Kapitel 7.2 - