Kapitel 15.2 - Neue Anfänge bringen neue Probleme

Als ich auftauchte, sah ich einen grauen, wolkenverhangenen Himmel. Es sah so anders aussah, als das klare Blau, das vor ein paar Tagen mein Gespräch mit Trell untermalt hatte.

Wie ein böses Omen.

Mein ungutes Gefühl konnte aber auch von dem Anblick des einzelnen Ruderboots kommen, das neben dem Mast von Sörans gesunkenen Kutter einsam auf dem Wasser dümpelte und in dem eine einzelne Gestalt mit kerzengeradem Rücken saß. Oder von drei dunklen Schatten, die das kleine Boot knapp unter der Wasseroberfläche umkreisten. Na das schaffte doch Vertrauen. Nicht. Allein der Anblick dieser Konstellation schnürte einen festen Knoten in meiner Brust. >>Verschwindet!<<, zischte ich den drei übermotivierten jungen Kerlen zu.

>>Aber-<<, setzt Gropp an, was ich mit einer scharfen Geste unterband.

>>Was soll sie tun? Mit der Hand aufs Wasser schlagen?<<, ich schnaubte nachdrücklich. >>Ihr könnt mit Varon weiter hinten warten. Aber bitte: Seid still.<<

Zu meiner Überraschung zögerten sie nur einen kleinen Moment – und dann taten sie genau das: Sie schwammen zu Varon, bildeten einen kleinen Kreis, um sich zu beratschlagen und blieben dann da, wo sie waren.

Also schwamm ich allein auf das Boot zu, indem Hannah saß. Noch immer mit durchgestrecktem Rücken schaute sie geduldig in meine Richtung, wartend. Erst als sie mich näherkommen sah, wanderte ihr Blick weiter. Weg von mir, in Richtung Meer, von wo der Wind die herzzerreißenden Melodien der Meermenschen mitbrachte.

Spontan wünschte ich, dass ihnen jemand die Mäuler stopfen würde. So beruhigend es beim ersten Hören war, so nervenaufreibenden war es auf Dauer. Und wenn ich den Erzählungen von Achs glaubte – und das tat ich – sangen sie seit drei Tagen fast ununterbrochen. Ich schluckte und versuchte mich trotzdem zu konzentrieren. „Hallo Hannah"

Hannahs Kopf ruckte herum. „Hallo Senga." Die Worte kamen stumpf und ausdruckslos bei mir an.

Ich schauderte. Da war kein Lächeln, keine Geste des Willkommenes, kein sanftes Leuchten in ihren Augen, das mir in all den Jahren so vertraut geworden war. Trotzdem zwang ich mich dazu, noch näher zu schwimmen. Doch ich traute mich nicht, eine Hand auszustrecken, um mich an dem Rand des Bootes festzuhalten. Dazu war Hannahs Haltung zu abwehrend.

„Was – was gibt es? Warum..?", meine Stimme war immer leiser geworden und zum Ende hin völlig verstummt. Ich brachte die offensichtliche Frage nicht über die Lippen, während der Knoten in meiner Brust sich fester zuzog.

„Markus", setzte Hannah schließlich an. „Er hat sich verraten gefühlt und-" Ihre Stimme brach. Obwohl in ihren Worten kein Vorwurf lag, konnte ich ihn doch in ihren dunklen Augen sehen.

Ich schluckte. Einen Moment lang war nichts als Stille zwischen uns und in mir zog sich der Knoten so schmerzhaft zusammen, dass ich nicht sicher war, ob er sich je wieder lösen würde. Es war, als würde ich einer Fremden gegenüberstehen.

„Er wollte nicht aufhören", flüsterte ich schließlich. Es war mehr eine Rechtfertigung, als eine Erklärung, doch ich konnte den um Verständnis bettelnden Unterton nicht aus meiner Stimme verbannen. „Ich hätte Trell geheiratet und wäre nach Hause kommen. Wirklich! Wenn Papa und die anderen und – auch mein Schwarm – es dann nur beendet hätten."

Ich stockte. Irgendwie hörte ich meine Stimme doppelt. Als wenn ich ein Echo meiner Worte noch einmal in meinem Kopf hören würde. Doch das war unwichtig. Hannah war wichtig. Und so ignorierte ich das und sprach weiter: „Papa konnte das nicht. Und die anderen auch nicht. Oder wollten nicht. Ich weiß nicht. Aber Hannah – wie kann ich nach Hause gehen, wenn ich weiß, dass Menschen sterben könnten. Kinder? Das ist, als würde ich sehen, wie jemand Feuer in Lichterlass legt und ohne ein Wort weggehen."

Hannah schüttelte den Kopf. „Weißt du überhaupt, was er die letzten Zyklen in Bewegung gesetzt hat, um dich zu finden?" Ich sah ihre Anklage, ihre Verzweiflung, die zunehmend ein Spiegel meiner eigenen war. „Weißt du, wie sehr er gelitten hat?"

