Kapitel 9.2 - Wir sind eins

Neujahr, 2146 n.n.O.
(Sommersonnenwende, entspricht 0. Tas'Saru 2146 n.n.O.)


Immerhin war ich nicht lange allein, denn bald gesellte sich Ricco zu mir. „Und? Gefällt es Dir?", fragte er mich mit einem Augenzwinkern.

Es irritierte mich, dass er dabei genau die gleiche Formulierung verwendete, wie Zac noch vor wenigen Minuten. Trotzdem nickte ich und trank noch einen Schluck aus meiner neuen Cider-Flasche, während ich die immer enger tanzenden Paare beobachtete: „Ich hatte etwas anderes erwartet."

Ricco nickte grinsend. „Das habe ich damals auch gedacht. Wollen wir uns noch was zu trinken holen und ihren Auftritt ansehen? Zac soll ja ein virtuoser Triangel-Spieler sein."

Ich lachte leise. „Ich wusste bis gerade eben nicht einmal, dass er heute Abend spielt."

„So?", fragte Ricco überrascht, während wir uns an den Leuten vorbei schlängelten und auf die mit Essen überladenen Tische zuhielten. „Dabei ist es für jeden Flussmenschen Pflicht, heute mindestens eine halbe Stunde lang zu spielen, allein oder mit anderen zusammen, ganz egal. Einfach um sicher zu gehen, dass die ganze Nacht über Musik da ist. Schau mal – sie haben die Fleischspieße wieder aufgefüllt!"

Glücklich eilte er zum Buffet und angelte sich einen. Als er zurückkam lächelte ich ihn so liebenswürdig wie möglich an. „Kannst Du mir den mal bitte geben?"

Ricco drehte den Kopf in meine Richtung und sah mich in gespielten Ärger aus schmalen Augen an. Dann, ganz langsam, reichte er den Spieß zu mir herüber, musste er ja, wenn er sich keinen Punkt auf seiner Holzscheibe einhandeln wollte. „Das hat Folgen für deine nächste Trainingsstunde", murrte er und huschte noch einmal zum Buffet hinüber.

„Aber warum ausgerechnet eine Triangel?", fragte ich zwischen zwei Bissen, als Ricco zurück war und wir langsam zur Bühne schlenderten.

„Keine Ahnung. Varon hat mal erzählt, dass alle Kinder des Schwarms schon sehr früh musikalisch erzogen werden und sobald sie sich in Menschen verwandeln können, müssen sie entweder singen oder ein Instrument lernen. Zac wollte damals wohl absolut nicht. Irgendwann hat er aber nachgegeben und aus Protest die Triangel gewählt."

Ich nickte, während meine Augen wieder zu Zac auf die Bühne wanderten. Trotz allem schien er sein Instrument ernst zu nehmen. Er hatte nicht weniger als fünf verschieden große, silbern schimmernde Triangeln vor sich liegen und daneben mehrere verschieden dicker Schlägel, für unterschiedliche Klanglautstärken und -nuancen.

Aber natürlich war Zac nicht der Mittelpunkt dieser Band, ebenso wenig wie Sina mit ihren Trommeln. Den Mittelpunkt aller Darbietungen bildeten Lachsa mit ihrer atemberaubenden Stimme und ihr Sohn Varon, der auf eine Weise Geige spielte, wie ich es vorher noch nie gehört hatte. Dennoch war das Zusammenspiel der vier ebenso rhythmisch und harmonisch wie die Stücke davor, dass ich gar nicht drumherum kam, mich ein wenig im Takt der Musik zu bewegen.

Ricco entging das nicht. „Na Senga? Wollen wir uns auch auf die Tanzfläche wagen?"

Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm er mir meine halb-leere Flasche ab, stellte sie an den Rand und zog mich dann zu einem Fleckchen in der Nähe der Bühne, wo wir etwas Platz hatten. Es dauerte tatsächlich nicht lange bis mich Ricco mit seiner ausgelassenen Art zu tanzen mitgerissen hatte. Es war so einfach, seine abstrusen, witzigen Bewegungen zu imitieren oder im Takt zu ergänzen, dass ich bald selbst lachend die Arme ausbreitete, um unter Riccos begeisterten Applaus ein Gänseblümchen im Sonnenschein zu imitieren. Schlimmer als bei ihm konnte es nicht aussehen.

Oder vielleicht doch?

