Kapitel 4.1 - Die Schwarmversammlung

gewidmet  twentyxone,

weil mich Deine ganzen lieben Kommentare immer wieder dazu ermutigen, mich doch noch mal vor den Laptop zu setzen.

_____________________________________________________

22.Tas Saru 2146 n.n.O.

Unruhig schwamm ich auf dem Herzplatz umher. Noch immer hatte ich ein Gefühl der Unwirklichkeit. Seit Achs und Uhna mich gestern Nachmittag von den Sängerschnellen eingesammelt hatten, schienen sich die Ereignisse zu überschlagen. Ich hatte ihnen alles erzählen müssen, später auch noch mal Varon und Varona. Die vier hatten diese Information durch den Schwarm getragen, damit alle eine grobe Vorstellung bekommen und sich so eine erste Meinung bilden konnten, bevor in der kommenden Schwarmversammlung über das weitere Vorgehen diskutiert wurde.

Die Kopfschmerzen, die ich seit diesen Gesprächen hatte, ließen mich auch jetzt nicht los. Bestimmt, weil ich sehr genau darauf geachtet hatte, dass meine Wand intakt blieb. Sie durften nichts von dem Hochzeitsangebot erfahren. Vielleicht war das eine Chance. Aber Trell ... Trell!

Nervös fuhr ich mir mit einer Hand über den Nacken. Ich erinnerte mich noch gut an seine dunklen Augen, die jeden meiner Schritte verfolgten. Ich erinnerte mich an seine seltsamen Fragen und Aussagen, wann immer wir allein waren. Und vor allem erinnerte ich mich an seine kräftige Hand in meinem Nacken, die mich ruhig hielt, während er mich gegen einen Baum drückte und mir einen Kuss auf die Lippen zwang. Mich schauderte es wieder. War meine Freiheit das wirklich wert?

Andererseits: Hatte Zac nicht das Gleiche getan?

Ich wusste es nicht.

Um mich herum füllte sich der Herzplatz bis alle mündigen Mitglieder des Schwarms um den Lore-Schrein versammelt waren. Unwillkürlich huschten meine Augen zu dessen mit Perlmutt ausgelegten Gravur: Vier wellenförmige Linien, die sich wie ein Gürtel um den sonst schmucklosen, eiförmigen Stein zogen. Lore. Der Gott des Wassers, des Frühjahrs, der Heilung. Ob er sich wirklich dafür interessierte, was so ein einzelner Mensch – oder Flussmensch – tat?

Innerlich zuckte ich zusammen, als mir selbst bewusst wurde, wie sehr meine Gedanken vom Thema abdrifteten, um mich von der verwirrenden Realität abzuschotten. Aber das durfte nicht passieren. Nicht jetzt, da ich an dieser Schwarmversammlung teilnehmen durfte. Eine absolute Ausnahme, wie mir mehr als einmal gesagt worden war. Weil ich noch einmal berichten sollte, was passiert war und was Hannah mir gesagt hatte.


Mittlerweile hatten alle begonnen, sich zu einem losen Kreis zusammenzufinden. Unruhig sah ich mich nach Varona und Suriki, ihrem beständigen Begleiter, um und entdeckte beide nicht weit von mir. Es war auch schwer, sie zu übersehen. Selbst in dem diffusen grün-blauen Licht, das hier unten immer herrschte, stach ihre helle, fast weiße Gestalt zwischen all den grau-blauen Flussmenschen wie eine Fackel in tiefster Nacht heraus. Während ich langsam auf sie zuschwamm, bewunderte ich ihre breit aufgefächerte rein weiße Schwanzflosse, die mich immer an ein ausladendes Ball- oder sogar Hochzeitskleid denken ließ. Ganz im Gegensatz zu den Flussmenschen des restlichen Schwarms, deren Flossen eher stromlinienförmiger geschnitten und von unauffälligerer blau-grauer Färbung waren.

Doch Varonas Aussehen wunderte niemanden, da sie selbst ebenso wenig eine Flussfrau war, wie ich. Sie war eine Earis. Und damit von den Menschen so verschieden wie Vögel und Wölfe, deren größte Gemeinsamkeit es war, dass sie Luft zum atmen und festen Boden zum Leben brauchten.

