⠀ ⠀ ⠀ XVIII. shattered mind in the inferno light
AUTHORS NOTE. Ein Monat zu spät hochgeladen... upsi
ALETHEA WAGTE TROTZ ihres aufgebrachten Verstandes, der sich von Sekunde zu Sekunde in einen tieferen Sturm aus Paranoia und Wahnvorstellungen verwandelte, zu behaupten, dass sie vollkommen davon überzeugt war, zwischen den Ästen der Schweigenden Wälder Dinge zu sehen, die sie nicht sehen wollte.
Glaubte, Dinge in der Finsternis der Bäume zu erkennen, die sie nicht sehen sollte. (Die kein Sterblicher sehen sollte, der vor hatte, bei Verstand zu bleiben... doch vielleicht traf das nicht einmal mehr auf Alethea zu.) So tief waren sie in die Wälder gegangen, dass Alethea sich sicher war, dass — so wäre es Tag und würde die Sonne mit gebrochenen Lichtstrahlen durch die Kronen in das Innere des Waldes gelangen — sie zwischen den Bäumen den Distel See erkennen würde.
»Konzentration«, verlangte Riddle und brachte Alethea dazu, ihre Augen wieder auf ihn zu richten. Nur das Feuer der vielen Fackeln als Lichtquelle, wie die Flammen beinahe auf seinem Gesicht spielten und Schatten auf seiner reinen Haut tanzen ließen, wirkte ihr Professor etwas missgestimmter.
Seine Stirn lag in leichten Falten und seine Augen fixierten sie mit einer solchen Intensität, als habe sie etwas von ihm gestohlen. Neben seiner, an einem der hohen Steine lehnenden, Gestalt, saß Érebos mit abwesender Haltung, beobachtete den Schar Fledermäuse, die über sie hinweg flogen, und schenkte weder Schüler noch Lehrer einen Hauch von Aufmerksamkeit.
»Verzeihen Sie mir, wenn ich etwas zittrig auf meinen Beinen bin, Sir.« Alethea erwiderte den Blick ihres jungen Professors mit einem kühlen Lächeln. Das Buch in ihrer linken Hand rückte immer mehr in den Hintergrund ihrer Gedanken, beinahe so, als würde sie es unterbewusst verdrängen oder als würde etwas sie dazu bringen, es zu verdrängen. »Das letzte Mal, dass ich mich in den Wäldern aufgehalten habe, fand ich eine Leiche, die wohl keine Leiche war.«
Es war ein missglückter Versuch, die Situation, die sie mit Erinnerungen heimsuchte, mit Humor zu lockern, der nur mit einem missbilligenden Blick Riddles beantwortet wurde. »Wenn Sie sich nicht in der Lage fühlen sollten, können wir den Unterricht vielleicht für einige Zeit unterbrechen. Ich möchte Sie natürlich nicht in weitere traumatische Situationen bringen, Miss Desmond.«
Seine Stimme war so harmlos; die Nacht als sein Zeuge der Unschuld. Seine Worte konnten beinahe (von dummen, leichtgläubigen Narren) als besorgt missverstanden werden, jedoch waren es seine schwarzen Augen, die nicht einmal versuchten, die wahren Hintergedanken zu verstecken.
Bastard.
Wie sie vor Genugtuung glänzten und von Überheblichkeit leuchten, da er wusste, dass sie diesen Unterricht nicht nur brauchte, um ihre Magie endlich zu verstehen, sondern auch wollte. Es war der Fluch der Menschheit, die erhobene Position auszunutzen und auszukosten, sobald man sich in ihr wiederfand.
Alethea verschloss ihre Lippen und hob ihr Kinn, verengte ihre Augen, anstatt ihn anzubetteln und zu schwören, dass ihre Worte nur aus einer Laune heraus entstanden waren. Diesen Wunsch würde sie ihm nicht erfüllen und dem Heben seiner Mundwinkel nach, wusste er dies.
Mit dem neuen Schmunzeln auf seinen Lippen warf er ihr ein kleines Objekt zu, welches sie trotz des mangelnden Lichts geschickt mit ihrer rechten Hand auffing. Das kühle Glas brannte beinahe in ihrer Hand, die durch den Wärmezauber, den Professor Riddle über ihre zitternde Gestalt gelegt hatte, erwärmt worden war. Alethea öffnete diese und blickte auf die Phiole hinunter.
Die Flammen brannten etwas heller, sobald sie den Inhalt beäugte, als wollten sie ihr bei ihrer Verwirrung helfen. »Blut?«, fragte sie nach einem kurzen Moment und schluckte, fühlte noch immer die Bürde der Ehre, die verlangte, ihr eigenes Blut zu nutzen. »Erachten Sie mein Blut etwa noch immer zu wertvoll, Professor? Oder wollen Sie mich einfach nur als ehrenlos darstellen?«
Riddle hob sein Kinn und musterte sie etwas überrascht über ihre Reaktion, beinahe, als würde er ihr nicht glauben wollen. Die Erinnerung an die Unterrichtsstunde, in der Alethea einen Dämon beschworen hatte, tauchte in ihrem Verstand auf.
Sie dachte oft an den Moment, in dem seine Hand auf ihrer Hüfte gelegen hatte.
»Wenn Sie wirklich glauben, dass ich Ihnen Blutmagie lehren werde, dann sind Sie dümmer als ich geglaubt habe. Ich versprach Ihnen die Dunklen Künste, nicht die Dunklen Mächte und auf keinen Fall Magie, die zu der diabolischen zählt. Es wird ein schlichter Logalisierungszauber«, erklärte Riddle mit verschränkten Armen, beinahe selbst beleidigt von ihrer (wie er es nannte) Dummheit.
Endlich schenkte Érebos den zwei Sterblichen (Alethea würde weiterhin annehmen, dass ihr Professor sterblich war und nicht das Monster, zu welchem ihr Verstand ihn langsam zeichnete.) nun doch Aufmerksamkeit; blickte zu Riddle auf, als hätte Érebos jedes einzelne Wort verstanden und wäre nun genauso verwirrt wie Alethea.
Er sollte ihr die Dunklen Künste beibringen, damit sie sich vor dem verteidigen konnte, was bevorstand, und sie nicht als einen Bluthund missbrauchen.
Missbilligend schnalzte er mit seiner Zunge und richtete sich vollkommen auf, entfernte sich mit wenigen Schritten von dem Stein, an welchem er gelehnt hat. »Haben Sie tatsächlich erwartet, ich würde Ihnen in der ersten Stunde unseres kleinen Unterrichts die tiefste der dunklen Künste beibringen?«.
Er kam ihr näher und blieb vor ihr stehen, sah zu ihr herunter mit einem Hauch von Gleichgültigkeit. Es fühlte sich an, als versuche er sie klein zu halten und ihre Kehle wurde enger, als sie ihn anstarrte; Wut in ihrem Herzen spürte.
Sie war nicht klein und er wusste dies auch.
