Deutschland: Die Spaltung
Eine Erzählung aus der Moderne
„Scheiß Politiker!", sagte der bärtige, dickbäuchige Mann, als er im braunen Ledersessel saß und die der Fernbedienung nehmen wollte, die unweit seiner Sitzmöglichkeit auf einem Tisch gelegen hatte. Während er versuchte, in jämmerlicher Art und Weise an sie heranzukommen, versagte, stand er Schluss endlich auf, verärgert über den Platz, wo man die Fernbedienung hingelegt hatte, denn mit Sicherheit war es seine Frau gewesen, sah sie böse an „Muss ja witzig sein" und zeigte ihr verachtend seinen Mittelfinger. Im Hintergrund schmückten persische Fliesen einen arabischen Kamin, für deren Kultur sich der Mann schon immer interessierte. So dann nahm er das schwarze Plastikteil, tippte wie wild auf die Tasten und schaltete auf ein anderes Programm um, ehe er sich wieder in seinen braunen Sessel begab. Das Bild des dicken Mannes im Sessel war keine neue Erscheinung gewesen, schon lange hatte er sich dort niedergelassen, neben dem Kissen mit dem Reichsadler, der orangenen Tapete und den Bildern aus dem schönen Santorin. Dennoch hatte sich dieses Bild zu jener Zeit manifestiert, als eine schlimme Seuche über die Lande zog und die Menschen von ebenjener Regierung, die der Mann vor dem Fernseher so wüst beschimpfte, aufgefordert wurden, in allen öffentlichen Gebäuden, also dort, wo Menschen dicht an dicht zusammenkamen, einen Schutz zu tragen, der ihre Münder bedecke. Der Mann akzeptierte das nicht und sprach fortan von einer Diktatur. Er selbst wusste schließlich, wie es war, hatte er ja selbst 21 Jahre in einem unterdrückenden System gewohnt, bis eine friedliche Revolution alles veränderte. Der Vater und seine Frau waren Arbeiter gewesen, die von den Maßnahmen am stärksten betroffen waren. Seit die Seuche über das Land herzog, der Mann immer öfter an ihr zweifelte, weil so wenig in seinem Umfeld erkrankten, war er immer häufiger zu Hause geblieben und die Zeit damit verbracht, um sich darüber zu belesen, wie die Welt wirklich gewesen war. Er war sehr stolz darauf, eines Tages sagen zu können, dass er die Fähigkeit besessen hatte, alles durchschaut zu haben und darüber wissen würde, wie die Welt wirklich sei. Dass die Seuche nur eine Erfindung war, der Staat, in dem er lebte, eine GmbH, dass er ein Arier war und in der Politik viel zu viel geredet wurde. Der Mann war stolz darauf gewesen, alles gewusst zu haben, was für die normalsterblichen, für die Schlafschafe, für die Dummen nicht erkennbar gewesen war. Während alle anderen zu blöd waren, zu verstehen, was wirklich passierte, hängte er stolz ein Bild von Kaiser Wilhelm II. in seinem Wohnzimmer auf. Niemand würde ihm mehr erzählen können, was wahr oder falsch gewesen war. Er hatte das Glück gehabt, sich mit anderen Leuten auf Plattformen austauschen zu können, die ebenfalls seiner Ansicht gewesen waren und ihre Informationen, ebenso wie der Mann es tat, von Leuten bekamen, die das System ebenfalls, im großen Maße, kritisierten. Während der Mann so herausfand, dass die Welt eine Scheibe gewesen war, in dessen Zentrum Reptiloiden Kinder fraßen, um jung zu bleiben und die Familie Rothschild alle beeinflusste und die Welt beherrschte, brannte auf einer kleinen griechischen Insel ein Lager für 3.000 Personen ab, in dem 12.000 Menschen Schutz gesucht hatten.
