⠀ ⠀ ⠀ XX. time passes until the past arrives









DIE ANMUTIGEN BEWEGUNGEN DER Tänzerin waren so sanft wie das leise Plätschern eines Baches, der leise und unerkannt in einem sonnendurchfluteten Wald floss und, mit offenem Herzen standen sie im Kontrast zu dem Musikstück, welches das Orchester mit harten Bewegungen und Tönen durch den Opernsaal hallen ließ.

Es war schwer auch nur für wenige Sekunden den Blick von der Ballerina abzuwenden, die vollkommen in Weiß gehüllt war, um ebenfalls die anderen Tänzer in ihren schwarzen Gewändern und abrupten Bewegungen, die auch wirklich zu dem Stück passten, zu betrachten.

Ivor war gefangen; vollkommen hatte sie ihn in ihrem tragischen Bann und vollkommen wollte er sich ihr ergeben, wollte die Töne, die seine Ohren segneten, für immer in seinem Kopf einschließen, da er wusste, dass ihre Bewegungen vor seinem geistigen Auge folgen würden. Er würde selbst seinen Verstand dafür geben.

Balet kolyuchikh slez — das Ballett der stacheligen Tränen. Seit einem Monat füllten die zahlreichen Künstler Abend für Abend die Bühne, und seit einem Monat hatte Ivor keine einzige Vorstellung verpasst. Er kam stets allein, nur um ihren Tanz zu bewundern, verloren in einer stillen, beinahe besessenen Verehrung.

So vollkommen und bedingungslos in dem Bann der Ballerina gefangen, hatte er nicht einmal gemerkt, wie sich jemand zu ihm in die leere Lounge setzte, die Ivor sich für die ganze Session gebucht hatte, und erst recht bemerkte er nicht, wer es war, der sich zu ihm gesellt hatte und mit der düsteren Hand des Schicksales ihm all seine Ruhe nehmen wollte.

Jedoch war der Zustand der glückseligen Ahnungslosigkeit nicht von Dauer und das Ende lauerte bereits über ihm. Nun, es war schon ein Segen, dass die Ruhe so lange angehalten hatte. Die Anwesenheit des Mannes ersetzte langsam genau das, was Ivor davor ausgemacht hatte. Es nahm seine Atome auseinander und ersetzte sie mit der Dunkelheit. Er nahm Ivor Gedanken in seine Hände und schloss sie, bis sie zwischen seinen Fingern davon glitten und von dem Wind weggetragen wurden wie Sand. Alles, was er bewunderte und liebte, wurde ihm genommen und durch ihn ersetzt.

Es war noch keine Angst, die erwachte, so überfordert war Ivor mit der bloßen Präsenz, doch er wusste, dass er sich fürchten musste. Die Bühne schien zu verdunkeln, die weiße Tänzerin wurde immer blasser und nahm ihm so den letzten Funken seines Lebens in Ruhe. Ivor musste flüchten, stellte er fest.

Gerade als er sich von dem Samtstuhl erheben wollte, sein lauter Herzschlag und das rasante Atmen nun das einzige Orchester in seinen Ohren, schienen sich Seile um seinen Körper zu wickeln. Wie angewurzelt blieb er sitzen und starrte geradeaus, während der Mann leise neben ihm missbilligend mit der Zunge schnalzte.

»Es ist unhöflich zu verschwinden, ohne jedenfalls Hallo gesagt zu haben...«, säuselte seine Stimme, so tief und durchdringend, dass selbst Ivors Herzschlag leiser wurde, um ihm zu lauschen. Es brauchte einen Moment bis Ivor bemerkte; es erweckte ein unwohles Gefühl in Ivor, den Mann, der seinem Land und seiner Kultur so fern war, so perfekt in seiner Muttersprache reden zu hören.

So wären seine Glieder nicht vor Angst erstarrt, hätte er vielleicht sein Gesicht verzogen.

»Wie hast du mich gefunden?«, fragte Ivor leise, um das Ballett nicht zu unterbrechen, obwohl niemand in der Oper ihn hören konnte. Niemand bemerkte etwas, sie alle saßen nur weiter auf ihren Plätzen und bewunderten das Meisterwerk, ohne zu wissen, dass nun der Tod unter ihnen weilte.

»Hast du überhaupt versucht, es mir schwer zu machen? Es hat mich beinahe gelangweilt.«

Das Schönste, was die Welt besaß, war ebenfalls das Grausamste. Die Sterblichkeit. Der Tod. Und gierig wie der Mensch war, drehte Ivor seinen Kopf herum, als wäre er nichts mehr der wahre Herr seines Körpers, sondern nur noch ein weiterer Zuschauer der Oper seines Lebens.

Der Tod sah ihn bereits an, Haar so schwarz wie seine Augen und seine jungen und zeitgleich uralten Züge geformt, um seine Opfer zu beruhigen. Noch immer war er wunderschön, schon immer trug der Tod die Maske der Schönheit.

»Was kann ich für dich tun?«, entkam Ivor die Frage und lächelte. Es war ein Lächeln der Beklommenheit oder vielleicht auch der Absurdität, denn er wusste, welch ein Ende die Begegnung nehmen würde, und im Angesicht des Verursachers seines Untergangs konnte ein jeder nur lächeln.

Der Tod hingegen lehnte sich zurück und schlug seine langen Beine übereinander, tippte mit seinen blassen Fingern gegen seine porzellane Haut, während er die Tänzer mit der Achtsamkeit eines Kritikers beobachtete. Seine gesamte Haltung besaß Anmut und etwas Atemberaubendes, Ivor konnte nichts anderes als ihn zu beobachten.

Ivor schluckte das verrottende Gefühl in seinem Mund herunter und umfasste mit seinen zittrigen Händen die Lehne seines Sitzes. Der Tod antwortete ihm nicht, sondern verzog seine Lippen nur zu einem leichten Schmunzeln und als würde das Orchester nur ihm unterlegen sein, schlug die Melodie augenblicklich um. Dunkle Töne rauschten durch Ivors Körper und erzeugten eine Gänsehaut des Grauens.

»Ich bin frei, das sind wir alle. Ich kann dir nicht geben, was du willst. Ich— Ich stehe nicht mehr in seinem Dienst, Grindelwald ist in Gefangenschaft der Deutschen. Ich weiß nichts...« Die Stimme verstarb in seiner Kehle, als der Tod seinen Kopf zu ihm drehte. Das zarte Licht spiegelte sich in seinen Augen wider, als wäre tatsächlich eine Seele hinter ihnen und nicht nur eine ätherhafte Unendlichkeit des Nichts. »Ich—Ich sah ihn das letzte Mal vor Jahren, ich weiß nicht mehr wie bei unserem letzten Treffen. Seine Visionen... Ich—«

Der blasse Finger erhob sich und Ivor stoppte, fühlte sein Herz in seinen Ohren rassen. Er glaubte zu weinen, denn seine Augen brannten und seine Sicht verschwamm.