»Oh, Miss Desmond.« Er schüttelte seinen Kopf so missbilligend. »Beachtet man die jüngsten Geschehnisse und Ihre Frage nach Horkruxen, wäre ich ein Narr, würde ich Ihnen nun Dinge beibringen, die Sie vielleicht noch etwas tiefer in die Dunkelheit ziehen, die Sie angeblich so verabscheuen.«
Die Worte entkamen ihm und ihr ein spottendes Geräusch, als sie zu ihm aufblickte und ihre Augenbrauen hob; die Doppelmoral seiner Worte nur lachhaft fand. Ein Wolf, der im Schafspelz heult, doch im Schatten das Lamm riss. »›Noch etwas tiefer‹? Ausgerechnet Sie wagen es, so etwas zu behaupten?«
»Ausgerechnet ich wage es, so etwas zu behaupten.«
Sekunden verstrichen und sie blickten einander an. Niemand würde seinen Blick zuerst abwenden, der Stolz zu groß und zu allumfassend. Das Licht der Fackeln brannte für wenige Sekunden in ihren Augen, doch traute sie sich nicht einmal, länger als eine halbe Sekunde ihre Augen zu schließen.
»Wieso haben Sie Ihre Meinung geändert?«, fragte Alethea, während das Feuer sich in seiner Iris spiegelte und aus schwarz etwas goldenes machte.
»Ich befürchte, ich benötige mehr Kontext.«
»An dem Abend, an dem Sie mich von dem Bahnhof abgeholt haben. Ich habe Sie darum gebeten, mir die Dunklen Künste zu lehren, doch Sie wollten nicht. Wieso jetzt doch?« Riddles Blick löste sich für wenige Sekunden von ihren Augen, huschte über ihr Gesicht, als würde er das Licht verfolgen, das auf ihre Haut niederfiel. Es war ein schöner Blick.
»Sie haben es in unserem Schwur von mir verlangt.« Seine Worte klangen nicht überzeugend und erst jetzt fiel ihr auf, wie nah sie sich tatsächlich standen, doch wusste sie auch: würde sie einen Schritt zurückweichen, hätte sie den unausgesprochenen Krieg verloren.
»Wenn Sie mir nichts beibringen wollten, hätten Sie nicht zugestimmt. Warum haben Sie es?«
»Erleuchte mich: Wieso wollte ich dir nichts beibringen?«
Alethea versuchte sich daran zu erinnern, versuchte sich an die Nacht vor fast einem Monat zu erinnern. Es war schwer, Nebel hatte sich schon lange in ihrem Kopf ausgebreitet und beinahe alles verschluckt, was sie einem Menschen gemacht hatte,
»Sie sagten, dass ich mich selbst belügen würde und Sie mir erst etwas beibringen würden, wenn ich aufhören würde...« Verwirrt runzelte sie ihre Stirn. Riddle sagte ihr, Alethea würde sich belügen und keine Moral besitzen; alleine die Furcht vor Konsequenzen. »Ich habe meine Meinung noch immer nicht geändert.«
»Tatsächlich?« Beinahe neckend fragte er sie und sie konnte es nicht verstehen, starrte ihn nur an.
»Ich bin kein schlechter Mensch.«
Der Wind drehte sich und just die Strähne, die zuvor aus ihrem Zopf gefallen war, wehte in ihr Gesicht. Es war ein leichtes Lächeln auf seinen Lippen, als er seine Hand hob und die Strähne hinter ihr Ohr strich. Es verwirrte sie stets, weshalb er so zart war. »Du doch nicht...«, säuselte er leise und Alethea schnaubte leise.
Es war etwas in der Weise, wie er sie nun betrachtete, wie seine Fingerspitzen hauchzart über ihre Haut streiften. Alethea wusste nicht, ob sie es mochte oder verabscheute; war sich selbst noch nicht einmal sicher, wie sie über den Professor dachte. »Sie haben noch immer meine Frage nicht beantwortet.«
»Ich habe jede Ihrer Frage beantwortet.«
»Nicht die offensichtliche. Weshalb ein Logalisierungszauber?«
»Sie haben nachgelassen. Strengen Sie Ihren Kopf etwas an.« Riddle nickte zu dem Buch in ihrer Hand hinunter, woraufhin Alethea es anhob und auf die alten, vergilbten Seiten hinabblickte. Dabei spürte, wie sein Blick weiterhin auf ihr ruhte. Die Sprache, zu alt und zu komplex, um von Alethea vollständig verstanden zu werden, wandelte sich mit jeder Sekunde, die sie auf die Zeilen starrte, in eine neue Gestalt. Die Buchstaben zerflossen wie heißes Metall und errichteten eine neue Form, in der jedes Wort in perfekter lateinischer Sprache geschrieben stand.
Mit flinken Augen überflog sie den Zauber und schluckte, weil ein unwohles Gefühl der Dummheit von ihr Besitz ergriff. Wieso hat sie nicht eher daran gedacht?
»Können Sie die Frage selbst beantworten?«
Sie antwortete ihm nicht mehr, versuchte nur ihn nicht anzuschauen, während sie seinen Erklärungen und Ausführungen des Zaubers lauschte. Érebos verschwand im Wald, folgte dem Rascheln einer vermeintlichen Maus und ließ sie alleine mit Riddle zurück. Mit ihrem Zeigefinger tippte sie ungeduldig auf die Kuppe ihres Daumens.
Riddle erklärte mit fester Stimme und Alethea blickte auf die Phiole in ihren Händen, mit einem ja beinahe verstörten Ausdruck, während sie langsam verstand. Das Blut war kein gewöhnlicher Preis, der von einer höheren Macht verlangt wurde, sondern mehr ein Diebstahl.
Der Zauber war nicht gewöhnlich. Er verlangte ein ehrenloses Opfer, verlangte eine hinterlistige Einladung in einen fremden Körper. Alethea würde nicht mit einem Teil von sich bezahlen, sondern jemand anderen zahlen lassen. Dies war kein Aufspürungszauber für einen Freund, sondern einen Feind.
Stolz verlangte noch immer von ihr zu schweigen und ihm weiterhin die kalte Schulter zu zeigen, in der Hoffnung, die Steinmauer ihrer Ehre mit langsamen Bewegungen wieder aufzurichten, doch konnte sie nichts anderes als der Stimme des Neugier zu gehorchen und ihren Kopf zuheben. »Wem ist das Blut, Sir?«, fragte sie leise über das plötzliche Rascheln des Waldes.
Alethea fühlte sich unwohl, fühlte sich beobachtet und befürchtete, dieses Gefühl nie wieder loszuwerden. Die Schweigenden Wälder (sie taten alles außer schweigen) wurden unruhig und ihre Bäume wackelten, angeführt durch die Kraft der letzten Herbst Woche. Kälte würde sie zittern lassen, doch nun war es nur die leise Angst.
»Sehen Sie mich nicht so an, es ist das Blut einer Freundin. Um Ihr schlechtes Gewissen etwas zu beruhigen: Sie ist damit einverstanden«, verkündete Riddle etwas zu ruhig und trat ein paar Schritte zurück, ließ Alethea alleine in dem Hexagramm stehen, welches um sie herum gezeichnet wurde.