Jetzt hörte ich nicht nur das Echo meiner Worte, sondern auch ihrer Worte in meinem Gedanken. Was war das? „Nein. Weiß ich nicht", murmelte ich betroffen. Trotzdem wollte ich das so nicht stehen lassen. „Aber ich hab mir das auch nicht ausgesucht." Ich betonte jedes Wort, in der Hoffnung, dass ich zu ihr durchdrang. „Ich wurde nicht gefragt, ob ich hierher kommen will. Mir wurde nie eine Wahl gelassen, ob ich hier bleiben will. Und trotzdem habe ich die Leute hier kennengelernt."

Ich sah, wie Hannah zum Sprechen ansetzte. Doch ich schüttelte den Kopf und sprach weiter. Es gab so viel, was ich ihr sagen wollte. Es gab so viel, was wichtig war. Und so wenig Zeit. Mir saß der anhaltende Gesang der Meermenschen im Nacken, der nichts Gutes verhieß. „Natürlich: Sie hätten sich mehr für mich einsetzen müssen, mir eine Wahl lassen müssen, statt mich wegen irgendwelcher dummer, alten Traditionen hier festzusetzen. Und ja: Manche Dinge, die der Schwarm tut, finde ich richtig scheiße. Aber trotzdem: Die meisten hier, haben wenig bis gar nichts mit allem zu tun! Hannah – das, was Papa vorhatte, hätte die Kinder töten können!"

Endlich wurde mir klar, warum ich das Echo unseres Gesprächs in meinem Geist hörte. Wütend starrte ich zu Varon. Er sandte unsere Worte für alle hörbar durch den See. Vermutlich würde auch die gesamte Schwarmversammlung am Grunde des Sees jedes einzelne Wort hören. Den würde ich später noch schuppen. Trotzdem konnte ich mich davon nicht ablenken lassen. Ich war zu sehr damit beschäftigt, Hannah anzustarren und auf ihre Antwort zu warten. Und ich wartete eine gefühlte Ewigkeit. „Und nun?", fragte sie schließlich. „Möchtest du hierbleiben? Bei deinem Schwarm."

Auch diese Frage hallte in meinen Kopf wieder. Vielen Dank, Varon. Was immer ich jetzt auch sagte – der ganze Schwarm würde es hören. Aber immerhin kannte ich die Antwort, seit ich mit Ivory darüber gesprochen hatte: „Nein." Schlicht aber ehrlich. „Ich glaube nicht, dass ich hier glücklich werden kann. Zumindest nicht so, wie es jetzt ist. Aber das ändert nichts daran, dass ich zu ihnen gehöre. Und sie zu mir."

Hannah presste die Lippen zusammen. Ich wusste, dass das nicht das war, was sie hören wollte. Doch es war die Wahrheit und die war ich ihr schuldig. Müde fuhr ich mir über die Augen. „Entschuldige", murmelte ich leise. Ich war nicht einmal sicher, ob sie mich hörte.

Doch dann nickte sie langsam. „Senga. Dein Vater liebt dich. Ich liebe dich, ganz egal, ob ich deine Entscheidung gut oder schlecht finde. Das wird sich nicht ändern."

Ihre Worte trieben mir die Tränen in die Augen. Und jetzt endlich traute ich mich nah genug an das Boot heran, um mich an der Reling festzuhalten. Sofort streckte Hannah eine Hand nach mir aus. Ihre Berührung war tröstender, als alle Worte, die sie je hätte sagen können. Und beinahe hätte ich sogar den noch immer anhaltenden Meermenschengesang vergessen, der penetrant von der Küste zu uns herüberwehte, ohne, dass ich die Worte verstehen könnte. Trotzdem konnte ich die Müdigkeit und Trauer in ihrem Gesicht nicht ignorieren.

„Was ist?", fragte ich schließlich. „Was ist mit Papa?"

Bei dieser Frage verkrampften sich ihre Finger auf meinem Arm. „Er ist seit vorgestern verschwunden." Ich starrte sie an. Das Echo ihrer Worte in meinem Kopf machte die Wahrheit noch schlimmer. Jetzt wussten es alle. „Wir haben schon überall gesucht und wissen absolut nicht, wo er sein könnte – oder wie es ihm geht. Ich fand, dass du das wissen solltest."

In meinen Gedanken hörte ich ein leises Wimmern. Es dauerte einen Moment, ehe ich verstand, dass ich es war, die diesen Laut von sich gegeben hatte und Varon das an alle weitergegeben hatte. Egal. Flehend sah ich zu meiner Ziehmutter auf. „Aber Hannah. Bitte. Irgendwas..."

Aber sie schüttelte nur den Kopf, und sah genauso zerschlagen aus, wie ich mich fühlte. Dennoch begann ich für mich eine Liste von Orten zusammenzustellen, die ich absuchen würde. Ob mit der Hilfe des Schwarmes oder ohne. Papa konnte nicht einfach verschwunden sein. Er durfte nicht. „Danke, dass du gekommen bist", murmelte ich leise. „Ich-"

Doch was immer ich sonst noch sagen wollte, es wurde davongespült, als ich ein hohes, laut-lachendes Jubilieren in meinem Kopf hörte. >>Ja! Ja! Jaaaaa! Haben sie ihn doch gekriegt!<<

Lucien. Lucien, der die Flussmenschen hasste. Lucien, das Gedankenwand-Naturtalent. Auch er musste das von Varon übertragene Gespräch gehört haben.

Was wusste er über das Verschwinden meines Vaters?

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