»Die letzten Worte von Gellert Grindelwald an Albus Dumbledore. ›Der Tod durch unsere eigenen Hände ist die letzte Gerechtigkeit, die wir besitzen. Sie—‹«

»›Sie erstrahlt als letzter Ausweg und als letzter Untergang. Der Tod sieht es kommen, doch findet sein Ende mit offenen Augen.‹«, vervollständigte Ivor keuchend und erschuf einen Ausdruck der Zufriedenheit auf dem Gesicht des Mannes, der kein Mann war.

»Wie sah sie aus?« Die Frage war so voller Gier; der Tod hätte auch aufspringen und Ivor an der Kehle packen können, ihn schütteln und die Worte hinausschreien können, es wirkte gleich.

»Verzeihung?«

»Die Frau, die Grindelwald am letzten Tag seiner Freiheit gesehen hat. Die Frau, über die er sprach. Wie sah sie aus?«

»Rotes Haar und—«

»Nicht Alivia. Die andere.«

Ivor stutzte und seine Augen wurden groß vor Überforderung und Ratlosigkeit; er versuchte, sich an eine andere Frau zu erinnern, die ihm schlicht entfallen war, doch da war nichts. Durch die Regale seines Verstandes wandelte er und fand alleine die Rote Frau.

Er starrte dem Tod entgegen und eine Kälte breitete sich urplötzlich aus.

»Es— Es gab keine. Grindelwald sah nur den Aufstieg von der Roten Frau. Ich weiß—«

Ein stechender Schmerz breitete sich in seiner Kehle aus, als wäre ein Dolch durch ihn getrieben wurden und die Luft wurde vollkommen aus seinen Lungen gezogen, eine Hand legte sich so fest um seinen Hals, dass die Ränder seiner Sicht sich so schnell Schwarz verfärbten.

Aber der Mann saß nur neben ihm und starrte ihn an, eine stumme Wut in sein wunderschönes Gesicht geschrieben. Ivor hatte ihn nie mit Emotionen in seinem Gesicht gesehen, hatte ihn nie ganz als fähig erachtet Gefühle zu empfinden. »Streng dich an«, befahl er und dies war es: die Bestrafung für die Unterschätzung, die ihm nun zum Verhängnis wurde.

»Ich weiß nichts! I-Ich weiß nichts!«, keuchte er so erbärmlich, um sein Leben zu schützen, doch was war ein Leben für den Tod? Weiß blitzte vor seinen Augen auf. Kaltes Wasser wurde über seine Haut geschüttet, Krallen fuhren über seinen Rücken. Es passierte, doch durfte es nicht passieren.

»A-Alivia weiß— Alivia weiß von der s-sterblichen Wahrheit!«, quetschte Ivor schnell hervor und sofort lockerte sich der Griff des Todes. Seine kühlende Hand legte sich um seine Kehle, als könnte er sich vor einem weiteren Angriff schützen. »Ich weiß es wieder. D-Die letzte Vision von Grindelwald war von der Roten Frau. S-Sie hat die Prophezeiung gefunden. Aber sie ist es nicht, Grindelwald wusste es. Er wusste, dass alles nur eine Lüge war. Sie ist es nicht. Sie war es nie. Sie wird es nie.«

Ivor zitterte unkontrolliert und beobachtete, wie der Tod eine sorgfältig gefaltete Zeitung aus seinem dunklen Mantel zog und zwischen die beiden auf den kleinen Beistelltisch legte. Die Bewegungen waren so fließend, als wäre jede Geste von ihm ein Teil eines einstudierten Tanzes. Als hätte er es bereits so oft gemacht, als wäre er in einer Zeitschleife gefangen.

»Kennst du sie?«, fragte der Mann ihn und es schien beinahe so, als versuchte er ihn damit zu beruhigen; seine Stimme in einem solchen seltsamen Klang wie ein Schlaflied. Ivor zögerte für einen Moment, doch dann griffen seine Finger nach der Zeitung.

Im Mittelpunkt des Artikels stand das große Foto einer jungen Frau, die im Blitzlichtgewitter ein altes, majestätisches Gebäude verließ. Ivor betrachtete den Ausschnitt etwas genauer. Die Gesichtszüge der Frau waren markant und kühl, beinahe wie eine Herrscherin aus einer anderen Zeit entsprungen. Ein Gesicht, welches auf den Leinwänden der alten Meister hätte verewigt werden können.

Ivor rang nach Luft, das Papier unter seinen Fingerspitzen zerknüllte. Mühsam und langsam entzifferte er die Überschrift des Bildes, versuchte die lateine Schrift zu übersetzen. »Ich—«

Aufstieg des Hauses Desmond.

»Desmond?« Erinnerungen suchten seinen Verstand heim und beinahe war es ihm, als würde der Mann mit braunem Haar und den silbernen Strähnen auf der anderen Seite sitzen. Ein unwohles Gefühl breitete sich in seiner Kehle aus, Säure floss seine Speiseröhre herunter bis zu seinem Magen, verätzte dort alles, machte keinen Halt vor Organen oder Knochen. »Wie Ariston Desmond? Sie ist die Tochter, nicht wahr?«

Der Name verließ seine Lippen und das Lächeln des Todes versteifte sich, bewegte seinen Kopf keinen Zentimeter; stimmte ihm weder zu noch verneinte er.

»Die Letzte mit dem reinen Blut des Wissens, nicht verwaschen durch Staub. Du irrst dich... du kannst es nicht haben. Du kannst nicht—« Ihm wurde kalt und der Zeitungsausschnitt wurde zu einem Ball in seinen Händen, presste ihn so fest, dass seine Knöchel weiß wurden und die Haut darum. »Es ist nicht richtig! Du kannst sie nicht haben, nicht nachdem was—«

»Shh...«

Die Worte in seinem Mund erstarben und zerfielen zu Staub, bei dem tröstenden Ton des Todes, der seinen langen Finger auf seine Lippen gelegt hatte. Das Licht verhielt sich mit einem Mal merkwürdig, warf Schatten wo keine legen sollten. Seine Augen sahen beinahe rot aus.

»Sie ist nicht dein. Sie darf nicht—« Seine Stimme verstummte auf ein zweites und dieses Mal hatte Ivor vollkommen vergessen weshalb er so reagiert hatte; eine Warnung hatte auf seinen Lippen gelegen und die Wahrheit neben ihr, doch wusste er nicht mehr, was es war, das ihn so beunruhigt hat.