„Es bringt nichts, alle 12.000 Menschen aufzunehmen. Wir brauchen eine europäische Gesamtlösung!", hatte der Innenminister vor dem Parlament gesagt. Wenige Wochen vor dem Brand, hatten verschiedene Oppositionsparteien einen Antrag eingereicht, der beinhaltete, die Menschen der Insel aufzunehmen. Nun, da ihre Zeltbehausungen dem Feuer zum Opfer fielen und sie auch die letzten Sachen, die ihnen übriggeblieben waren, verkohlt unter ausgedürrten Bäumen lagen, standen sie ohne fließend Wasser an der Grenze zur Europäischen Union. „Wir werden diese Leute nicht aufnehmen!", hatten mehrere Politiker und Politikerinnen ausdrücklich klargemacht, als eine Reportage veröffentlicht wurde, die über die dortigen Zustände informierte. „Gutmenschen", schimpfte der Mann, als er die Bilder des Lagers gesehen hatte, deren Bewohner die Regierung als Insassen betitelten. Während er ein Pamphlet in eine Gruppe schickte, mit der er sich seit Tagen über die Geschehnisse ausgetauscht hatte, schimpfte er über die Tauben, die auf seinem Dach gurrten. „Die scheißen uns alles zu. Wir müssen die wegmachen", sagte er zu seiner Frau, die in der Küche war. Immer, wenn er was wollte, rief er den- oder diejenige laut zu sich, um ihm oder ihr sein Anliegen zu übermitteln. „Wir müssen endlich etwas tun", schrieb er in den Text, den er absendete. „Es kann nicht wahr sein, dass diese Politiker unser Geld nehmen und sich ein schönes Leben machen, den Flüchtlingen alles in den Arsch schieben und unsere Rentner Flaschen sammeln müssen. Wir müssen endlich ein Zeichen setzen." Kurz darauf wurde die Treppe des Parlamentes gestürmt. Diejenige, dem dieser Angriff gegolten hatte, war die Kanzlerin gewesen, die erste in der Geschichte des Landes, die ebenso jung wie redlich war. Seit fünf Jahren, sie war inzwischen in der zweiten Amtszeit gewesen, hatte man sie für die Vorfälle in der Republik verantwortlich gemacht. Auf den Treppen skandierte man, wie es zuvor schon gewesen war: Weg mit ihr! Erhängt sie und ihre Sippe! Neu dazugekommen war: Ende mit der Diktatur! Die Kanzlerin war einiges gewöhnt gewesen, sie hatte die letzten Worte einer Dynastie mitbekommen und musste nun irgendwie alles dafür tun, dass das Land nicht aus den Fugen geriet. Sie verfolgte knallharte Ideale und war dafür geliebt wie gehasst.
Erneut zog ein Raunen durch das Land. Die Bilder derjenigen, die mit Reichskriegsflagge die Treppe des Parlamentes bestiegen und sie dort vor dem gläsernen Eingang hin und her schwenkten, fluteten die Medien. „Ein Skandal", sagte dann der Sohn des Mannes, der über die Vorgänge schockiert, aber nicht mehr überrascht gewesen war. „Und nun werden drei Polizisten dafür geehrt, dass sie die Aufgabe, ihren Beruf, das Parlament zu schützen, wobei sie jämmerlich versagten, wenigstens wahrgenommen haben", kommentierte er die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an die drei Helden der Nation, die wenigstens versucht hatten, den Pöbel aufzuhalten. Er engagierte sich in linken Kreisen und versuchte, sein Land für alle gerechter zu gestalten. „Es kann nicht sein, dass Kapitalisten und Kapitalistinnen, Manager und Managerinnen, Aufsichtsräte und Aufsichtsrätinnen und Fußballspieler derart viel Geld bekommen, mehr als sie benötigen, und nichts davon abgeben müssen. Es kann nicht wahr sein, dass deshalb Menschen in Armut leben müssen, obwohl sie jahrelang gearbeitet haben. Es ist ein Unding, dass Chancengleichheit immer noch an den finanziellen Mitteln hängt. Niemand verdient so ein leben, dieses System ist nicht fair", hatte er in einer brennenden Rede, deren Feuer großer war als jedes andere, auf einem Parteitag vor einer großen Masse gesagt und dafür viel Applaus bekommen. Der Sohn, der zu den gewaltbereiten Linksextremisten des Landes gehörte, so stufte sie zumindest der Verfassungsschutz ein, beteiligte sich seit Jahren an antifaschistischen Kundgebungen und Aktionen, wie in etwa der friedlichen Blockade von Informationsveranstaltungen einer neuen Partei, die zwischen „wir" und „ihr" unterschied. Eines Tages, er war in Eile gewesen, ging er an einer solchen spontanen Blockade vorbei, setzte sich in seinen Bus und betrachtete, wie die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger, die in diesem Moment auf der Straße waren und das Geschehen verfolgten, nichts taten und schwiegen, während die gewaltbereiten Linksextremisten Banner mit Zitaten der Partei hochhielten, die davon sprachen, Homosexuelle ins Gefängnis zu stecken und nicht mehr bei Türken einkaufen zu gehen. Dann fuhr der Bus ab und der Sohn war traurig darüber gewesen, sich nicht neben sie gestellt zu haben. Wenn er nichts tat, dachte er, würde niemand etwas tun. Dann würden alle wieder zusehen und sich wundern, wie Menschen in Lager gesteckt werden können und dort elendig verenden würden. Am Ende hätten sie, wieder einmal, von nichts gewusst.