»Was wird mit ihr passieren?« Alethea schluckte und ließ ihre Augen noch einmal über die Seiten gleiten, erhoffte sich, eine Erklärung der Warnung zu finden. Als sie nichts fand, war sie erleichtert und zugleich beunruhigt; neugierig, da sie wusste, dass ihr Professor ihr niemals die Wahrheit sagen würde.
»Konzentriere dich; befreie dich von unnützen Gedanken, so wie wir es gelernt haben«, befahl Riddle, anstatt zu antworten und ohne zu wissen wieso, gehorchte sie ihm und schloss ihre Augen. Das Buch verschwand aus ihren Fingern.
Es war nicht einfach für sie, von allem loszulassen.
Die letzten Wochen haben ihren Verstand zu einem Labyrinth geformt, das sie nicht verstehen konnte. Manchmal konnte sie das Labyrinth nicht einmal vor lauter Steinmauern erkennen. Alethea atmete tief durch und konzentrierte sich auf das, zuvor in den Hintergrund gerutschte, Heulen des Waldes.
»Denken Sie daran—«
Alethea ließ ihn nicht ausreden, unterbrach ihn mit einem erneuten Versuch des Humors. »Niemals ins weiße Licht laufen.« Als er nicht darauf reagierte, akzeptierte sie, dass sie nicht lustig war und nahm sich vor, nie wieder einen Witz zu reißen.
»Behalte die Konsequenzen des Zaubers im Hinterkopf, Alethea. Versagst du, kann der Gesuchte ebenso deinen Standort herausfinden, wie du seinen.« Die Worte der Warnung waren sanfter als die Worte des Spottes zuvor.
Noch immer von einem miserablen Gefühl heimgesucht, zerbarste das Glas unter ihrem festen Griff und heißes Blut, so frisch und lebendig, als wäre es ihren Adern entkommen, lief über ihre Haut. Mit dem Zerbrechen der Phiole durchzuckte ein Blitz den Himmel und das Hexagramm fing loyal zu dem Zauber Feuer; die Flammen tanzten in die Höhe der Nacht.
Alethea sank auf ihre Knie, der weiche Boden gab unter ihrem Gewicht für wenige Sekunden nach, während der Geruch von feuchter Erde, verrotteten Moos und Laub sich mit dem Duft des Eisens vermischt und in ihre Nase drang. Die lateinischen Wörter flossen über ihre Lippen und verloren sich selbst in der Dunkelheit.
Der Himmel dunkelte sich ab, versperrte dem Mond jegliche Einsicht auf die Welt unter ihm, und dem hellen Blitze folgend hallte ein krachender Donner, der den Regen rief. Ein Schauer aus kaltem Stahl prasselte auf Alethea hinab und innerhalb von wenigen Sekunden verwandelte sich der Waldboden in eine schlammige Masse.
»Invoco te, anima quaesiti. Sine me te invenire«, stieß Alethea mit zarter Stimme aus und zog ihre noch immer von dem fremden Blut besudelte Hand durch den dunklen Morast vor sich; ließ das Blut und den Matsch sich verbinden wie zwei Liebende.
Regen schlug gegen ihre Haut, wie kleine Messer ließ er sie beinahe bluten, und trotz des Wärmezaubers, der sich schützend um ihre Gestalt hätte legen sollen, umgab Alethea eine plötzliche Kälte, die durch ihre getränkte Kleidung drag, hinein in die letzte Wärme ihres Inneres und mit langsamer Hand ihr Herz umfasste.
»Du bist zerstreut und unkonzentriert.« Seine Stimme hallte wie eine heiße Brise über das Poltern des Unwetters und lichtete für eine Sekunde das Chaos, welches sich in ihrem Verstand formte. (Die Welt fühlte sich merkwürdig an, nicht mehr ganz... verständlich.) Trotz seines beinahe dysphemistischen Ton seiner Worte fühlte sie eine ähnliche Wärme, als würden seine Finger eine nasse Strähne aus ihrem Gesicht wegstreichen.
Für wenige Sekunden hob sie ihren Kopf und blickte Tom entgegen. Regen hatte sein Haar dazu gebracht sich zu kringeln und das Hemd klebte an seinem Oberkörper wie eine zweite Haut, weigerte sich, ihn loszulassen. Ein Blitz erhellte den Wald noch einmal, doch schien das Erzeugen von Angst und Schrecken nur eine Ausrede zu sein; getrieben von Sehnsucht wollte das Unwetter ihn jeglich erleuchten.
Seine Augen glühten wie Kohlen in der Dunkelheit, Geheimnisse und Lügen verborgen hinter der schönen Maske, doch war etwas an seinem Blick, das sie stutzen ließ. Dass alles in ihrem Verstand ruhig werden ließ; all dieses Chaos, die Stimmen und die Ängste. (Sie mochte es nicht, wieso sollte sie?)
Er sah sie an, als würde er ihre tiefste Stimme kennen und als würde er sie verstehen, doch war nun sie es, die nicht verstand, weshalb.
Der Professor nickte ihr zu und sie richtete endlich ihre Aufmerksamkeit auf das Ritual vor sich. Zittrig war ihr Atem, während sie ihre Hände hob und die lateinischen Worte in die Nacht hinaus rief; ihre Stimme von der Finsternis verschluckt.
Als sie nun ihre Hände wieder zu Boden legte und ihre Finger in der nassen Erde vergrub, ihre Haltung gebeugt hielt, als würde sie eine dunkle Macht, die sich vor ihrer Gestalt materialisiert hat, verehren, spürte sie die Auswirkungen des Zaubers.
Es war keine Magie, die sich in ihrem Körper regte, kein Funken etwas Größerem, sondern antwortete ihr etwas von Abseits, aus dem Schatten von jenseits des Sichtbaren. Eine plötzliche Verbindung, als würde ein dunkles und haariges Herz neben ihrem im Einklang schlug. Gefangen in ihrer Brust, auf ewig etwas Fremdes.
Die Erde, auf welcher sie wie ihre Vorfahren kniete, begann zu pulsieren, ein Echo aus dem dunklen Herz. Die Welt hielt den Atem an und dann zerriss ein greller Blitz das Gemälde des schweigenden Waldes, ließ die Fetzen zu Boden fallen, während ein Groll durch die Bäume hallte, wie das Brüllen der Erweckung einer antiken Bestie.
Ihre Augen schlossen sich von selbst und sie spürte die Vibrationen des Zaubers, sich langsam von ihr zu entfernen. Ein Stein hatte sie in das Meer geworfen und nun suchten die roten Wellen des Blutes nach ihrem Besitzer.
Ihr Herz schlug leise, doch pochte das fremde Herz lauter und lauter. Kroch langsam aus ihrem Inneren heraus, legte sich auf ihre Haut und ließ einen Schauer über ihren Rücken laufen, als sie den Herzschlag direkt hinter sich hören konnte. Dann plötzlich fühlte sie, wie Finger sich mit ihren verschlungen, sie noch etwas tiefer in den Matsch des Waldbodens zog.
Ein Herzschlag und der letzte Versuch der Flucht, dann wurde sie mit einem Ruck in die Finsternis unter sich gezerrt. Verschwand für immer in dem Meer mit den blutenden Wellen.