Der Tod neigte seinen Kopf und nun erkannte Ivor, dass das Schwarz in seinen Augen tatsächlich von Rot verdrängt worden war. Eine Gewissheit lag in ihnen, die Offenbarung eines Geheimnisses, welches er in seinem eigenen Herzen behalten wollte.

Mechanisch erhob sich Ivor von seinem Stuhl, fühlte den Samt unter seiner Haut schwinden und blickte auf das Balette hinunter, welches mit jeder Drehung und jeder Berührung der Liebenden dem Höhepunkt näher kam. Seine Augen huschten nach rechts als die begabte Tänzerin ihr letztes Solo tanzte; er konnte nie hinschauen.

Der Mann hatte sich inzwischen erhoben. Er wirkte größer, seine Silhouette dunkler als zuvor. Mit langsamen, eleganten Bewegungen trat er zu der verschlossenen Tür der Lounge; Kälte erfasste plötzlich Ivors Glieder. Neben der Tür lagen seine Leibwächter — zusammengekrümmt und regungslos — rot die weißen Wände hinter ihren Gestalten. Leblose Augen starrten ihm entgegen.

Der Tod und drehte sich ein letztes Mal zu ihm um, als wollte er das Ende des Schauspieles nicht verpassen, ein endlich ruhiges Lächeln auf seinen Lippen. Ivors Beine weigerten sich mit einem Mal, ihm zu gehorchen, während er langsam zurücktrat, die Augen nur auf den Tod gerichtet. Das Geländer drückte kalt gegen seinen Rücken, wie eine Warnung.

»Auf Wiedersehen, alter Freund«, sagte der Tod leise, beinahe sanft.

Noch ein Schritt. Ivor spürte das Nichts unter seinen Füßen, die plötzliche Schwere des Fallens — und dann umfasste ihn die Dunkelheit vollkommen.










DIE KLEINEN Flocken des Staubes, der ein so treuer Bewohner dieser alten Hallen war, tanzten in den alles erleuchtenden Sonnenstrahlen, welche durch das lange Fenster der Bibliothek fielen. Es war ein so ruhiger Tanz, der eine gewisse Idylle über diesen Ort warf, und doch wurde diese Idylle nur durch die aufgebrachten Stimmen niedergerissen.

Die Gestalten unterhielten sich so laut, als wären sie sich sicher, keine Lauscher zu besitzen. Und doch stand sie hier und rang mit ihren Erinnerungen, die keinen passenden Besitzer zu den Stimmen fanden.

»Wieso? Wieso? Wieso? Wieso?«, kreischte eine weibliche Stimme und lockte den Lauscher dazu, einen weiteren Schritt nach vorne zu machen, den Schutz der Regale ein klein wenig zu verlassen. »Wieso bist du so zu mir? Wieso bist du so abweisend? Wieso tust du mir das an?!«

Es waren die Fragen einer vergessenen Ehefrau, einer unbeachteten Liebhaberin. So voller Verzweiflung und Gier nach Aufmerksamkeit und nach derselben Zuneigung, die sie für ihn empfand und welche sie dazu brachte zu bleiben anstatt zu gehen.

Die Stimme, die ihr antwortet, stand so im Kontrast zu ihr. So unberührt von all diesen Gefühlen, die die Frau plagten und so verständlich war es, dass sie nach seinen Gefühlen flehte und bettelte. »Beherrsch dich, Eleni. Du klingst hysterisch«, sagte er kühl, sein Ton so kalt wie der Wind, welcher mit dem Unwetter einherging, das hinter diesen Fenstern sein Unwesen trieb.

Der Lauscher trat noch einen Schritt und blickte um das Regal herum, spürte die erwärmte Luft auf ihrer Haut wie die liebevolle Berührung, nach der sich die verzweifelte Frau verzerrte. Es war ein schöner Anblick, der sie willkommen hieß. Ja, so vollkommen in seiner Zusammensetzung.

Die Frau, weißblond ihr Haar und verzerrt ihr atemberaubendes Gesicht vor Kummer und Trauer, hatte ihre Hände in dem blütenweißen Hemd des Mannes vergraben, der so kalt von der Darbietung ihres Herzen blieb, und der Lauscher beschloss auch für die Liebe des Mannes flehen zu wollen. So schön waren seine Gesichtszüge, so wunderschön sein Haar und so berauschend war die Aura, die von seinen Schultern fiel. Ein jeder würde den Drang verspüren, sich in seinem Anblick verlieren zu wollen und würde sich nach den Gefühlen des kalten Mannes verzerren.

»Ist es wegen ihr?«, fragte die verzweifelte Frau und ihre Hand löste sich von seinem Hemd, als hätte sie sich verbrannt, ihre Körperhaltung mit einem Mal zu steif. »Sie ist dir nicht loyal, doch ich bin es, nicht wahr? Was hab ich nicht alles für dich gemacht!« Ihre Stimme brach mit tränender Verwirrung. »Wieso sie? Wieso diese Fotze, die dich verraten würde? Die stumme verfickte Missgebu—« Ein überraschter Ausstoß der gesamten Luft, die sich noch in ihren Lungen versteckt hatte, unterbrach sie.

Die Hand des Mannes hatte ihren Kiefer gepackt und auch wenn sein Blick von immer eine gewisse kühle Zärtlichkeit versprach und nichts in seiner Haltung Wut versprach, wurde ihre Haut unter seinen Fingern weiß. »Meine verzweifelte Elenítsa...«, säuselte er wie eine Beleidigung, doch für eine Frau, die verhungerte und deren Hunger nur durch ihn gestillt werden konnte, klang dies wie die schönsten Worte zu denen ein Sterblicher imstande war.

Er hob ihren Kopf etwas höher, zwang sie, mit ihren verliebten in seine eiskalten Augen zu sehen. »Du ermüdest mich. Ich habe dir nicht beigebracht zu kauern oder wie ein kleines Kind um ein neues Spielzeug zu betteln«, flüsterte er und sein fester Griff um ihren Kiefer lockerte sich. Er verschränkte seine Arme vor der Brust, als versuchte er sie davon abzuhalten, seine Hand zu ergreifen.

Die Frau blinzelte langsam, versuchte aus seinen Worten schlau zu werden. »Ich soll so sein wie du? Willst du, dass ich sie töte? Ich würde es tun. Ich würde sie alle töten. Meine Seele gehört dir, meine Verdammnis ist dein.« Ihre zarte Hand legte sich auf seine verschränkten Arme und ihr Lächeln spiegelte die närrische Verliebtheit wider.

Der Lauscher konnte nichts anderes als zu beobachten und sich seine Frage, weshalb eine Frau so um den Verstand kam wegen einem Mann, nur selbst beantworten. Wie konnte man nicht? Doch wo war der Stolz dieser Frau? Sie klang wie ein Hund; wie eine Blume, die sich weigerte, ohne ihn zu wachsen.