Als ich mich einmal um mich selbst drehte, sah ich plötzlich Doras skeptischen Blick auf mir ruhen. Irritiert hielt ich inne, als sie sich in Bewegung setzte und gemächlich auf mich zuschlenderte. Bisher hatten Zacs Expartnerin und ich uns gepflegt ignoriert. Warum sie das jetzt ändern wollte, war mir ein Rätsel. Schließlich winkte sie mich zu sich herüber. Zögernd bedeutete ich Ricco, dass ich kurz weg wäre. Dann griff ich – plötzlich durstig – nach meiner Cider-Flasche und folgte ihrer Aufforderung.

Jetzt erst, als ich unter die ruhigeren Bäume trat und die Tanzfläche mit ihrer Bewegung und der mitreißenden Musik hinter mir ließ, merkte ich, wie viel ich tatsächlich getrunken haben musste. Vorsichtshalber lief ich ein kleines bisschen langsamer, um das schwummrige Gefühl auszugleichen, das meine Schritte etwas unsicherer machte.

„Senga! Kannst du dir mal bitte ein bisschen Zeit für mich nehmen?", begrüßte mich Dora mit einem Augenzwinkern auf das Spiel des Abends verweisend.

Ich nickte mit einem ungutem Gefühl – was sollte ich sonst tun? Ich wollte kein Kurier sein. Trotz meines schwummerigen Gefühls trank ich noch einen Schluck aus meiner Flasche, um einen Moment Zeit zu gewinnen, ehe ich so neutral wie möglich antwortete: „Natürlich. Was kann ich für dich tun?"

Während ich sprach, hoffte ich inständig, dass sie mir nicht anmerkte, dass ich ein gutes Stück weit weg von „nüchtern" war.

Doch sie ließ sich zumindest nichts anmerken und lächelte mich etwas an, obwohl es für meinen etwas umnebelten Geist auch ein Zähnefletschen hätte sein können. „Ich dachte, vorhin, dass es schade ist, dass wir noch keine Gelegenheit hatten, miteinander zu sprechen. Und dass, obwohl du schon so lange bei uns lebst."

Ich starrte sie einen Moment lang perplex an. Ihre Worte weckten eine alte Bitterkeit, die wie giftige Galle in mir hochstieg und mit ihr zusammen kamen die Erinnerungen an meinen letzten Tag in Freiheit, der Tag des Erstbadens: Wie ich mit meiner besten Freundin ein paar Bouletten für die Feierlichkeiten zubereitet hatte, wie wir alle ausgelassen dorthin spazierten. Wie sich Trell einen Kuss von mir erzwang und ich in den Wald flüchtete. Der Wald. Die Irrlichter. Zac, der mich von ihnen rettete und dann – dann hierher verschleppte.

„Senga?", hörte ich Doras Stimme wie aus weiter Ferne. „Ist alles gut?"

Ich blinzelte und nickte mechanisch, als ich die Erinnerung an dieses andere Fest bei Seite schob. „Ja", murmelte ich leise und zwang mich zu einem Lächeln und einem weiteren Schluck Cider zur Beruhigung. „Alles gut. Worüber möchtest du denn reden?"

Sie schwieg und blickte gedankenverloren zu der kleinen Feuerschale in Sarus Schrein, als müsste sie erst selbst darüber nachdenken. Dann sah sie wieder zu mir. „Ich wollte einmal fragen, wie Zacery und du euch kennengelernt habt. Ich überlege, demnächst selbst loszuziehen, um einen Flussbräutigam zu finden. Seit wir uns getrennt haben, hatte ich noch keine wirkliche Gelegenheit dazu." Sie lächelte mich wieder an, wenn auch etwas wehmütig. „Und vielleicht hatte ich auch ein bisschen Angst davor, den See für so lange Zeit zu verlassen."

Mein Mund war plötzlich wie ausgetrocknet. „Warum habt ihr euch denn getrennt?" Die Worte waren schneller raus, als ich darüber nachdenken konnte und sofort hätte ich mir auf die Lippen beißen mögen. Das war nichts, was man die Expartnerin seines Liebsten fragte. Doch ich konnte sie nicht zurücknehmen und auch wenn Dora zögerte, antwortete sie dennoch: „Hat er das nie erzählt?"