Endlose Ruhe umgab sie mit einem Mal, das Donnern und die Blitze nur noch eine entfernte Erinnerung, während Alethea so schwerelos hinab auf den Grund des Meeres fiel, das kühle Wasser umschloss ihren Körper wie ein sanfter, aber unerbittlicher Schleier. Ihre Finger steckten sich in das ferne Licht, versuchten, die Strähnen von Gold zu fangen, doch wurde sie nur enttäuscht, als ihre Hände leer verblieben. Sie genoss es hier, keine Geräusche und keine Ängste. Es war die rohe Existenz.
Als hätte er sie nie gewollt, spuckte der Ozean Alethea mit einem Ruck wieder aus, riss die Ruhe und die Kälte aus ihren Händen. Doch war es kein Unwetter, das sie Willkommen hieß mit seiner eisernen Faust oder das tobsüchtige Geschrei des Chaos. Es war ein Bild des unheimlichen Schweigens.
Inmitten der verfallenen Ruine, die wohl einst einmal eines der Schlösser der Industrialisierung gewesen war, eine prächtige Fabrik, stand nun die Frau, die Alethea suchte. Beinahe kam es ihr vor, als würde sie alles um sich herum durch einen milchigen Filter betrachten. Die Welt schien verzerrt, die Farben noch milder und trister und sie würde annehmen, dass alles zur farblosigkeit verdammt war, doch da stand die Frau, wie ein brennendes Feuer. Allein ihr rotes Haar verlieh Farbe und Leben, die Fabrik in dem gespenstischen Grauton des Verfalls.
Wie in einem Standbild bewegte sich die Gesuchte nicht, blieb stehen wie eine der steinernen Skulpturen, die über Kirchen wachen, und ihr Blick blieb vehement von Alethea abgewandt. War dies nur ein Einblick in einen Moment? War die Zeit stehen geblieben?
Doch da... Ihre Schultern bewegten sich und sie atmete; Nebel stieg vor ihrem Mund empor, als sie die Luft wieder ausstieß. Alethea blickte über ihre Schulter und fand nur noch mehr trostlose Welt, Staub und Geröll. Als sie sich in Bewegung setzte, knirschte der Dreck unter ihren Füßen, und langsam wurde ihr klar, worauf die Frau so beharrlich starrte.
Es war ein Gemälde, welches inmitten des Chaos der Ruine einer vergangenen Zeit mit goldenem Rahm an einer Wand lehnte und wartete; beinahe eine lebendige Aura von sich abgab. Alethea beobachtete es etwas länger und mochte es nicht. Kunst erweckte Emotionen, doch war hier kein Trost zu finden.
So viel passierte, so viele Farben verschwanden. Es erweckte Trauer und Unbehagen, doch vor allem Angst. Es erschien wie ein Ausschnitt aus dem Inferno, wie ein kurzer Einblick in die Offenbarung und in die Geschichte des Endes.
Was ist—
Die Frau drehte sich um und starrte nun Alethea in die Augen; das sinistre Gemälde als ihr Hintergrund und ihre Augen in einem so hellen Grau, dass es beinahe weiß war. Es passierte so schnell, wie sie ihren Arm packte und Alethea vor Panik aufschrie; ihr Herz sich selbst überholte.
»Lauf nicht von der Wahrheit davon, sondern vor dem falschen Weg! Die Nacht ist voller Schrecken und Lügen!«, schrie die Frau sie fast an, doch Alethea verlor bereits ihr Gleichgewicht und fiel zurück.
Wasser umschloss sie erneut und Hände wickelten sich um ihre Glieder und zerrten sie in die Tiefe. Immer und immer tiefer, bis das Licht an der Oberfläche nur noch ein Punkt war und ihre Lungen zusammengedrückt wurden, Blut anstatt Luft aus ihnen strömte.
In der Ferne wurde ihr Name gerufen, doch ihr entkam kein Ton und sie schrie mit rauer Kehle und ohne einen Mund. Endlose Finsternis kroch in ihre Seele, seine schwarzen Klauen zerfetzten alles auf dem Weg; nahm ihr jegliche Möglichkeit, sich vor ihrem Schicksal zu wehren.
Immer tiefer wurde sie gezogen, in den schwerelosen Ort ohne Raum und Zeit. Ihre Glieder von sich gerissen, bis die Hände sie losließen und sie erneut fiel. Tränen entkamen ihren Augen, die Schwärze ihres Sichtfeldes so endgültig, dass sie davon überzeugt war, dass sie Hitze auf ihren Wangen, ihr eigenes Blut war und sie sich ihre Augen ausgekratzt haben musste.
Blendendes Licht prasselte auf sie nieder und geschlagen fiel Alethea auf ihre Knie. So viel Blut beschmutzt ihre Hände. Die Möglichkeit des Augenlichts zurückgewonnen, erblickte sie das Unbeschreibliche; erkannte, dass sie sich in jener Welt wieder befand, die sie auf dem Gemälde erkannt hatte.
Alethea (Sie glaubte, sie war noch Alethea, aber wer war sie, um dies zu wissen?) blinzelte die Grausamkeit davon und erblickte noch mehr; spürte wie ihr Puls in ihren Fingerspitzen nach der Flucht schrie.
Zwischen Blut und Dunkelheit; Fäden aus der roten Substanz des letzten Lebens und schwarzen Schatten, stand es von der Finsternis der Grausamkeit vollkommen verschluckt. Glieder länger als die eines Menschen, größer als jedes Tier, was sie jemals gesehen hatte, starrte es zurück. Augen so hell glühend und aus der Dunkelheit hervorstechend, als würden sie in die Glut eines Feuers blicken.
Nachtgleiche schuppige Haut, Hörner wuchsen aus seinem Kopf wie wilde Zweige, rote Augen wurden von Flammen zerfressen und doch starrte es nur. Es starrte, während Alethea versuchte zurückzuweichen, ohne sich jedoch zu bewegen. Sie war gelähmt, Angst und Schecken zerfraßen ihre Sinne.
Es öffnete seinen Mund und eine Stimme entkam, die Alethea weinen und schreien ließ. Sie hatte noch nie so etwas gehört; fühlte Übelkeit ihren Magen schütteln. »Libera me de vinculis meis.«
Befreie mich von meinen Fesseln.
»Libera me de vinculis meis!«, schrie es erneut so laut, dass ihre Ohren zu bluten anfingen und wahres Blut über ihre Haut rollte. Sie umfasste ihr eigenes Gesicht und versuchte, ihre Ohren vor dem Ton zu schützen; schmiss sich auf den Boden und schrie und schrie. Riss sich ihre eigene Haut auf, denn Schmerzen waren besser als der Anblick dieses Monsters. Schrie so laut, bis ihre Kehle nachgab, denn Schmerzen waren besser als der Abscheulichkeit zu lauschen.
Und dann war alles vorbei.
Hände (so viel sanfter als zuvor) wickelten sich um ihre Arme, die wild versuchten dem Griff zu entkommen, der versuchte sie davon abzuhalten, ihre eigenen Pulsadern mit ihren Zähnen aufzureißen, denn der Tod war besser als diesem Grauen beizuwohnen.