»Sie töten?« Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen und es sah grausig aus, es erreichte nicht seine leblosen, pechschwarzen Augen. Die Frau bemerkte die Unstimmigkeit nicht und nickte, wisperte, dass sie bereit war, alles für ihn zu tun. Das Schmunzeln verschwand, wurde zu dem Blick eines Mannes, der einen Plan besaß. »Du kannst es versuchen, doch sind wir ehrlich... Du bist viel zu schwach, um sie zu töten.«

Es verstrich ein Moment, in dem die Frau sich zu einem Lächeln zwang und versuchte zu verstehen. Sie ging einen Schritt zurück, ihre Hand fiel ins Nichts. »Du glaubst nicht, dass ich es tun werde.«

»Oh, gewiss glaube ich, dass du dämlich genug bist, es zu versuchen. Jedoch—«

»Wieso willst du mich nicht mehr? Was hat sie, was ich nicht habe?!« Ihr Kreischen war hoch, brannte in den Ohren des Lauschers und auch der Mann schien genervt von ihrer Anwesenheit.

Seine Augen waren dunkler als zuvor; seine Haltung, die eines Gottes, der beleidigt wurde. »Ich wollte dich nie. Versucht nicht, mein fehlendes Interesse an meiner Schülerin auf etwas anderes zu schieben. Ich wollte dich nie, Eleni. Ich werde dich nie wollen, ob mit ihr oder ohne sie. Und wenn du versuchst sie umzubringen, weil du glaubst, ich würde dich dann wollen... Sei im Wissen, dass es kein Ort auf dieser Erde gibt, an dem du sicher sein wirst.«

Die Frau lachte nur und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen, strich sich durch ihr langes Haar bevor sie ihn wieder ansah. »Was hat sie gemacht, um dich zu bekommen? Ist es, weil sie dich nicht will? Findest du es toll, dass sie ein Psycho ist? Ist es, weil sie sich so wunderbar ficken lässt? Wieso lügst du? Du warst nie so zu mir, doch dann kam sie daher gelaufen und du hast mich vergessen.«

»Eleni, du ermüdest mich«, wiederholte der Mann, seine Stimme so unerbittlich wie der letzte Urteilsspruch. Er hatte alles gesagt, seine Karten ihr geöffnet und doch stand sie nur weiterhin vor ihm, ihre Brust hob und senkte sich so schnell wie die Wellen auf hoher See. Der Kontrast zwischen ihnen; so gefasst war er und so gebrochen war sie.

»Du lügst«, flüsterte sie und ihre Beine zitterten so stark, dass der Lauscher befürchtete, sie würden nachgeben. Hoffte es vielleicht, schließlich gehörte sie dahin, dachte etwas Grausames in dem Lauscher, sah die Frau nur noch als Hindernis und Abschaum. »Du hast Angst davor, was ich erreichen könnte. Deswegen versuchst du mich klein zu machen, aber ich bin nicht dumm. Ich sehe was du willst. Ich kenne dich besser als jeder andere, besser als sie

Ihre Worte ergaben keinen Sinn. Der Mann hob die Augenbrauen mit einem spöttischen Schmunzeln, und als er den Kopf schüttelte, erschöpft von all ihren Worten des Wahnsinns, wurde einem jeden so verzweifelt bewusst, dass sie in derselben Lage wären wie sie, um ihn zu betteln war alles was sie konnten, da er niemand zu wollen schien.

Das Licht legte sich sanft auf seine Haut und die Schatten untermalten seine Wangenknochen; sein schwarzes Haar lag perfekt und perfekt war ebenfalls sein Gesicht, geschnitzt von jener göttlichen Schönheit, die die Grausamkeit des verlockenden Schmerzes verstanden hatte.

»Geh, Eleni, bevor du das verlierst, was dir noch geblieben ist. Deine Verzweiflung langweilt mich.«

»Ich habe dir alles gegeben und du...« Er verzog seinen Mund zu einer bemitleidenden Geste, brachte sie dazu, zu verstummen und erneut nach seinem Arm zu greifen. Eine kleine Reaktion von ihm schien ihren gesamten Körper zu kontrollieren; war es ihr einziger Wunsch, ihn glücklich zu machen?

»Ich hege keinerlei Interesse daran und du willst mir nichts geben. Aber du kannst nicht zwischen Realität und Fantasie unterscheiden. Wahrscheinlich ist dein dummes Köpfchen davon überzeugt, dass es Liebe ist, was du empfindest... Aber in Wirklichkeit ist deine Wahrnehmung vollständig verzerrt. Du erschaffst dir aus Schatten eine Welt, die es nicht gibt.« Er trat einen Schritt zurück und löste ihre Hand von sich, sah sie mit Gleichgültigkeit an.

»Du bist grausam«, flüsterte sie und ihre Schultern bebten mit dem Wunsch der Rache, mit dem Wunsch, die Welt niederzubrennen, die er sein Reich nannte. Er antwortete ihr nicht, sondern sah sie nur an, schien darauf zu warten, dass sie endlich verschwand. »Fick dich, Tom Riddle!«, zischte sie ein letztes Mal und ballte ihre Fäuste, doch war in ihren Augen keine Trauer einer verlassenen Geliebten. Es war der Wunsch nach Bestätigung und Rache.

Noch immer wollte sie seine Aufmerksamkeit, noch immer seine Gefühle.

Der Lauscher schaute ihr nur hinterher, bewunderte, wie perfekt ihr Haar wehte, während sie davon stürmte und den Mann alleine ließ. Er sah ihr nicht nach, lächelte nur vor sich hin, als hätte der Plan des Teufel seinen Lauf genommen.

Du bist der Teufel, sprach der Lauscher und als hätte der Mann dies gehört, drehte er sich zu ihm um. Seine schwarzen Augen fixierten den Punkt, an welchem er stand, und doch sah er durch ihn hindurch. Emotionen huschten über sein Gesicht, er neigte seinen Kopf und ging einen Schritt nach vorne, doch bevor er den Lauscher erreichen konnte, packten Hände seine Gestalt und zogen ihn in die Dunkelheit.










DER SPÄTE Nachmittag war bereits eingebrochen, das letzte rötliche Licht des Tages fiel durch die großen Fenster des alten Studierzimmers ihres Vater; Kälte wickelte sich um ihre Glieder, während in der ferne das dunkle Parkett des Korridors, wie die Knochn eines alten Mannes, knarrte, als einer der Bediensteten über ihn huschten.

Sie war vor einigen Tagen auf dem alten Familiensitz der Desmonds angekommen, hatte vor den großen Türen jenes Anwesens gestanden, in dessen Mauern die Erinnerungen ihrer Kindheit und deren Untergang lauerten. In ihrem eigenen Zuhause hatte Alethea sich wie eine Fremde gefühlt, hatte sich wie ein Betrüger gefühlt, als die Gouvernante sie bei dem Namen nannte, der immer ihrer Mutter gehört hatte. Lady Desmond.