Ich schüttelte den Kopf, während ihre Worte langsam weiter auf mich einsickerten. „Zacery und ich", sie zögerte wieder. „Langfristig wünschen wir uns beide eine Familie. Aber er ist nicht bereit, dafür den Weg zu gehen, den seine Schwester gewählt hat. Damit standen wir vor unüberbrückbaren Differenzen."

Sie seufzte schwermütig und sah mich vielsagend an. Aber ich hätte es auch so verstanden. Phia. Sie meinte Phia und Koral. Flussmenschen waren untereinander nahezu unfruchtbar. Sie brauchen Menschen mit denen sie Kinder zeugen können, die dann automatisch auch Flussmenschen würden. Deshalb hatte Phia sich von einem Menschen schwängern lassen und war dann zu Koral und dem Schwarm zurückgekehrt. Doch Zac wollte offensichtlich kein fremdes Kind großziehen. Er wollte ein Eigenes. Von einer Menschenfrau. Von mir?

„Senga? Bist du sicher, dass alles gut ist?"

Ich nickte wieder, unfähig einen klaren Gedanken zu fassen. Stattdessen trank ich den letzten Schluck meiner Flasche. „Entschuldige mich bitte. Ich muss ...", mein Hirn suchte verzweifelt nach einer Ausrede, um hier irgendwie wegzukommen und mein Blick blieb an meiner leeren Flasche hängen. „ ... mir was zu Trinken holen."

Ohne auf eine weitere Reaktion von Dora zu warten, ging ich davon, direkt vorbei an den Tischen mit den Getränken, weiter weg zwischen die Bäume. Ich brauchte Abstand. Dringend.


Als mich die Dunkelheit des Waldes umfing, spürte ich den Schwindel, der sich um meinen benebelten Geist legte. Ich hätte nicht weiter trinken dürfen. Gleichzeitig wünschte ich mir, ich hätte genug getrunken, dass ich dieses Gespräch einfach vergessen könnte. Doch das würde ich nicht. Vorsichtig setzte ich jeden Schritt, denn wenn ich nicht aufpasste, schien der Boden unter mir gefährlich zu schwanken. Doch ich wollte noch nicht stehen bleiben. Mit Chaos im Kopf ging ich weiter in den Wald, mehr Dunkelheit, mehr Ruhe, bis die Geräusche des Neujahrsfestes nur noch gedämpft zu mir herüber drangen.

Dann war es endlich weit genug. Seufzend lehnte ich mich an einen Baum und wollte mir nur eine kurze Pause gönnen, während ich in den Wald hinein starrte und die Nacht um mich herum langsam zur Ruhe kam.

Doch meine Gedanken rasten noch immer in einem wahllosen Durcheinander.

Ein Kind. Bei dem Gedanken wurde mir schlecht. Hätte ich ein Kind, dass an den Fluss gebunden war, könnte ich nie wieder weg. Davon abgesehen wollte ich nicht mal Kinder, zumindest nicht jetzt. Hatte er mich deshalb entführt? Wieder dachte ich an das Erstbaden zurück. Gerade die raue Rinde in meinem Rücken erinnerte mich lebhaft an den Baum, an dem Trell mich eingekesselt hatte, um mir seinen Kuss aufzuzwingen. Fast schon spürte ich seine unerbittlichen Hände wieder an meinem Kinn, die mich zwangen, den Kopf still zu halten. Und wieder sah ich seine braunen, lauernden Augen vor mir, die jedem meiner Schritte folgten. Doch in meinem Geist wurden Trells braune Augen zu Zacs grau-blauen Augenflächen, die er als Flussmann hatte. Kalt und ausdruckslos und ohne irgendeinen Gedanken oder ein Gefühl preiszugeben.


Mit rasendem Herzen riss ich meine eigenen Augen wieder auf. Mir war nicht einmal klar gewesen, dass ich sie geschlossen hatte. Doch nun starrte ich mit weit aufgerissenen Augen blicklos in den Wald hinein...

Bis mir bewusst wurde, dass ich wie hypnotisiert die tanzenden Lichter in der Dunkelheit vor mir beobachtete.

Ich blinzelte und eine vertraute Panik breitete sich in mir aus, spülte sämtliche Schläfrigkeit davon.

Das konnte nicht sein. Nicht hier.

Ich blinzelte wieder.

Doch die Lichter waren noch immer da, während plötzlich langsame, herzzerreißende Töne einer fernen Musik zu mir herüber schallten.

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