Kapitel 14
Die Straßen der kleinen Stadt waren um diese Uhrzeit wie leer gefegt. Niemand war weit und breit zu sehen und es herrschte absolute Stille. So war es schon immer hier gewesen in Hawkinsville. Jerry wurde hier geboren und kannte die Straßen nur zu gut. Er hatte keine Angst mehr vor den nicht beleuchteten Gassen, dem gelegentlichen Jaulen eines Hundes und dem Rascheln der vielen Bäume. In jedem Haus an dem er vorbei fuhr brannte Licht und bei manchen konnte er auch die Bewohner durch die Fenster beim Abend essen sehen. Die Leute hier waren so nett, auch wenn sie erst argwöhnisch gegenüber Fremden sind. Jerry konnte sich schon immer auf alle verlassen.
Seit einigen Jahren ist er nun schon Hilfssheriff in dieser Stadt. Er wollte die Menschen, die er seit jeher kannte und so sehr mochte, beschützen. Aus diesem Grund wusste er schon immer, dass dies sein Traumberuf war. Normalerweise passierte in Hawkinsville außer einem kleinen Nachbarschaftsstreit und einer vermissten Katze nie etwas. Manchmal, wenn es sehr still und einsam in der alten Polizeiwache war, hatte sich Jerry gefragt, ob es nicht besser wäre seine Heimatstadt zu verlassen und mit seiner Frau wegzuziehen. Irgendwo hin wo es aufregender war. Er hatte hier seine Geliebte kennen gelernt und auch sie mochte diese Stadt sehr, doch er wollte ihr einfach mehr bieten und in Hawkinsville waren die Möglichkeiten für ihre Zukunft eher begrenzt.
Er fuhr die Auffahrt zu seinem Haus hinauf, verließ seinen Wagen und schloss die Tür auf. Sofort umhüllte ihn der Duft eines im Ofen schmorenden Bratens und er hörte das Summen seiner Frau. Jerry konnte nicht anders als zu schmunzeln. Er liebte sie wirklich sehr. Schnell strich er seine Schuhe ab, zog seine Jacke aus und legte seinen Autoschlüssel auf die kleine Komode im Flur. So leise wie er nur konnte ging er in die Küche und lehnte sich dort an den Türrahmen. Laura war so abgelenkt von der Musik und dem Kochen, dass sie ihn nicht bemerkte. Er trat von hinten an sie heran, schlang seine Arme um ihre Taille und flüsterte: "Das riecht aber gut." Erschrocken quickte sie kurz auf. "Man erschreck mich doch nicht so!" Lachend schlug sie mit dem Kochlöffel seine Hände weg und drehte sich dann für einen kurzen Kuss zu ihrem Mann um.
Liebevoll erwiderte er ihre Geste und fuhr ihr dabei über die Wange. "Du kannst dich schnell frisch machen gehen. Das Essen braucht noch etwas", meinte sie und wandte sich wieder den Töpfen zu. Jerry, der sehr hungrig und müde war ging schnell hinauf in ihr Schlafzimmer. Eine schnelle Dusche würde ihm jetzt sicher nach seinem langen Arbeitstag gut tun. Seit die beiden Leichen gefunden wurden, musste er täglich Überstunden machen. Er legte den Rest seiner Uniform ab und ging dann ins Badezimmer. Sein Lächeln von eben verflog sehr schnell, als er sein Spiegelbild sah. Unwillig trat er etwas näher, wie als würde er unter einem Bann stehen. Er wollte nicht in den Spiegel sehen. Eigentlich konnte er seinen eigenen Anblick gar nicht mehr ertragen und doch zwang ihn irgendwas hinzusehen. Er starrte direkt auf den Fleck, den er so verabscheute. Auf seiner Brust, direkt über seinem Herzen hatte sich seine Haut lila-blau verfärbt.
Am Anfang hatte er gedacht, dass er sich irgendwo gestoßen hatte. Vielleicht hatte er sich auch ein wenig verletzt, als sie die beiden Mädchenleichen im Wald gefunden hatten. Die Äste dort waren ziemlich dicht und hingen weit hinunter. Ihm wurde etwas schwindelig, als er daran zurück dachte und stützte sich deswegen auf dem Waschbeckenrand ab. Er war es, der die beiden gefunden hatte. Das lag nun schon etwas zurück, doch je mehr Zeit verging, desto mehr wurde ihm klar, dass er diesen Anblick nie mehr vergessen konnte. Das viele Blut und diese Grausamkeit war einfach zu heftig für ihn gewesen. Doch genauso wurde ihm auch immer mehr bewusst, dass dieser Bluterguss auf seiner Brust nicht normal war. Erst war er nur so groß wie eine Walnuss, doch schnell hatte er sich verformt und er wuchs stetig an.
Natürlich hatte er sich zunächst deshalb an seine Frau gewandt. Laura schwor aber, dass da nichts war. Keine Verfärbung- nicht einmal ein Kratzer. Und doch sah Jerry es deutlich im Spiegel. Dann hatte er seinen besten Freund, Aidan aufgesucht, doch auch er hatte ihm mit besorgter Miene gestanden, dass er überhaupt nichts sah. Dennoch nahm er seinen Kumpel ernst und gemeinsam waren sie beim Arzt. Dieser verschrieb ihm Beruhigungsmittel. Seiner Meinung nach bildete Jerry sich das ein, um seinen Schock wegen den Leichen zu verarbeiten. Aber die Medikamente halfen rein gar nichts. Er sah immer noch alles und er hörte noch alles, was alle anderen um ihn herum nicht wahrnahmen. Sie war immer noch da.
Jerry hielt seinen Anblick nicht mehr aus und schmiss kurzerhand ein Handtuch über den Spiegel. Lange Atemzüge und zwei Tabletten halfen ihm sich wieder zu beruhigen. "Alles gut...Das wird wieder. Du-Du drehst jetzt nicht durch, okay?", redete er sich gut zu. Der Duschvorhang raschelte. "Keine Sorge, Jerry. Du bist nicht verrückt." Die Frauenstimme kam von der Dusche direkt vor ihm. Zitternd hielt er sich den Kopf. "Nein! Aber ich hab doch-" Er sah panisch zum Spiegel, der immer noch verhangen war. Normalerweise sah er alles nur durch eine spiegelnde Oberfläche, weshalb diese Maßnahme bisher immer geholfen hatte. Wieso dieses Mal nicht?
Die Stimme lachte nun schrill. "Ich bin nicht da drinnen. Dort war ich noch nie", meinte sie amüsiert. Jerrys Blick ging schnell wieder zum Duschvorhang. "Da bin ich auch nicht." Die Stimme kam dieses Mal von hinten. Der Mann schnappte sich sein Deo vom Waschtisch. "Das ist nur dein Trauma. Da ist nicht wirklich jemand", rief er etwas lauter in den Raum. Seine Stimme war jedoch brüchig und von Angst erfüllt. Seinen Blick hielt er starr vor sich auf den Vorhang gerichtet. Das Deodorant hielt er wie eine Waffe vor sich. "Was hast du denn? Ich bin doch hier um dir zu helfen." Die Stimme kam wieder direkt aus der Dusche. Er meinte dahinter die Silhouette einer Frau zu sehen. "Hau ab!", schrie er verzweifelt und schmetterte die Flasche gegen den Duschvorhang. Dieser wehte dabei zur Seite und gab den Blick auf die Wand dahinter frei. Entsetzt sank Jerry auf die Knie. Auf den Fliesen an der Wand stand in rot geschrieben: 'Ich bin bei dir'.
Jap, er drehte nun vollkommen durch.
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