Abwesend betrachtete Alethea den Dampf ihres Tees hinauf zur Decke steigen, umgeben von Rechnungen und Verbindlichkeiten; zwischen Schuldner und Gläubiger; zwischen Verträgen, deren Existenz vergessen wurde in dem Moment in dem ihre Mutter gestorben war.

Die Feder lag leblos in ihren Fingern, ihre Augen schwer. Und doch war sie nicht müde.

Sie kannte die Vorgänge und selbst noch einige Verträge, nichts auf dem ebenhölzernen Schreibtisch war ihr fremd. Aufgewachsen war sie an der Seite des Tisches, auf dem Divan oder auf dem weichen Perserteppich, hatte ihrem Vater zugehört oder ihn beobachtet, wie er sich um die Geschäfte der Familie kümmerte. Jedoch ist sie hinter dem Schreibtisch groß geworden; hatte alles versucht, um ihre Mutter nach dem Tod ihres Ehemannes zu unterstützen. Sie war kaum neun Jahre gewesen, als sie das erste Mal die Unterschrift ihrer Mutter gefälscht hatte, um einen Vertrag zu unterschreiben.

Ihr Blick huschte von den Büchern — die grausam aussahen, da die Zeit nicht angehalten war, während Aletheas Abwesenheit — zu dem Notizbuch, welches neben ihr lag. Es hatte sie verwirrt, dass ihre Stimmung sich nicht verbessert hatte, während sie die Worte ihres Vaters las und seine Stimme in ihrem Kopf hörte; verstand, woher einige ihrer Formulierungen stammten, die nicht in die englische Sprache passten.

Seine Forschungen über die materiellen Zustände der Magie und die Geheimnisse der Alchemie hatte er ausschließlich in Deutsch verfasst. Alethea hatte nicht mehr in der Muttersprache ihres Vaters gesprochen seit seinem Tod, hatte nur hier und da die Briefe seiner Familie (und auch ihrer, aber Alethea fühlte sich nie wie ein Teil von ihnen) beantwortet, doch kamen die Worte schwer von ihren Lippen.

Das Gemälde ihrer Kindheit beobachtet jeder ihrer Bewegungen.

Ihre Mutter war immer eine so schöne Frau gewesen, die von dem Alter unberührt blieb, und vor dem grausigen Schicksal waren die Ähnlichkeiten zwischen Alethea und ihr nicht zu übersehen. Ihr jüngeres Selbst war in ihren Armen, lächelte wie die Kronprinzessin eines Königreiches und die Augen ihrer Mutter funkelten mit Liebe.

Alethea erstickte und vielleicht starb sie auch, merkte es jedoch nicht und schrieb weiter.

Ein Klopfen war an der Tür des großen Büros zu vernehmen und ohne von der Antwort für die Malfoys aufzusehen, ertönte schon ihre eigene Stimme wie die eines Fremden. Erst als sie den Satz zu Ende geschrieben hatte, hob sie ihren Kopf und erblickte die alte Zofe ihrer Mutter, ihr Gesicht von der schleierartigem Haube verdeckt.

Alethea schluckte und spürte, wie etwas ihre Seele umwickelte, ihr Inneres mit Fäusten umfasste.

Mit derselben Ahnung, mit der andere die Schritte von Personen ihren Gesichtern zuordnen konnten, hatte Alethea in ihrer Kindheit gelernt, das Atmen und die Statur zu erkennen. Denn was blieb einem anderen übrig, wenn Gesichter und Haut verborgen waren? Es waren stets gesichtslose Gestalten in ihrem Kopf gewesen – unmenschliche Kreaturen, deren Gangart sie sich einprägen musste, deren Atemzüge sie zu deuten lernte, wollte sie sie erkennen. Ihre Mutter hatte es nicht ertragen, Gesichter in jenen Hallen zu sehen, in denen sie einst so glücklich gewesen war.

Aletheas Hände fühlten sich warm an, etwas schmerzte hinter ihren Augen.

»Mr. Burke lässt ausrichten, dass er gefunden habe, wonach Sie ihn gebeten haben, und Ihre Großtante, Mrs. Pavla, hat für Sie angerufen, Madam«, verkündete sie mit tiefer Stimme, ihre Vokale verzerrt betont. Ihr Griechisch war besser als ihr Englisch.

»Weshalb?« Alethea musste nicht fragen, weshalb. Sie wusste bereits, weshalb. So nah lag es, dass ihre Großtante mit ihr über Elenítsas Verbleib sprechen wollte.

»Dies sagte sie nicht. Soll ich Ihnen das Telefon bringen lassen?«

»Gewiss«, sagte Alethea und rieb sich über ihre Stirn, spürte, wie der Kopfschmerz ihren Verstand angriff. Jedes Mal, wenn sie jedoch ihre Augen schloss, schossen weiße Blitze umher und nahmen ihr die Ruhe. »Man soll mir einen Schmerztrank bringen.«

»Einen Schmerztrank? Ihre Mutter hätte—«

Die Feder in Aletheas Fingern zerbrach und ihre Hand zitterte, als sie diese wieder öffnete.

»Meine Mutter ist tot und ebenso die Regel, die sie für dieses Anwesen kreiert hat. Ich bin nun die Herrin. Ich will keine Hauben mehr sehen, man soll aufhören die Worte meiner Mutter zu wiederholen, die elenden Tücher werden von den Gemälden entfernt und die Götterhalle wird wieder geöffnet«, verkündete Alethea und ihr Ton klang zu monoton, zu kühl, zu gereizt.

Die Zofe stand wie eine Statue, bewegte sich keinen Zentimeter und ihr Atem war flach, brachte nur die Wölbung ihres Bauches dazu, sich zu bewegen, anstatt ihre Schultern. »Die Götterhalle? Ihre Gouvernante hat Sie viele Jahre versucht an die Religion heranzu—«

»Nicht zum Beten«, zischte Alethea und presste ihre Hand gegen ihre Stirn, konnte den Schmerz nicht mehr aushalten. »Wenn die Götter noch existieren, verdienen sie weder Gebete noch Verehrung. Wenn die Götter noch existieren, dann sollten sie uns alle um Vergebung bitten. Es gibt Schriften in diesen Hallen, die ich studieren möchte.«

Die Zofer verließ das Studierzimmer ohne ein Wort.

Alethea erstickte erneut und starb erneut, doch schrieb sie weiter.

