar Herbert Layance wurde auf dem Weg zur Arbeit angegriffen. Einige Beweise deuten darauf hin, dass der Serienkiller wieder zuschlug. Die Überlebungschancen stehen gut, doch nur ein Zentimeter tiefer könnte die Wunde tödlich sein. Wird der Mörder wieder zuschlagen? Wie viele Opfer wird er noch fordern?"
Wie viele noch? Ja, diese Frage stellte sich Diana auch. Waren es nicht genug? Natürlich, wenn sie noch starb. Vielleicht würde dann endlich alles sein Ende finden.
Doch was meinte diese junge Frau, die sie von damals kannte nochmal zu ihr? Etwas steckte hinter dem Ganzen. Noch konnte sie nicht aufgeben. Nicht jetzt. Sie konnte Herbert nicht im Stich lassen.
In der Eile stand Diana auf und lief sofort los.
Die Straßen von Lille waren ihr mittlerweile so bekannt geworden, wie eine zweite Heimat. Wie ein Haus, das man schon jahrelang bewohnte. Auch wenn sie vieles erst in den letzten Tagen kennengelernt hatte.
Mit klopfendem Herzen und völlig außer Atem kam sie am städtischen Krankenhaus an. Sie war schon häufiger hier. Magenverstimmung, Treppe heruntergefallen, Kopfverletzung. Ob Beatrice wohl damit auch etwas zu tun hatte? Na egal, auf jeden Fall musste sie zur Notaufnahme, um Herbert zu suchen. Hätte sie ihn bloß niemals allein gelassen, warf sie sich wieder vor.
Zum Glück kannte sie sich schon lange so gut aus, dass sie niemand mehr fragte, was sie im einem Krankenhaus suchte. Wie manche Leute Stammgast in einer Kneipe waren, so war sie es im Krankenhaus, und wurde nur in Vorübergehen begrüßt.
Endlich war sie angekommen.
"Schon wieder zu Gast, Madame 'erz?"
"Ja" Sie versuchte einen Blick auf die Liste der neusten Patienten zu erhaschen.
Herbert Layance, Verlegung in Zimmer 405. Noch in den vierten Stock, diese Jagd konnte noch heiter werden. Aber es gab keine Zeit zu verlieren.
"Zimmer 8 ist frei geworden" Die Frau am Tresen lächelte sie an und Diana verschwand um die Kurve.
Schnell noch die vier Treppen hinauf und einige Gänge entlang. Zimmer 405.
Sie klopfte, doch niemand antwortete, also trat sie ein.
"Herbert? Geht es dir gut?", fragte Diana besorgt.
Herbert verdrehte die Augen. "Blendend. Mir geht es blendend", krächzte er.
Diana sah ihn etwas traurig an. "Es... Es tut mir wirklich leid, dass ich davongelaufen bin. Hast du eine Spur?" Im Entschuldigen war sie noch nie besonders gut gewesen.
Er nickte mit dem Kopf in Richtung Garderobe und sie fasste in seine Jackentasche. Mit Verwunderung zog sie ein kleines Büchlein hervor.
"Tagebuch von Arlette Boulard", die feine Schnörkelschrift zierte den Einband.
Das Tagebuch der dritten Boulard Schwester. Das Tagebuch des Mädchens, das bei dem Kutschunfall vor fünfzehn Jahren gestorben war. Das Mädchen, das Diana auch heute noch in ihren Albträumen fallen sah. Immer und immer wieder.
Noch bevor sie die Seiten aufschlug, lief sie zum Bett hinüber und drückte Herbert einen Kuss auf die Stirn. "Danke. Morgen wird hoffentlich wieder alles in Ordnung."
Hoffentlich, ja so war es. Nach so langer Zeit hatte sie endlich wieder Hoffnung, dass alles gut werden könnte. Hoffnung aus der größten Verwirrung heraus. Doch allein der Gedanke an ein Morgen war etwas besonderes.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top