Als es Weihnachten war, und die Familie feierte gerne schwedische Weihnachten, saßen sie sich bei Schneegestöber gegenüber, die eine, wie die andere Seite, während kalte Temperaturen sie umgaben. Während die Familie argentinisches Fleisch für zwanzig Euro verspeiste, war es wieder einmal soweit, dass es den Vater verärgerte, in welchem Luxus sie lebten. „Es kann ja eigentlich", sagte er während er einen weiteren Happen in seinen gierigen Mund legte, „nicht sein, dass man so billig essen geht." Während er sprach, vielen viele kleine Essensbrocken aus seinem Mund auf die Tischdecke, die der Sohn verfolgte. „Aber das ist ja alles die Schuld der Regierung", sagte er dann wieder, als er einen weiteren Bissen nahm, obwohl er nicht einmal aufgegessen hatte. Im Hintergrund stand ein grüner Baum mit schwarzen Schwan, den der Sohn an eine andere Erzählung erinnerte. „Hoffentlich bekommt die Partei bei den nächsten Wahlen die absolute Mehrheit", sagte er und blickte jedem tief in die Augen, um seine Übermacht zu symbolisieren. Die Kälte seiner eisblauen Augen nahm das komplette Zimmer ein. Seine Mutter, mit der nur noch an Weihnachten, aus Liebe zu seinem Sohn, sprach, hatte den Krieg noch miterlebt. „Wir müssen endlich mal hart durchgreifen, so geht das nicht weiter", sagte er und lehnte sich zurück, fasste sich über seine Bart und verschränkte die Hände über seinem aufgeblähten Bauch. „Die Bimbos aus Afrika machen sich hier breit und der kleine Arbeiter hat nicht mal mehr genug, um ein ordentliches Dach über den Kopf zu haben. Sack auf, die Politiker rein, und fest zuschlagen. Triffst immer den richtigen. Müsste man alle in Lager stecken. Eines Tages wird das Volk schon wach werden und sehen, was gut für sie ist. Dass diese scheiß Asylanten hier nicht hingehören und wir sie zurück nach Afrika schicken, wo sie ihr Land selbst aufbauen können. Die kommen hierher, haben letztens schon wieder eine Frau vergewaltigt und wollen uns mit ihrer Scharia den Mund verbieten. Diese arabischen Hinterwäldler haben hier nichts zu suchen", sagte er und sah dabei tief in die Augen seines Sohnes, als wäre er derjenige gewesen, der das alles zu verantworten hatte. „Wir Weiße sind halt einfach die überlegenere Rasse."
Kurz bevor der Sohn wieder abfuhr, besuchte er die Mutter in der Küche, sie umarmten sich und die Mutter fragte ihr Kind, das Medizin studierte, um Rat bei einer Krankheit, die sie sich eingefangen hatte. Da nannte er ihr eine Methode und fügte hinzu: „Ist doch erstaunlich - was wir heute wissen, haben schon die Perser erstmalig herausgefunden. Faszinierend, nicht?" Dann ging er mit seinem Koffer aus der Tür, fuhr zum zentralen Platz der Stadt und demonstrierte zusammen mit Freunden und Freundinnen gegen den Waffenverkauf der Regierung an jene Staaten, die den Krieg in Syrien zu verantworten hatten. „Kapitalisten machen für Geld wirklich alles", sagte er dann. Während sie vorbeilaufende Passanten, die mit den gewaltbereiten Linksextremisten nichts zu tun haben wollten, in Gespräche verwickelt wurden und sie ebenfalls bestürzt darauf reagierten, dass ihre Regierung andere Länder ausbeutet, deren Wälder rodet, Öl und Edelmetalle zu Billigpreisen einfahren lässt und Kinder in Kleidungsfabriken arbeiten ließ, flogen und liefen einige Tauben vorbei. „Wusstest du", sagte der Sohn dann, „dass Tauben eigentlich an den Küsten, in Felsspalten leben? Sie sind erst in die Stadt gekommen, als wir sie und ihre Heimat für unsere Zwecke missbraucht haben." Die anderen verfolgten die Vögel. Schließlich kam die Polizei, es waren hunderte gewesen, die fünfzig Protestierenden gegenüberstanden, und schossen mit Wasserfahrzeugen und Tränengas auf die Menge, die sich vor ihnen aufgestellt hatte. Der Sohn rannte dann weg und nahm die nächste Bahn nach Hause. „Wie kann man als Politikerin nur so sein", dachte er sich dann, als er in der Bahn saß und eine Zeitung las. Erneut wurden Bilder gezeigt, die über die Katastrophe auf der griechischen Insel berichteten. „Wie kann man nur so herzlos sein", sagte er dann und klappte sie zu. Auf der anderen Seite beschwerte sich ein Journalist, dass der Verfassungsschutzpräsident, der jahrelang rechtsextreme Strukturen verdeckt hatte, entlassen wurde. „Meinungsfreiheit!", forderte er.