Zehn Minuten später brachte man ihr das Telefon und einen Schmerztrank. Das Telefonat verstrich schnell, erweckte kaum Aletheas Interesse und nur passiv beantwortete sie die Fragen ihrer besorgten Tante; wiederholte ihre Worte in verschiedenen Varianten. Noch immer schien Eleni vom Erdboden verschluckt, niemand hatte sie gesehen seit dem Exorzismus.

Etwas in ihr erhoffte sich, dass Eleni nie wieder auftauchte. Hoffte, dass der Erdboden sie verschluckt hielt und sie konnte sich nicht erklären, weshalb. Alethea war schon immer eifersüchtig auf sie gewesen, doch nun gesellte sich eine weitere Emotion dazu.

Es war für Alethea irritierend, dass sie während der gesamten Zeit an ein Gespräch zwischen Eleni und Professor Riddle denken musste, von dem sie sich nicht erinnern konnte, es jemals belauscht zu haben.




BEREITS ALS KIND hatte Alethea die Wahrheit verstanden: Die Menschheit interessierte sich nur für die oberflächliche Hülle seines Gegenübers. Für Stoffe und Edelsteine, für ein Lächeln und den richtigen Schuhen. Der äußere Schein schwoll an Bedeutung an und drängte Intelligenz oder Moral in seinen Schatten, so stand man einer Person gegenüber, die sich aufgrund ihres eigenen eindimensionalen Charakters so leicht täuschen ließ.

Die Menschen um sich beobachtetend, verstand sie, wie wichtig es war, sich in der teuersten Seide zu kleiden und Stoffe um seinen Körper in der Art zu wickeln, dass selbst in den Schlauen und Wissenden ein Hauch von Respekt erweckt wurde.

Unter der leitenden Hand ihrer Mutter hatte sie den einzigen Charakterzug, der einer Frau zugesprochen wurde und in demselben Atemzug kein Charakterzug war, sondern lediglich ein Klischee von Männern geschaffen, die selbst zu besessen mit ihrem Äußeren waren, zu nutzen und auszubauen.

Nie hatte jemand Alethea vorgeworfen, sich äußerlich zu vernachlässigen oder sich gar — und es gab nichts Schlimmeres in den Augen der patriarchalischen Gesellschaft, in welche sie geboren wurde — billig zu kleiden. Selbst in der Hogwarts Akademie der verborgenen Künste trug sie, so wenn nicht die Uniform, schlichte und elegante, zu der Situation passende Kleidung.

Das kühle Glas der Champagnerflöte lag in ihrer Hand und sie beobachtete, wie die ältere Frau die neueste Kollektion vorstellte, die das Geschäft zu bieten hatte; gehobene Wörter falsch benutzte und immer wieder bewies, wie wenig Ahnung sie von Mode besaß, da ihr Talent alleine bei Geld lag.

Träge hatte Alethea sich auf den Sessel gesetzt und ihr bereits seit Minuten, die wie Stunden an ihr vorbei rieselten, zugehört; in ihren Ohren ertönte ein immerwährendes Fiepen, welches sich mit der Stimme der Hexe zu verschlimmern schien.

Sie verstummte endlich, als Alethea sich erhob; ihre blauen Augen weiteten sich und die roten Adern, die ihre Sklera zierten, wurden noch sichtbarer und ließen Alethea ihre Lippen missbilligend stutzen. Gerade als sie wieder anfangen wollte zu sprechen, hob Alethea ihren Finger und schickte die Frau davon, ohne ein Wort zu sagen.

Desinteressiert glitten Aletheas Hände hauchzart über den Stoff der vielen Kleider, die an den Stangen hingen, und doch fand Alethea nichts, was dem Anlass nach genügend erschien. Sie fragte sich, was der Duke von ihr erwartete und versuchte herauszufinden, welch eine Erbin er erwartete. Lady, verbesserte sich Alethea.

Sie war Lady von House Desmond.

Die Einladung wurde vergangene Woche von einem Boten gebracht, ein weißer Umschlag mit goldener Schrift. Alethea hatte nicht einmal fragen müssen, von wem genau der Brief kam. Es war ein allgemeines Wissen der alten und reinen Familien Britanniens, welches wie ein Lamm gehütet wurde. Die Gesellschaft der goldenen und gar reinen Nacht.

Ihr Vater hatte den Namen gehasst, ein unorigineller Zusammenschluss von Worten und sie stimmte ihm zu.

Alethea war bewusst, weshalb der Duke selbst sie eingeladen hat, dem Fest des neuen Jahres beizuwohnen, denn auch wenn sie die Alleinerbin von Haus Desmond bereits seit mehreren Jahren war, hatte sie ihr Erbe erst im September wahrlich angetreten. Nichtsdestotrotz verstand sie nicht wirklich. Ihr Vater hatte nie ein großes Interesse daran gezeigt, wieso glaubten sie, dass Alethea anders wäre?

Ein pompöses Kleid länger betrachtend, knackte Alethea mit ihren Knöcheln. So wie Öl sich weigert sich mit Wasser zu verbinden, so weigern sich Hexen ihre Gewohnheiten zu verändern und mit der Zeit zu wandeln. Schon lange nicht mehr in den Ketten Satans und doch huldigten sie ihn mit ihrem Respekt. Eine Gesellschaft, die in der Zeit stecken blieb, die sie nicht mehr wollte. Sie fand schon immer, dass sich die Mode der Hexen zu sehr auf die Vergangenheit fixierte und vergaß, mit der Zeit zu wandeln.

»Madam, ich glaube, ich habe etwas, was Ihnen gefallen könnte«, ertönte eine kratzende Stimme hinter ihr, doch ließ sie ihre Augen auf den Stoffen ruhen. Schwarz, dunkler Purpur, gedämpfte Blautöne wie die letzte Stunde vor Mitternacht.

Langweilig. Langweilig. Langweilig.

»Ich bezweifle.« Mehr als die kühlen und gelangweilten Worte gab sie nicht von sich und wollte dies auch nicht. Musste nicht. Mit einem genervten Ausstoßen der Luft, welches sie an ihre Mutter erinnerte, drehte sie den Stangen voller Kleider, die man zu ihr gebracht hatte, den Rücken zu.

Sie warf einen Blick zu den zwei in Schwarz gekleideten Personen, welche sich neben der Treppe aufhielten und treu auf sie warteten. Der Kopf ihrer Zofe Nathalia erreichte kaum die Schulter des Wächters, welcher mit kühlen Augen jede Bewegung in dem Geschäft musterte. Ihre Gouvernante hatte darauf bestanden, dass Alethea nur mit Begleitung nach London ging. Möglicherweise war es der Umstand, dass diese Frau ihr Schreiben und Mathematik beigebracht hatte, was dazu führte, dass sie ihren Anweisungen folgte.