»Alles ist gut. Ich bin hier«, wisperte die Stimme, die so nah bei ihr war und doch schrie sie weiter; konnte den Anblick nicht vergessen und konnte den Wunsch nicht loswerden, alles zu beenden. Trauer und Angst lächelten dem Tod zu und ließen die Puppen fallen.
Seine Hand umfasste ihre beiden Handgelenke und er zog sie näher zu sich, ließ zu, dass sie sich an ihn klammerte, als er ihre einzige Rettung. Aletheas innerer Kampf ließ nach und ihr Atem fühlte sich merkwürdig in ihren Lungen an, so würde er nicht ganz dort hingehören.
»Alethea, schau mich an«, sagte er und sie hatte schon lange erkannt, wer er war, doch wollte sie ihn nicht ansehen. Sie vergrub sich in den Schutz seiner Arme, die sich um sie legten. Fühlte es nur nicht ganz. Fühlte nicht den Regen auf ihrer Haut verglühen oder wie die Flammen um sie herum langsam starben, sie spürte nur die Nähe.
Ihr Verstand zerbrach, doch war er hier und hielt sie. Der Tod wäre gnädiger.
»Atme.« Tom legte seine Hand auf ihre Wange und seine sanften Berührungen führten ihr Gesicht zu seinem; seine Augen so vor Sorge verzerrt. Etwas stimmte nicht. Sein Daum, so zärtlich auf ihrer Haut, strich das Blut hinfort, das ihren Augen wie Tränen entkommen war.
Alethea blickte in seine Augen und fürchtete, so wenn sie den Blick abwandte, dass sie erneut an den Ort zurückkehren würde. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie, von Schlamm und Regen beschmutzt und durchtränkt, halb auf ihm lag und sie einander so nah waren, dass sich alles wieder real anfühlte.
»Ich hab sie gefunden...« Ihre Stimme klang rau und kaputt, so fremd in ihrem eigenen Körper und doch entlockte sie ihm ein überraschtes Lachen. Es war ein schöner Ton und gemeinsam mit dem Gesuch des Regens und den dunklen Locken auf seiner Stirn, die ihn viel jünger erschienen ließen, musste sie ihn ebenfalls anlächeln.
»Du siehst aus, als wärst du durch die neun Kreise der Hölle gelaufen«, sagte er mit leichter Stimme und die Sorge verschwand langsam, als er ihre Handgelenke los ließ, um ihre Hand in seine zu nehmen; die aufgerissene Haut an ihren Fingern vorsichtig heilte.
»Es scheint, als hätte ich keinen Virgil gehabt.« Sie beobachtete ihn bei seinem Werk und obwohl noch Regen auf sie niederprasselte, hatte Alethea die Außenwelt schon lange vergessen und würde sich nicht mehr die Bürde erlegen, um sie wieder auf ein neues zu entdecken.
Alethea hob ihren Blick nur langsam und sah ihn an. Bemerkte, wie er selbst die wunderschöne Nacht in den Schatten stellte und selbst in seiner Finsternis strahlte. Etwas stimmte nicht... Sie hatte vergessen, weshalb sie ihm misstraut hatte.
Er hielt für wenige Sekunden ein und sah sie ebenfalls an. Tom betrachtete sie so öfter und nie hatte sie die Fähigkeit gefunden, es zu beschreiben. Es war, als würde er eine neue Sprache in ihren Augen finden und zu verabscheuen, sie mit demselben Atemzug traumhaft fand.
»Ich bin hier, nicht wahr? Ich habe nicht vor zu gehen.«
Vielleicht sollte er es, doch in Wahrheit wollte sie es nie komplett.
Ihre Unterlippe zitterte und in ihren Augen sammelten sich erneut Tränen. Alles war zu viel für sie und sie verstand nicht. Als wäre ihr Verstand nur noch eine Glasvase, die sie zu oft hatte fallen lassen. »Ich habe solch eine Angst«, flüsterte sie ihr Geständnis der Schwäche, und in der Ferne hatte der Sturm längst aufgehört und den Mond einsam zurückgelassen, der die beiden Gestalten nun beleuchtete.
Tom hatte diesen Blick des Unverständnisses, seine Hand auf ihrer Wange, um dort die kleinen Wunden zu heilen, die ihre eigenen Hände ihr zugefügt hatten. Es war, als könnte er es nicht verstehen, weshalb die Sonne sich nicht um ihn drehte.
»Weshalb, wenn du so viel mächtiger bist als all dies? Es existiert nichts, was dir schaden kann«, sagte der Teufel persönlich. Sie durfte ihm nicht vertrauen.
Seine Worte hallten in ihren Ohren, als er ihr half, aufzustehen, und Neugier verbrannte ihre Seele, während sie ihre Augen nicht von ihm nahm. »Was ist, wenn ich mich vor dir fürchte?«, fragte sie und blieb ihm trotz allem so nah, dass sie trotz der Dunkelheit sah, wie sein Blick tragischer wurde.
»Dann sorg dafür, dass ich mich mehr vor dir fürchte, als du dich vor mir.«
Auch er vertraute ihr nicht.
DELILAH HAWORTH fühlte die Hilflosigkeit ihr den Atem rauben, während sie ihrer besten Freundin dabei zusah, wie sie ihren Verstand verlor, und spürte, wie sich die Schuld neben sie gesellte, da Delilah versucht hatte blind zu bleiben. Da sie versucht hat, die Lügen ihrer Seelenverwandten zu akzeptieren.
Wahrheit war nie ein Bestandteil ihrer Freundschaft gewesen; Delilah war es gewohnt Aletheas Lügen zu lauschen und sie zu ertragen. Niemals hatte sie geurteilt; wusste immer, dass sie einen Grund hatte und niemals log, wenn es wichtig für sie war.
Doch da stand sie nun. So nah am Abgrund, den sie nicht erkennen konnte und Delilahs Herz brach. Wieso hatte sie es nicht eher bemerkt? Wieso war sie so blind gewesen? Was ein grausamer Mensch war sie doch nur.
Die dunklen Locken von Alethea waren ungekämmt, ihre Züge— ihr Gesicht hatte schon immer etwas Heimgesuchtes und Altes an sich, als würde sie nicht in diese Zeit gehören — waren hohl und verlassen von dem lebendigen Hauch. Ihre Pupillen verdrängten ihre graue Iris, bis ihr Blick glasig und ungenau war.
»Ich war in Esmeraldes Zimmer und das einzige, was ich gefunden habe, war, dass sie sich für die dunklen Künste interessiert hat. Interessiert. Gegenwart. Sie lebt. Der Smaragd nahm nur das Lebendige, nicht das Leben. Aber—Sie hat ein Buch über Thanatomantik gelesen. Nekromantie. Was ist—was ist, wenn sie tot war und...«
Die Worte, die aus Aletheas Mund schwallen ergaben keinen Sinn; immer wieder wiederholte sie dieselben Sätze in der Hoffnung, etwas Neues zu finden. Nervös tippte sie mit ihrem Zeigefinger auf ihren Daumen. Sie machte dies immer, wenn zu viel in ihrem Kopf passierte.
