Kapitel 15.3 - Neue Anfänge bringen neue Probleme
Ich starrte einen Moment lang blicklos ins Leere, lauschte auf die Stille, die noch immer zwischen mir und der Welt festzuhängen schien, während meine Gedanken ergebnislos in alle Richtungen zu rennen schien und doch immer wieder bei Lucien landeten.
Lucien ... Lucien ... Lucien ...
>>Lucien!<<, Varons Stimme schnitt wie ein Peitschenhieb durch meine ziellosen Überlegungen. >>Sucht ihn! Er ist hier in der Nähe von Sörans Wrack. Er weiß, wo Marcus sein könnte.<<
Das war ein Ruf, der an alle ging, die in Hörweite waren – und die würden es an den Rest des Schwarms mitteilen. Bald würde es hier von Flussmenschen nur so wimmeln. Wenn einer der Ihren rief, dann würden sie kommen. Dieser Gedanke gab mir einen Hauch von Zuversicht, mit dem ich mich nun an Hannah wenden konnte: „Wir werden Papa suchen."
„Wir? Ich glaube nicht, dass diese-" sie zögerte, als würde sie ein ganz bestimmtes Wort herunterschlucken. „Leute. Diese Leute dir helfen werden."
Die erneute Ablehnung in ihrer Stimme ließ mich abermals schaudern – ich konnte noch immer nicht mit Sicherheit sagen, ob sie gegen mich oder gegen meinen Schwarm gerichtet war. Doch das konnte und wollte ich jetzt nicht besprechen. Also hielt ich mein Gesicht so ausdruckslos wie möglich. „Sie werden. Sie müssen. Das sind sie mir schuldig." Und notfalls würde ich diese Schuld einfordern. Aber zuerst würde ich mit Lucien sprechen. „Danke, dass du mir bescheid gegeben hast. Treffen wir uns morgen wieder hier? Dann kann ich Dir sagen, was ich – was wir – tun werden."
Hannah nickte, ihr Gesicht war noch immer ein Abbild der Distanz. Ich hasste das. Als die Stille zu lang wurde, hob ich die Hand zum Abschied. „Dann bis morgen, Hannah. Ich hab dich lieb."
Damit tauchte ich unter, ohne auf eine Antwort zu warten. Eine tatsächliche Ablehnung hätte ich nicht ertragen.
Lucien zu finden erwies sich als schwieriger als gedacht. Aber immerhin war ich nicht allein. Nach und nach kamen immer mehr Flussmenschen dazu, bis der Bereich rund ums Wrack vor matt glänzenden Schuppen nur so wimmelte. Auch wenn ich es niemals laut zugegeben hätte – der Umstand, dass sie alle kamen, um mir zu helfen, Lucien und damit vielleicht auch Papa zu finden, entfachte ein warmes Gefühl in meiner Brust. Und obwohl die Suche gefühlt ewig dauerte, war es nur eine Frage der Zeit, bis sie letztlich zu Ende war.
>>Hier! Bei den Dreiden-Steinen!<<
Oh. Da war dieser kleine Mistkerl aber weit gekommen.
Als ich bei den Dreiden-Steinen ankam, drückte Akrel Lucien mit hartem Griff auf den schlammigen Boden, während er ihm dabei den Arm schmerzhaft auf dem Rücken verdrehte. Ich wusste sehr genau, dass dieser Haltegriff sehr wehtun konnte – ich hatte ihn bereits selbst zur Genüge in Rikos Trainingsstunden üben und ertragen müssen. Es tat mir nicht einmal leid. Dass Lucien darüber hinaus offensichtlich noch eine ganz Menge Sand in Mund und Nase bekam, war mir ebenfalls egal. Solange er noch genug Luft bekam, um meine Fragen zu beantworten... und immerhin achtete Akrel penibel darauf, dass Luciens Kiemen frei blieben. Was wollte er mehr?