Constantine verstand den Blick und nickte stumm, ging die weite Treppe hinunter, während ihre Zofe weiterhin an der Treppe stehen blieb. Gerade als Alethea ihm folgen wollte, erblickte sie in einer kaum beachteten Ecke des Verkaufsraumes etwas, was ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. In Mitten eines dunklen Geschäfts, umgeben von düsteren Tönen und mittelalterlichen Gewändern, thronte ein weißes Kleid auf einem Podest zehn Meter vor ihr.

»Wieso wurde mir dieses Stück nicht gezeigt?«, fragte Alethea und warf dem Hexer mittleren Alters, der zuerst versucht hatte, ihr ein scheußliches Kleid in einem grünen Ton anzubieten, einen vorwurfsvollen Blick zu. Eine weiße Strähne zog sich durch sein nach hinten gestreiftes Haar und Alethea bemerkte, dass der kleine Ziegenbart an seinem Kinn etwas schief stand.

»Ich—Verzeihen Sie mir, Madam, doch ich nahm an, Sie würden etwas aus einer neuen Kollektion und die dunklen Töne bevorzugen: Weiß beißt sich mit ihrem Hautton und dem dunklen Haar. Und dies ist von einem kaum nennenswerten Designer«, stammelte er unbeholfen und Alethea verspottete ihn mit ihrem Blick, ging auf das Kleid zu.

»Ich bezahle Sie nicht dafür, anzunehmen was ich bevorzuge.«

Das Kleid schien aus dem Mondlicht selbst gewoben — Perlen, die wie gefrorene Tränen, hingen zu schweren Ketten verknüpft an der Silhouette hinab, floss wie ein Wasserfall und verzierten die weiße Seide, die sich in einer A-Linie an die Puppe schmiegte. Es war traumhaft; für einen Engel geschaffen.

»Es ist bedauerlich, dass der Designer eine Farbe ablehnt, die nicht weiß ist. Allerdings besteht die Möglichkeit, eine der Schneiderinnen anzuweisen, das Kleid in schwarzer Farbe anzufertigen«, sagte der Verkäufer mit einem entschuldigenden Ton, als würde er den Gedanken, auf Aletheas gebräunter Haut etwas Weißes zu sehen, verabscheuen.

»Es bleibt weiß. Stellen Sie mir alles von diesem Designer auf Rechnung. Und besorgen Sie mir die Kontaktdaten von ihm.« Alethea drehte sich um und verschwand.

Wenige Minuten später lief sie die Straße entlang, nur ein Ziel vor ihren Augen und das Kleid bereits vergessen. Staubgeborene huschten durch den Schnee an ihr vorbei, hektik übernahme sie alle, während sie so kurz vor den Weihnachtstagen Geschenke für ihre Liebsten besorgen mussten.

»Madam, Sie können jemanden schicken lassen!«, wisperte Nathalia neben ihr panisch und doch folgte sie ihr weiter, schaute immer wieder über ihre Schulter, ob Constantine ihnen noch immer folgte. Alethea musste sich nicht umdrehen, um dies zu wissen. Er würde eher sterben als Alethea aus den Augen zu verlieren. Loyal wie ein Köter, hatte ihre Mutter immer gesagt.

»Nein.«

Mehr sagte sie nicht, als sie in die dunkle Gasse abbog und durch das heruntergekommene Tor trat, welches kaum zu finden war, selbst wenn man danach suchte und dessen Aufenthalt kannte. Der Schleier legte sich um ihre Gestalt, Dunkelheit umfasste ihren Verstand und doch lief sie weiter, spürte wie der Schleier nun endlich von ihr abfiel.

Als sie ihre Augen wieder öffnete, stand sie, von der Sonne des Mittags verlassen, in der Nokturngasse. Als wäre sie in eine andere Welt getreten, war das Tageslicht verschwunden und nur gedimmte Laternen beleuchteten den Weg, die schiefen Fachwerkhäuser und die zwei zwielichtigen Gestalten, deren Rücken Alethea zugewandt waren. Schnee und Nebel vermischten sich, ermöglichten ihr kaum mehr als fünf Meter zu schauen.

Sie versuchte sich vorzustellen, wie er hier lange gelaufen war.

Ohne noch weiter stehen zu bleiben und noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, lief sie weiter; ihre Absätze klapperten auf dem unebenen Pflasterstein, die Geruchsmischung von schwarzer Magie, Blut und Pisse drang in ihre Nase. Stumm folgten Constantine und Nathalia ihr, wagten es nicht, ein Wort zu sagen oder zu bitten, von diesem Ort zu verschwinden, an den sie nicht gehörten.

Schäbige Geschäfte türmten links und rechts von ihr auf, ließen sie fragen ob er jemals inne gehalten hatte, um sich die Schaufenster anzuschauen oder ob er wie sie durch die Gasse stolziert war mit nur einem Ziel vor den Augen; alles andere ignoriert hat.

Es war beinahe, als könnte sie ihn hier spüren; konnte seine jüngere Gestalt erkennen, wie er zwischen Geschäften hin und her huschte. Im Kontrast zu ihr, hatte er hierher gepasst: eine düstere Aura mit noch düsteren Intentionen.

Etwas prickelte auf ihrem Nacken und ihre Härchen stellten sich, während sie sich mit einem Mal sicher war, dass sie beobachtet wurde. Ein Gefühl, welches sie seit Monaten verfolgte. Als würde sie tatsächlich jemanden sehen können, blickte sie über ihre Schulter. Nichts.

»Wartet draußen«, ordnete sie ihren zwei Verfolgern an und zog ihren Mantel enger, als sie endlich stehen blieb. Borgin und Burkes. Nathalia murmelte etwas, doch ihre Stimme war zu leise und uninteressant für Alethea. Durch das Schaufenster hindurch schauend, konnte sie nichts als einen verlassenen Laden erkennen. Verstaubt, ohne Licht oder Farbe.

Die Tür knarrte nur laut, sobald sie hereintrat und eine noch bittere Kälte sie erfasste, als draußen geherrscht hatte. Ihre Handflächen prickelten und sie spürte die Kälte nicht einmal. Das kleine Geschäft war nichts besonderes und machte sich auf keine Mühe als etwas besonderes aufgenommen zu werden, erinnerte sie in seiner Zusammenstellung an den Hexenhammer in Hogsmeade; verwinkelte kleine Gänge zwischen hohen oder tiefen Regalen, Glasvitrinen an jedem freien Platz. Das Innere war so düster, wie die Magie, die in ihm pulsierte und zugleich so unscheinbar wirkte.

Alethea versuchte, sich nun nur noch mehr Professor Riddle zwischen dem Staub und dem Ätzen der Dielen vorzustellen; eine jüngere Version von ihm, eine vielleicht nicht so perfekte. Sie versuchte sich vorzustellen, was sie getan hätte, würde sie ihm gegenüber stehen. Was er getan hätte.