Wie so oft schien Suriki meinen Blick direkt zu bemerken. Zumindest drehte der kleine, weiße Fisch, der immer in Varonas Nähe schwamm, in meine Richtung ab und umrundete mich mehrmals. Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. Am liebsten hätte ich dieses kleine Ding, das eine ebenso helle und voluminöse Flosse wie seine Herrin hatte, gestreichelt. Doch ich traute mich nicht. Denn obwohl Suriki im Wasser ein wirklich hübscher Fisch war – an Land war er ein wirklich hübscher weißer Drache, der in der Regel auf Varonas Schultern thronte und ebenso schön wie gefährlich aussah.

In dem Moment sah die Earis auf und ein breites Lächeln zog sich über ihr filigranes Gesicht, ehe sie mit wenigen Flossenschlägen zu mir und Suriki herüber schwamm. >>Hallo Senga! Gut, dass du da bist! Es geht los!<<, begrüßte sie mich, nachdem sie nach meiner Hand gegriffen hatte.

Das hätte sie mir nicht sagen müssen, denn nun fassten sich alle bei den Händen, sodass ein riesiger geschlossener Kreis entstand, von dem ich ein Teil war. Und damit ein Teil des Gedankenstromes, der durch den gesamten Kreis floss. Unwillkürlich drückte ich die Hände von Varona und Orell, der zu meiner anderen Seite schwamm, als ich die Verwirrung, die Unruhe, den Zorn und all die anderen, sorgenvollen Gefühle der Schwarmmitglieder spürte, die durch mich hindurch schwappten. Ich wusste schon vorher, dass der Schwarm seit dem Angriff auf Gropp und Cana in Aufruhr war. Wie schlimm es tatsächlich war, spürte ich erst jetzt in der Schwarmversammlung.

>>Sie haben Angst um ihre Familien<<, flüsterte Varonas Stimme in meinem Kopf. Ich hatte meine eigene Ratlosigkeit nicht hinter einer Wand verborgen und die Earis hatte sie ganz richtig gedeutet.

>>Aber glauben sie wirklich, dass es noch schlimmer wird?<<, versuchte ich so diskret wie möglich zu antworten.

Doch ich war ein Teil des Ganzen und jeder, der aufmerksam genug war, konnte meine Frage mithören. Zum Beispiel Koral, der mir direkt gegenüber schwamm und Phias Hand hielt. >>Ist es denn nicht schlimm genug, wenn sie zwei der unseren angreifen?<<

Seine Stimme hallte aggressiv in der gesamten Schwarmverbindung wieder, was schlagartig die meisten anderen Gespräche zum Verstummen und uns beiden mehr Aufmerksamkeit brachte, als mir lieb war. Selbst Phias Frauenfische, die sich immer in der Nähe von Schwangeren aufhielten, stoben nervös auseinander.

Ich schluckte schwer. Eigentlich hatte ich keine Diskussion vom Zaun brechen wollen. Trotzdem konnte und wollte ich das nicht so stehen lassen. >>Ich sag ja nicht, dass das schön ist. Aber wir haben vor drei Zyklen den Angriff eines anderen Schwarms abgewehrt. Soweit ich mich erinnere, waren die Verletzungen da weitaus zahlreicher und nicht weniger schlimm als die von Cana und Gropp jetzt. Warum habt ihr mehr Angst vor den Menschen – überwiegend Bauern – als vor einem anderen Schwarm?<<

>>Menschen sind-<<

>>Warte, warte!<<, unterbrach ich ihn scharf. >>Die Hälfte aller Anwesenden hier sind ‚Menschen'. Willst Du damit sagen-<<

Koral stöhnte frustriert auf und unterbrach mich damit ebenfalls. >>Hat dir noch keiner von dem Unfall erzählt? Zacery?<<

Zac und ich zuckten zusammen. Ich sah es aus dem Augenwinkel, weil er nicht weit weg von mir im Kreis schwamm. Es dauerte einen Moment, ehe er sich zu einer Antwort durchrang. Ich spürte schon fast selbst, wie seine Gedanken klickten und er zwischen Genervtheit und blanker Wut hin und her schwangte, obwohl er jegliches Gefühl aus der Verbindung raushielt. >>Warum hätte ich das tun sollen? Vergangenes immer wieder aufkochen ist nicht so meins. Vor allem, wenn man daran nichts mehr ändern kann.<<

Irgendwie schien er damit einen Nerv im Schwarm getroffen zu haben. Spontane Frustration auf Zac schwappte von allen Seiten durch unsere geteilten Gedanken. Ich war verblüfft – so viel Kritik an ihm hatte ich noch nie erlebt.