Es hatte etwas verstörendes sie zu beobachten; diese Schatten ihrer Seele, die aus ihrem Inneren gekrochen waren und sich nun um sie wickelten. Sie war so aufgebracht gewesen und hatte Delilah in ihr Zimmer gezerrt. Hilflos hörte Delilah zu und hilflos sammelten sich die Tränen in ihren Augen.
Alethea fixierte die Rückseite ihres Standspiegels; die kleinen Zettel, die an die leere Seite geheftet wurden. Nichts ergab einen Sinn. Es war die Verschwörungswand eines Verrückten (Denn genau dies war Alethea nun.). Sie hat versucht zu verstehen, hatte versucht, die vielen verschiedenen Sprachen zu verstehen, die Alethea benutzt hatte. Sie sagte, sie tat dies, damit die anderen es nicht verstanden.
Delilah wusste nicht, wer die anderen waren.
»Ich bezweifle, dass es ein Zufall ist, dass wenige Zeit später ein Dämon Eleni von einem Dämon besessen wurde... Sie oder vielleicht auch der Dämon hat mir gesagt, dass ich niemandem vertrauen darf und—« Sie sprach nicht weiter, sondern starrte aus dem Fenster, als versuchte die Verbindungen in ihrem Kopf zu suchen, die nicht existierten und niemals existieren würden.
Zögernd erhob sie sich und stellte sich neben ihre beste Freundin. Die gesammelten Tränen in ihren Augen entkamen ihnen endlich, als sie die violette Haut unter Aletheas Augen erkannte. »Wann hast du das letzte Mal geschlafen?«, fragte Delilah zögernd und ihre Freundin drehte sich nun vollkommen zu ihr, schien gerade erst zu realisieren, dass sie ebenfalls in dem Raum stand.
»Gestern.« Lüge.
»Al', du warst erst nach Mitternacht in deinem Zimmer und schon um vier wieder in der Bibliothek und ich weiß genau, dass du nicht geschlafen hast. Genau diesen Tagesablauf hast du seit über einem Monat...« So zart wie möglich versuchte Delilah zu klingen, doch stockte sie an ihren eigenen Worten.
Sie erstickte an ihnen. Sie erstickte an der Hilflosigkeit. Sie erstickte, weil sie ihrer Seelenverwandten nicht helfen konnte, während diese litt.
Noch tiefer wurde der Dolch gestoßen, als Aletheas Blick sich zu etwas eisigem wandelte und eine ähnliche Reaktion über ihr Gesicht huschte, als würde sie in Delilah nur noch einen Feind erkennen. »Sobald ich es gelöst habe. Nach den Prüfungen wird alles einfacher. Alles ist gut.« Sie versuchte nicht einmal, sich zu einem Lächeln zu zwingen.
Alethea war ihre gesamte Kindheit einsam gewesen, hatte niemals die Freiheiten eines gewöhnlichen Kindes; hatte niemals die Möglichkeit gehabt, Freundschaften zu schließen. Von ihrem Vater zurückgelassen und von ihrer Mutter verachtet, trat sie alleine in deine Akademie, die ihre Familie immer besser kennen würde, als sie selbst.
Delilah hatte das traurige Mädchen gesehen und hatte sie geliebt, noch bevor sie ein Wort gewechselt hatten; hatte eine Verbindung gespürt, die sie lächeln ließ. Aber Einsamkeit verließ einen Menschen nicht, nur weil er geliebt wurde, sondern wie ein kleines Monster hauste es sich in die Seele und blieb dort.
Einsamkeit blieb und wartete und verzerrte.
Ihre Hände würden bluten und ihre Muskeln erschlaffen, bevor Delilah zulassen würde, dass etwas ihr Alethea nahm. Sie würde kämpfen und lieben und bleiben. (Sie fürchtete sich davor, Alethea zu verlieren. War dies selbstsüchtig? Delilah glaubte, Liebe war etwas Selbstsüchtiges.)
Trauer verschleierte Delilahs Sicht und als würde sie ebenfalls die Schmerzen in Aletheas Seele fühlen, litt sie mit ihr. »Schau mich nicht an als wäre ich verrückt. Ich kann es nicht ausstehen. Dass mich jeder anschaut als wäre ich verrückt«, zischte das Mädchen mit den dunklen Locken, ihre Augen genau die einer Wahnsinnigen.
Ein Haus aus Karten gebaut war dazu verdammt umzufallen; würde niemals die Stabilität besitzen für ewig auszuhalten und sie alle waren dazu verdammt Aletheas Kartenhaus beim Schwangen und Zittern zuzuschauen, im Wissen, dass es es niemals schaffen würde.
»Wieso glaubt mir niemand? Delilah, etwas stimmt hier nicht. Etwas stimmt nicht mit mir...«, flüsterte Alethea mit einem solchen Hass, als würden ihre Worte nur noch aus Gift bestehen, und ihr Körper begann unter der Last ihres gesamten Lebens zu zittern. Die Magie ließ von ihr ab und zurückblieb etwas Untotes, eine wandelnde Leiche mit Fleisch aus Trauer und Müdigkeit.
»Ich kann nicht denken... Etwas ist falsch mit mir«, gestand Alethea endlich mit bebender Unterlippe und ihre Knie gaben leicht nach; endlich von allem eingeholt. Das Kartenhaus zerfiel, so lange stand es aufricht und kämpfte. Aber nichts konnte das Unvermeidliche aufhalten.
»Oh Alethea...«, flüsterte Delilah tränenüberströmt und nahm ihre Freundin in die Arme, bevor sie, sicher in den Armen der jeweils anderen, zu Boden sanken. Leise schluchzend klammerte sich Alethea an ihre Freundin, als sei sie ein Stück Treibholz auf hoher See. Und als wäre sie das letzte Wertvolle in ihrem Leben, hielt Delilah sie.
Oh, wie traurig musste sie nur sein? Der Verstand des Desmond Erbin, so berüchtigt und von der Welt selbstverständlich, schien zu zerbrechen und was würde zurückbleiben? Scherben, die Alethea betrauern konnte? So wohl hatte sie sich immer in ihrem eigenen Kopf gefühlt und würde ihr Verstand nun schwinden (von diesem grausamen Wahnsinn geraubt) würde Alethea eingehen, wie eine Blume ohne Wasser oder Licht.
»Ich kann nicht denken. Es ist zu viel. I—Ich muss aber. Etwas passiert hier und ich muss es aufhalten. Niemand sieht es... Wieso sehe ich es dann?« Delilah drückte Alethea enger an sich, genauso hilflos, wie ihre Freundin und ohne Alethea oder das Chaos loszulassen, welches in ihrem Kopf sein Unwesen trieb, hielt Delilah sie fest bei sich bis ihr Atem sich beruhigte.
Die vergangenen Monate waren für niemanden leicht und sie alle würden zerbrechen, würden sie nicht ignorieren was geschah, doch konnte Alethea dies nicht; konnte noch nie ihre Augen verschließen, da sie verstehen wollte. So dumm und blind war Delilah gewesen.