Es waren ein paar Monate vergangen, da kam die Familie mit ihren Verwandten zu einer Hochzeit zusammen. Zwischen der versammelten Gemeinde verlief ein breiter Gang, durch den das Hochzeitpsärchen lief und die Menge spaltete. Links saßen die einen, rechts saßen die anderen. Schöne Menschen mit schönen Hüten, Kleidern und Anzügen saßen vorne, während die anderen etwas weiter hinten saßen. Der Vater saß rechts, der Sohn saß links. Der Sohn hatte sich bewusst nicht zu seinem Vater gesetzt, da er seine Nähe als unausstehlich empfand. Vor der großen Menge küssten sich dann der Mann und die Frau, es wurde gejubelt, geklatscht, Glückwünsche preisgegeben. Das Brautpärchen zog dann wieder aus und jede Reihe, beginnend bei der ersten, stand auf und folgte ihnen. Vater und Sohn, die auf der selben Reihe gesessen hatten, folgten, als sich ihre Mitmenschen erhoben. „Wann ist es denn endlich bei dir soweit?", fragte der Vater der mit seiner Frage keine Antwort verlangte, sondern nur einen Vorwurf loswerden wollte. „Irgendwann sicher", sagte der Sohn und durchstieß die Reihenfolge, indem er sich nach hinten fallen ließ und andere Gespräche startete.
Auf der Hochzeitsfeier tätschelte der Vater dann häufig den Kopf des Sohnes und unterhielt sich mit anderen Familienmitgliedern. Dann lobten sie sich gemeinsam und waren froh darüber gewesen, zur aufgeklärten Rasse zu gehören. „Die sind halt nicht wie wir", sagte der Vater dann. „Die hatten eben noch keine Aufklärung und intellektuelle Denker. Die hausen in ihrem Baumhütten im Amazonas und denken, die hätten jetzt ein Recht, hier auf unsere Kosten zu leben." Da fiel sein Blick, wieder einmal, auf seinen Sohn, der sich ebenfalls, wie er es tat, angeregt unterhielt. „Wann ist es denn nun soweit", fragte er.
„Was meinst du?"
„Na mit deiner Hochzeit? Wann hast du mal eine Freundin."
„Wenn's passt", antwortete er.
„Wie, wenn's passt.", seine Stimme erhebt sich, „Antworte doch. Oder bist du etwa so eine dreckige Schwuchtel?", da verdrehte der Sohn seinen Kopf und schluckte. Der Kopf des Vaters wurde rot und er ballte seine Fäuste. „Du lässt dich von Männern in den Arsch ficken? Gefällt dir das?", da klatschte er ihm eine voller Wut und Enttäuschung.
Gefasst, aber mit den Tränen in den Augen antwortete sein Sohn, der ihm felsenfest wie ein alter Baum vor ihm stand: „Dafür zeige ich dich jetzt an. Es ist Zeit, dass du für deine Taten bestraft wird. Und das alles werden meine Zeugen sein."
Die Musik verstummte und die Gäste der Feier kamen auf die beiden zu. Da schlug der Vater dem Sohn noch einmal ins Gesicht. „Du bist nicht mehr mein Sohn", sagte er. „Du bist eine Schande". „Wie soll ich auch dein Sohn gewesen sein, wenn du niemals ein Vater warst?", sagte er und ging, während die Masse das Spektakel verfolgte.
„Von uns wirst du kein Geld mehr sehen", schrie er ihm noch hinterher. Da drehte sein Sohn um: „Ich bin dir nichts schuldig. Weder Geld, noch Verständnis oder Erklärung. Du bist ein so widerwärtiger Mensch".
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