Als hätte er meinen Blick gespürt, drehte er seinen Kopf plötzlich in meine Richtung und ich meinte, seine Augen regelrecht auf mir zu spüren. >>Ah! Fischweib! Eigentlich sollte ich nicht überrascht sein, dich hier zu sehen.<< Er klang nicht einmal wütend. Nur spöttisch. >>Bist du hier, um nach Papi zu fragen?<<
Die Sorge um Papa, die sich schon die ganze Zeit durch meinen Gedanken fraß, schlug plötzlich Meter hohe Wellen. Diese kleine Ratte wusste ganz genau, was ich von ihm wollte – und bei seinem süffisanten Gesichtsausdruck schien er sich nicht im geringsten sorgen zu machen. Mit zusammengepressten Lippen starrte ich auf Luciens Gestalt. Intuitiv ballte ich die Faust. Ich wollte mein Gesicht, meinen Körper ausdruckslos halten... Doch ich schaffte es nicht. Immer wieder spürte meine Muskeln zucken, bereit das, was ich wissen wollte, wissen musste, aus ihm herauszuprügeln.
Eine Hand auf meiner Schulter. >>Mach dir nicht die Finger an ihm schmutzig<<, flüsterte es ruhig in meinem Geist. Ich musste nicht einmal hinsehen, um zu wissen, dass es Zac war. >>Dahinten kommt Varon. Er wird schon alle Antworten aus ihm herausholen.<<
Varon. Dieser Gedankenschleicher. Wieder kochte Wut in mir hoch, krampfte sich regelrecht in meinem Magen zusammen und am liebsten wollte ich sie der Welt entgegen schreien. >>Lass mich<<, zischte ich Zac in unserer Gedankenverbindung an. >>Ich-<<
Eigentlich wollte ich ihn abschütteln, doch die Ruhe die plötzlich aus seinem Geist in meinen hereinströmte, riss mich aus meinen Gewaltfantasien. Wo nahm er diese Ruhe plötzlich her? Er war sonst immer derjenige mit der latent brodelnden Frustration, die kurz vorm Überkochen war. Ich blinzelte. Es war so ungewohnt nach all dem hin und her der letzten Zyklen. Aber nicht unwillkommen. Und so schloss ich kurz die Augen, konzentrierte mich nur auf die Gelassenheit, die dort war. Ein Anker in der Wut, die in mir tobte.
Schließlich drehte ich mich zu Varon. Als ich mich jetzt von Zac entfernte und auf Varon zuschwamm, fühlte ich mich wieder mehr wie ich selbst. Sicher, ich war noch immer wütend. Aber ich hatte nicht mehr das unmittelbare Verlangen auf irgendjemanden einzuschlagen.
Trotzdem konnte ich mich nicht von den widersprüchlichen Gefühlen freimachen, die aufkamen, wenn ich jetzt daran dachte, wie ich Varon angeschrien hatte, wegen des Verrats an unserer Freundschaft. Erinnerungen an die ewige Angst, die ich nach Els Gedankenmissbrauch hatte, wann immer jemand eine Gedankenverbindung zu mir aufbauen wollte... Und doch hatte ich zugelassen, dass Sina Trells Gedanken durchsuchte. Und jetzt wollte ich das wieder für Lucien. Ich wollte, wissen, was er wusste. Musste es wissen.
Als ich zu Varon schwamm war mein Gesicht so ausdruckslos, wie das jedes Flussmenschen hier im Umkreis. >>Ich will die Fragen stellen.<< Die Erkenntnis, dass meine Überzeugungen anscheinend genauso viel wert waren, wie Steine am Flussgrund tat weh. Aber im Moment gab es wichtigere Dinge, als meine Überzeugung. Und vielleicht wurde es Zeit anzuerkennen, dass andere Leute vor dem gleichen Dilemma mit dem gleichen Ergebnis standen.
Leute wie Varon.
Dieser sah auch nicht glücklich über meiner Forderung aus. Unruhig huschte sein Blick erst zu Zac, dann zu Ricco, dann zu einigen anderen der Umstehenden. Doch ich wartete gar nicht erst, bis einer von ihnen mir mit irgendwelchen Ausreden kommen konnte. >>Wer, wenn nicht ich hat das Recht dazu?<<
Keiner sagte etwas.