Doch das alles wurde nahezu überlagert von Korals Wut, die sich wie eine Welle in die Gedankenverbindung ergoss. >>Du hast sie angeschleppt. Du hast ein Gespür für sie. Hätt' ja sein können, dass du wenigstens einmal deine Aufgaben richtig machst und sie vernünftig aufklärst.<<

Jetzt ruckte mein Kopf ganz zu Zac herum. Was sollte das nun schon wieder heißen?

Gleichzeitig blickte Zac zu mir. Fast dachte ich, ich würde soetwas wie Scham in seinem Gesicht sehen. Ich blinzelte. Doch natürlich war da nicht eine Regung in seinem Gesicht. Warum sollte es ihm auch?

Dann sah er wieder weg, fixierte Koral. Diesmal hielt er seine Wut nicht vor der Gedankenverbindung zurück, hell lodernd, wie eine Stichflamme. >>Dreckiges Froschmaul. Kannst du dich nicht um deine eigenen Probleme kümmern?<<

Ich schluckte. So viel hatte ich Zac nicht mehr reden hören, seit dem Tag an dem er meine Flucht verhindert hatte. Vor allem, weil ich nicht wollte, nicht konnte. Jedes Mal, wenn ich ihn auch nur sah, kochte ein Gemisch aus Wut und Hilflosigkeit in mir hoch, das mich weit über die Verzweiflung hinaus trieb.

Ich atmete einmal tief ein und aus, sodass kleine Luftbläschen an meinen Kiemen kitzelten. Dann zwang ich meine Gedanken in eine andere Richtung, ließ ihren Streit in den Hintergrund meiner Wahrnehmung rücken, ähnlich dem Wellenschwappen wenn man am Seeufer saß.

>>Meine Probleme?<<, echote Koral. >>Meine Probleme betreffen wenigstens nicht den ganzen Schwarm! Und dann schleppst du auch noch diesen Kerl an!<<

Trotzdem kam ich nicht drumherum, mich zu fragen, warum Zac jetzt so trotzig wurde. Vielleicht, weil der ganze Schwarm Zacs Verhalten anscheinend nicht mehr so ganz zu tragen schien? Denn ich konnte mir kaum vorstellen, dass das daran lag, weil Koral ihm Nachlässigkeit vorgeworfen hatte.

>>Vielleicht. Aber sie betreffen das Glück meiner Schwester und deiner zukünftigen Familie-<<

Andererseits hatte Koral schon irgendwie recht – doch Zac hatte sich ja bisher eher selten was aus Korals Meinung gemacht. War es vielleicht noch etwas anderes? Das Gespür? War es ihm vielleicht doch peinlich? Wo hatte ich das schon einmal gehört? Irgendjemand hatte mir das schon mal erklärt.

>>Witzig, dass ausgerechnet du von Familienfrieden sprichst. Immerhin hat deine Flussbraut-<<

Ich versuchte, weiter wegzudriften, wollte diese Vorwürfe nicht hören, vielleicht hätte ich doch nicht an dieser Schwarmversammlung teilnehmen sollen.

Da fiel es mir wieder ein. Ricco hatte mal etwas über das Gespür gesagt. Flussmenschen und -bräute beziehungsweise -bräutigame konnten ein Gespür für andere entwickeln, mit denen sie sich emotional tief verbunden fühlten. Wie das permanente Echo einer Gedankenverbindung, sodass man die Stimmung und Gedanken des anderen, ja sogar den Ort, wo er sich befand, viel leichter „erahnen" konnte. Meistens hatten Eltern das für ihre Kinder. Oder enge Freunde. Oder tief verbundenen Liebende.

Mein Blick flackerte zu Zac und noch während er Koral eine Antwort entgegen knurrte, drehte sein Kopf in meine Richtung. Mir drehte sich der Magen um. Rasch sah ich wieder weg.

Liebende.

Ganz sicher nicht. Nicht mehr.


Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top