Delilah hatte nicht bemerkt, was in Aletheas Verstand vor sich ging. Wie sie wütender wurde, wie sie zerstreuter wurde. Hatte nicht bemerkt, wie wenig von ihrer Freundin noch vorhanden war. Vielleicht hatte sie auch nicht darüber nachdenken wollen...
Was für eine scheußliche Freundin war sie nur?
Es vergingen viele Minuten (doch wie viele wusste sie am Ende nicht mehr) und erst als Delilah wirklich spürte wie Alethea, geschwächt von dem wochenlangen Schlafentzug, endlich einschlief und in ihrem Armen zusammensacken, legte sie diese vorsichtig mit Hilfe eines Zaubers in ihr Bett.
Es vergingen noch mehr Minuten, in denen sie einfach nur neben ihrer Schwester saß und wartete. Vielleicht wartete sie darauf, die Albträume zu lichten, die Alethea plagen könnten, wie ihre Mutter es immer bei Delilah gemacht hat und Delilah stets bei Alethea.
Sie wischte sich die Tränen von ihren Wangen und erhob sich, durchsuchte die Schubladen der dunklen Kommode, bis sie die Phiolen fand, deren Farbe sich verändert hatte. Vielleicht war Delilah nie die Schlauste gewesen, doch verstand sie ihre Schwester. Was hat sie nur getan...?
Delilah war wahrlich eine Närrin, geblendet von der Liebe zu ihrer Freundin. Sie hatte nur versucht zu helfen, aber möglicherweise war sie diejenige, die es so weit hatte kommen lassen. Gedankenlos hatte sie Alethea die Zaubertränke gegeben, die ihr beim Einschlafen helfen sollten, und nicht daran gedacht, wie leicht es war, aus diesen Tränken einen anderen zu kreieren, der den Schlaf nutzlos machte. Oh, was hat sie getan?
Ein Blick auf Érebos, der sich ebenfalls so erschöpft neben Alethea zu einem Ball zusammengerollt hatte, und Delilah mit seinen goldenen Augen anstarrte, als wäre auch ihm erst jetzt aufgefallen, wie schwerwiegend die Situation war. Er nickte ihr zu, als würde er ihre Gedanken verstehen.
Sie hatte keine andere Wahl. Sie musste es tun, damit es Alethea besser gehen würde. Sie musste ihre Freundin hintergehen, um sie zu retten. Delilah würde ihre Treue immer brechen, wenn es bedeutete, Alethea damit zu retten. (Egoistische Liebe und doch die reinste.)
»Sorg dafür, dass sie schlafen bleibt. Du bist genauso schuldig wie ich«, flüsterte sie dem Kater, der kaum eine gewöhnliche Katze war, mit brennenden Augen zu und huschte aus dem Zimmer wie ein Schatten. Ihr Herz schlug laut in ihren Ohren. Oh, was hat sie getan? Die Schuld fraß sie auf.
Delilah schloss ihre Augen, wollte nicht dem Blick von etwas nicht begegnen, das sie nie wieder los lassen wollte, während sie nach der Sperrstunde durch die Akademie wandelte; totale Ignoranz den Nachtwächtern zeigte, die mit schweren Ketten und Schwefel an ihr vorbei schlurften. Jeder ihrer Schritt geführt von dem Zauber, den sie lautlos sprach.
Das Labyrinth der Hogwarts Korridore hatte keinen Einfluss auf sie und mit der Leichtigkeit eines sorglosen Kindes konnte sie sich in ihm zurechtfinden, als würde es sich nicht verändern, um jeden so zu verwirrend, wie es selbst verwirrt war.
Sie öffnete ihre Augen erst, als sie vor der Ebenholztür stand, vor welcher sie noch nie gestanden hatte. Der Korridor hinter ihr lag so schwer auf ihren Schultern und Delilah schluckte. Ihre Hand schwebte für wenige Sekunden in der Luft, bevor sie gegen das Holz schlug und weitere wenige Sekunden später wurde die Tür geöffnet, von dem Mann, den die gesamte Akademie kannte und verehrte.
Delilah wusste nie genau, was sie fühlen sollte. Sie sprach mit den Mädchen über ihn, über seine Intelligenz und seine Brillanz, wenn sie doch alle nur an seiner Schönheit interessiert waren, und gleichzeitig lauschte sie Aletheas Warnungen; wie sie schwur, er war etwas Böses.
In ihren Augen gab es nichts Böses, doch wer war sie schon, um dies zu entscheiden? Vielleicht waren alle Menschen im Herzen böse.
»Was suchen Sie hier, Miss Haworth?«, fragte Professor Riddle mit dem kritischen Blick, den er ihr immer zuwarf, und sie schluckte. Es wirkte nicht, als hätte er geschlafen oder als hätte er vor zu schlafen; war noch immer in Hemd und Hose gekleidet, während seine Haare einen etwas chaotischen Anblick darboten. Seine Augen gleichen nicht mehr einem gebildeten Mann, jedoch war die Müdigkeit wohl ein Begleiter der Brillanten. »Es ist weit nach Sperrstunde, also nehme ich an, Sie wollen sich Ihre Verwarnung direkt bei mir—«
»Ich brauch Ihre Hilfe«, unterbrach sie ihn nur und der Professor, der offensichtlich keinen Besuch um diese Zeit begrüßte, verzog keine Miene. Noch immer blickte er sie mit einer Strenge an, die sie vielleicht mit Humor kommentiert hätte, würde sie nicht noch immer um ihre Freundin weinen.
»Ist jemand gestorben?«, fragte er mit aller Ruhe der Welt, und als Delilah den Kopf schüttelte, fügte er hinzu: »Dann kommen Sie morgen wieder. Falls Sie diese Nacht überleben«, und wollte die Tür gerade wieder schließen, hätte Delilah ihn nicht aufgehalten.
»Bitte.« Es war ein verzweifeltes und beinahe jämmerliches Flehen und Professor Riddle schien dies ebenfalls zu bemerken, stoppte in seiner Bewegung. »Bitte, es geht um Alethea.« Das Zucken seiner Züge war nicht zu übersehen. Endlich.
Hoffnung erweckte in ihr, nur um wenige Sekunden später von einer Finsternis verschluckt zu werden. »Gehen Sie«, verlangte der Professor und wollte die Tür erneut schließen, aber Delilah schaffte es in den wenigen Sekunden seines Zögerns, sich an ihm vorbei in das Büro zu drängen.
Ermüdet von ihrem kühnen Verhalten, atmete er leise aus. »Ich befürchte, dass Sie mich missverstanden haben. ›Gehen Sie‹ bedeutet nicht: ›Kommen Sie doch bitte herein.‹«, erinnerte er sie, als wäre sie ein dummes kleines Kind und ihr fiel auf, dass er diesen Ton gut beherrschte. Es war das Herabblicken, was so natürlich zu kommen schien. Dieses Gefühl, dass man zu ihm aufblicken musste.
Das Büro umhüllte ihre kalte Figur und sie fühlte sich wie eine Maus gefangen in einem Raum mit einer Katze, fühlte, wie ihre Arme sich um ihre eigene Gestalt legten, in der Hoffnung, ihr etwas Trost zu spenden. »Ich brauche etwas zur Beruhigung der Nerven«, verkündete sie und kümmerte sich nicht darum, wie dämlich sie war.