Da wandte Varon schließlich den Blick zu mir. >>Gut. Stell deine Fragen.<<
Einen Moment später schwamm ich direkt vor Lucien, der immer noch rücksichtslos zu Boden gedrückt wurde. Und immer noch hielt sich mein Mitleid in Grenzen. Trotzdem nickte ich Akrel knapp zu, damit er seinen Griff etwas lockerte und sich der junge Mann in eine aufrechtere, bequemere Position bringen konnte. Ich bereute die Entscheidung augenblicklich, als ich in Luciens spöttisch grinsendes Gesicht sah. >>Du bist zu spät.<< Seine Stimme überschlug sich fast vor unterdrücktem Gelächter. Mistkerl.
Entschlossen legte ich meine Hand auf Varons Schulter, woraufhin dieser nach Luciens Handgelenk griff und wir so alle drei in eine Gedankenverbindung gezogen wurden. Es war Zeit für ein paar Antworten.
Als Varon in Luciens Geist eindrang, war da kein Widerstand. Es machte fast schon misstrauisch, wie Lucien regelrecht WOLLTE, dass wir ihn alles fragten. Aber was für eine Wahl hatte ich schon? >>Wo ist mein Vater?<<
Dank Varon brauchte ich gar nicht auf Luciens Antwort zu warten. Augenblicklich tauchten vor mir die Bilder, die mir besser Auskunft gaben, als alle Worte es je gekonnt hätten. Die Ruine.
Ich schluckte schwer. Ich kannte den Ort. Jeder kannte den Ort – im Schwarm wurde er allgemein für einen kleinen, romantischen Ausflug benutzt. Auch ich war schon mit Zac dort gewesen und hatte mich von der ebenso mystischen wie fremden Atmosphäre verzaubern lassen. Aber warum? Diese Ruine war laut Zac seit jeher einfach nur da. Versteckt in Küstennähe hatten das untergegangene Volk der Alten dieses Bauwerk errichtet, dessen eigentlichen Nutzen heute keiner mehr kannte.
Varon schien den gleichen Gedanken zu haben, denn er sprach das aus, was ich mir gerade gedacht hatte: >>Aber Warum? Da ist doch nichts.<<
Lucien zuckte mental mit den Achseln. Er wusste es nicht und es interessierte ihn offensichtlich auch nicht. Stattdessen drängte sich eine andere Erinnerung in seinen Geist. Ein Strand. Eine sanfte Melodien und ein Flussmann mit langen dunklen Haaaren, die ihm in komplizierten Zöpfen nass auf die bloßen Schultern fielen. Und obwohl das kein ungewohnter Anblick war schien es doch falsch. Der Flussmann in Luciens Erinnerung schien größer, als ich je einen gesehen hatte. Und muskulöser und vor allem fehlten ihm die kleinen Flossen an den Armen und...
>>Ein Meermensch?!?!?<< Varons Stimme in meinen Gedanken überschlug sich regelrecht und einen Moment lang war er so schockiert, das seine mentale Mauer bröckelte und eine Mischung aus Angst und Entsetzen zu mir herüberfloss. Was bedeutete das?
>>Was hast du mit Meermenschen zu schaffen?!<<
>>Lass mich!<<Diesmal wehrte sich Lucien gegen Varons Gedankenschleicherei. Er versuchte seine Wand aufzubauen und die Erinnerungen für sich zu behalten, sodass ich zuerst nichts als bunte Schemen sah und ein verblassendes Rauschen hörte.
Doch Varon war unerbittlich. Es schien ihm keine Mühe zu kosten, nach Luciens Überlegungen zu greifen und sie für uns sichtbar zu machen. Plötzlich sah und hörte ich, was Lucien so verzweifel zu verstecken suchte: Das Gesicht eines Mädchens, das seinem so frappierend ähnlich sah, das es unmöglich war, die Verwandschaft zu leugnen. Dazu eine tiefe stimme, die ebenso selbstgefällig wie gehässig klang, dass sie mir sofort unsympathisch war. >>Du kriegst sie zurück, wenn Du uns diesen Mann lieferst. Er ist fast soweit...<<
Heiße und kalte ströme jagten abwechseln über meinen Rücken, während mir vor Angst regelrecht schlecht wurde. Meinte er Papa?
>>Für was bereit?!<< In meiner Panik brüllte ich das Lucien so sehr entgegen, dass er zusammenzuckte.
Doch er wusste es nicht. Statt einer Antwort sah ich nur wieder Bilder der Ruine in seinen Gedanken aufflackern.
Ich musste dorthin
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top