Hätte er sie so beobachtet, wie er sie nun beobachtete? Versteckt zwischen Regalen zu ihr geblickt?

Sie stellte sich vor, dass er ihr geschmeichelt hätte und dass er jedem schmeichelt hatte, der durch die Tür des schäbigen Geschäfts getreten war. Sie stellte sich vor, dass sie ebenso fasziniert von ihm gewesen wäre, wie sie es nun war.

»Hast das Schild draußen nicht gelesen? Kannst nicht lesen, wa?«, grummelte eine Stimme vom hinteren Teil des Geschäfts und riss sie aus ihren Gedanken. Alethea drehte sich von der Stelle weg, an der sie eine jüngere Version ihres Professors vermutet hatte und ein Mann mit dunkler Haut und beinahe komplett weißem Haar trat hinter einem Vorhang hervor; richtete seine schwarzen Augen auf Alethea.

Einen Moment sagte der Mann nichts, wog ab, ob sie sich verlaufen oder einfach nur keine Ahnung hatte, in welchen Laden sie gelangen war. Bevor er sich weiter blamieren und Alethea mit seinen Worten weiter verärgern konnte, sagte sie: »Alethea Desmond, ich habe einige Relikte bei Ihnen in Auftrag gegeben.«

Sekunden verstrichen, ohne dass sie eine Veränderung in seinem Verhalten wahrnahm. Die Panik, die sie sonst in den Augen ihres Gegenübers erblickte, wenn ihr Name genannt wurde, machte sich nicht bemerkbar.

Sie vermisste den unterwürfigen Respekt, der ihr sonst immer entgegengebracht wurde.

»Miss Desmond. Oh, verzeihen Sie mir für meinen unfreundlichen Ton.« Er sah nicht aus, als würde es ihm leid tun und auch sein Ton ließ nichts derartiges zu verstehen geben. Nun verstand sie, warum ein so begabter Junge in solch einem Laden gebraucht wurde.

Mr. Burke fehlte jeglicher Charme, konnte nicht einmal einen Menschen, der sein Herz auf der Zunge trug und die Welt mit seiner Liebe strafte, dazu zu bringen ihm ein Lächeln zu schenken. Tom hingegen würde selbst den Teufel davon überzeugen, seine Seele ihm zu verkaufen.

»Ich hatte nicht angenommen, dass Sie persönlich kommen würden. Seit das Ministerium die Richtlinien des Handels der magischen Objekte verschärft hat, trauen sich kaum noch welche persönlich aus der obigen Schicht hier runter.« Er drehte sich schon um, doch hielt noch einmal inne, um sie anzuschauen und dann die zwei Personen, die vor seinem Geschäft warteten. Hielt er sie für dumm? Für närrisch? Beides?

»Was wollen Sie hier, Miss Desmond?«, fragte er, ohne lange zu zögern, verstand schnell, dass sie nicht ohne Grund persönlich gekommen war. Er war einiges, doch war er kein dummer Mann und als sie ihm nicht antwortete, verschwand er wieder in den hinteren Teil seines Geschäfts.

Minuten verstrichen, bevor Mr. Burke wieder in den Verkaufsraum trat und einige schwarze Schatullen auf die, mit hunderten Zetteln und kleinen Objekten verdreckte, Theke legte; Alethea, die gefallen an einer verfluchten Halskette gefunden hatte, mit trägen Augen betrachtete.

»Haben Sie den Dolch?«, fragte Alethea und trat ebenfalls an die Theke, blickte Mr. Burke entgegen, spürte, wie ihre Fingerspitzen zu kitzeln anfingen. Etwas erwachte bei dem Gedanken in ihr, etwas, das seit Wochen in ihr geschlummert und sie zu etwas Toten gemacht hatte; endlich fühlte sie etwas, spürte das Blut in ihren Adern, in Fallungen geraten.

Ohne zu antworten, öffnete er die schmalste Schatulle und präsentierte ihr einen Dolch aus schwarzem Edelstahl, schien vorsichtig in jeder seiner Bewegungen, damit er die Klinge nicht berührte. Raues Licht fiel von der Lampe neben ihnen auf den kleinen Kristall, der den Griff zierte. »Es war nicht einfach dieses Relikt zu besorgen, es hat mich ein Vermögen gekostet.«

»Und Sie werden ein noch größeres Vermögen von mir bekommen«, flüsterte Alethea abwesend, wickelte ihre Hand um den Griff und hob ihn aus seinem Gefängnis. Der Dolch der Wahrheit. Ihr Finger fuhr über die Klinge, ließ ihr Herz rassen und ihren Mund trocken werden.

Sie überlegte, sich selbst zu schneiden, doch dann glühte eine Idee in ihrem Verstand auf.

»Wie war er?«, fragte Alethea hauchzart und löste ihren Blick nicht von der Waffe in ihrer zitternden Hand. Ein Gefühl brannte in ihrem Herzen und füllte jeden Atom in ihrem Körper, brachte ihre Lippen dazu, sich zu einem Lächeln zu verbiegen.

»Verzeihung?«

Alethea löste ihren Blick und schaute Mr. Burke an, neigte ihren Kopf etwas. Ihr Atem stieg in Nebelschwaden von ihrem Mund auf und Staub flog um sie herum, als sie in die schwarzen Augen ihres Gegenübers starrte. »Wie war er?«, wiederholte sie leise. »Tom Riddle.«

Emotionen huschten über sein Gesicht, als hätte sie den Teufel selbst vor seinen Augen beschworen und würde nun seine Seele einfordern, doch bevor er etwas sagen oder gar flüchten konnte, stieß er einen lauten Schrei aus und sein Gesicht verzog sich vor Schmerzen.

Sein Körper zuckte und Alethea drückte den Dolch noch etwas tiefer in seine Hand, hielt ihn zwischen der Theke und dem Dolch gefangen. Blut quoll über seine Hand, färbte das Holz und Papier unter ihr rot. »Verfickte Fotze, du—«

Die Beleidigung starb in seinem Mund und bevor er sie mit seiner freien Hand packen konnte, hob er seinen Kopf erneut. Alethea grinste, als seine Augen milchig wurden und jeder Hauch der Wehr aus seinen Gedanken verschwand.

»Tom Riddle. Erzähl mir alles, was du über ihn weißt. Jedes Gerücht. Jede Situation. Jedes Detail«, befahl sie ihm und, gezwungen von dem Fluch, der auf dem Dolch lag, begann er zu trällern wie ein Vogel.











AUTHOR NOTE.    Still alive, but I wish I wasn't xoxo (anyway, keine Ahnung was das ist.) Arbeite 50h die Woche und bin bisschen depressiv, so sorryyyyyy

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