Kümmerte sich nicht um das Gefühl der Angst.
Die Kerzen auf seinem Gesicht flackerten, während er seine Augenbrauen aufgrund der Art und Weise, wie sie Dinge von ihm forderte, die ihr nicht zustanden, hob. »Verzeihung? Bitten Sie mich gerade um Betäubungsmitteln?«
»Bitte, Sie sind meine einzige Möglichkeit.«
»Verschwinden Sie aus meinem Büro. Morgen wird Sie ein Brief des Direktors begrüßen.« Ein kalter Ausdruck war in sein Gesicht geschrieben und er deutete erneut auf die Tür, seine Haltung nun etwas angespannt.
Unter anderen Umständen wäre Delilah nun geflüchtet. Sie war vielleicht mutig, jedoch wusste sie, wann ein Kampf verloren war und wann es Zeit war zu flüchten. Konnte die Emotionen von anderen Menschen verstehen und sah, dass der Professor einer Giftschlange glich.
Aber es war für Alethea und für sie, würde Delilah die Warnungen ignorieren. Für sie würde sie das mulmige Gefühl vergessen.
»Es ist für sie«, flüsterte sie in die Finsternis des Büros und würde sich keinen Zentimeter bewegen, dachte nicht einmal daran, dies zu tun. Sie traf erneut gegen eine Eiswand und der Professor verlangte erneut, dass Delilah verschwand; der Ton nun etwas herrischer.
»Ich weiß von Ihrem geheimen Unterricht; ich weiß, dass Sie ihr Dinge beibringen, die Sie ihr nicht beibringen sollten. Sie braucht Hilfe«, erklärte Delilah verzweifelt und ihre Kehle wurde enger, als etwas Dunkles über die wunderschönen Züge des Professors huschte.
»Sie sind ihre Freundin. Sprechen Sie mit ihr.«
Delilah lachte leise, die Tränen stiegen wieder in ihre Augen und es war keine Empathie in seinen zu sehen. »Kennen Sie Alethea überhaupt? Sie ist zu stur und zu tief gefangen in ihrem eigenen Kopf. Sie wird keine Hilfe annehmen. Es ist alles zu viel für sie, doch sie wird nicht aufhören. Das ist ihre Art und Weise der Selbstverletzung.«
Professor Riddle fasste sich an seine Stirn. »Wieso glauben Sie, dass mich all das interessiert? Wenn Miss Desmond Probleme hat, sollte sie in den Krankenflügel gehen und wenn sie keine Hilfe will, dann zwingen Sie ihr keine auf.«
Magie wickelte sich um ihren Arm und Delilah wurde zu der Tür gezerrt, grob und ohne Rücksicht, doch bevor sich die Tür öffnete, drehte sie sich zu ihm um. »Alethea ist Ihnen wichtig! Wichtiger als sie Ihnen hätte sein sollen. Wichtiger als nur die Tochter Ihres alten Professors. Viel wichtiger. Vielleicht kann Alethea nichts verraten, doch ich kann und ich werde der gesamten Welt alles erzählen.«
Der Griff der Magie ließ los und schweigend blickte Riddle ihr entgegen, sein Blick so kalt und unberührt. Endlich verstand Delilah, was es hieß, vor einem Menschen Angst zu haben. Was es bedeutete, nicht nur vor der Idee eines Lebewesens Angst zu haben, sondern auch der Angst gegenüber zu stehen.
»Es ist nicht schlau mir zu drohen.«
Endlich verstand Delilah, wie es sich anfühlte, wie das Herz sich beschleunigte und der Verstand von einem verlangte, zu flüchten. Schweig rannte ihr über den Rücken und die kleinen Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf; ihr Sichtfeld verdunkelte sich und sah nur noch die Bedrohung vor sich. Delilah glaubte nun an das Böse. Das wahre Böse.
Und doch sprach sie weiter.
»Uns liegt beiden etwas an Alethea. Helfen Sie ihr. Sie wird es alleine nicht überleben.«
Wenige Sekunden bewegte sich niemand von ihnen, während das Schweigen zwischen ihnen zu Messern wurde. Delilah zuckte zusammen, als er sich in Bewegung setzte und zu der gläsernen Vitrine ging, die zwischen den zwei großen Fenstern stand.
Jeder ihrer Atemzüge laut in ihren Ohren nachhallend, beobachtete sie, wie er eine Schatulle aus jener Vitrine nahm und diese auf deinen großen Schreibtisch abstellte. Seine Bewegungen waren so sanft und elegant wie die eines Schwanes und doch bemerkte Delilah das Zögern. Bemerkte, die leisen Gedanken. Er holte eine Phiole mit grünem Inhalt heraus und hielt sie zwischen seinen Fingern.
»Es ist ein Nervengift, tödlicher als selbst Zyankali, Belladonna oder Eisenhut zusammen. Es dient zur Beruhigung und wird meist bei Traumapatienten genutzt.« Er reichte es Delilah, die mit starren Schritten näher gekommen war und ihm nun in die pechschwarzen Augen blickte. Ihren eigenen Tod in ihnen erkannte. »Zwei Tropfen aller zwei-drei Tage sollten reichen, dies ist jedoch keine Dauerlösung sondern nur ein Symptomlinderer.«
»Ich weiß.« Sie würde einen anderen Weg finden, sie würde nicht aufhören einen zu suchen. Sie würde dafür sorgen, dass es Alethea gut ging. Ihre Finger schlossen sich um das Gift, als wäre es eine Kerze und sie starrte auf ihre Hände.
»Jetzt verschwinden Sie.«
Delilah nickte langsam, doch bevor sie die Tür öffnete, sagte er noch etwas. »Oh, und falls Sie Alethea damit umbringen, würde ich Ihnen raten, den Rest des Giftes zu schlucken, bevor es jemand herausfindet.« Bevor er es herausfindet.
»Sagen Sie ihr nichts«, verlangte sie mit rauer Stimme, die Tür bereits sicher in ihrem Rücken. In diesem Moment fühlte sich die Akademie mit all dem Schrecken sicherer als das Büro mit ihm.
»Sie wollen hinter ihrem Rücken agieren? Manche würden dies als Betrug ansehen.«
»Alethea würde nicht zulassen, dass ich ihr helfe, sondern nur weiter in das Loch fallen wollen.«
AUTHORS NOTE. Niemand wird Alethea mehr lieben, als Delilah sie liebt, und Alethea wird nie jemanden mehr lieben, als sie Delilah liebt.
⠀ ⠀ ⠀ Tom und Alethea wären perfekt füreinander und ich glaube, sie wissen es beide. Sie sehen eine Zukunft oder zumindest etwas in den Augen des anderen, aber sie wissen beide, dass sie diese nie erreichen werden.
⠀ ⠀ ⠀ Sie trauen einander nicht. Sie sprechen nie die Wahrheit aus, aus Angst, es könnte eine Falle sein. Und wie kann eine Bindung entstehen, wenn das Band des Vertrauens zerschnitten wird, sobald es entsteht?
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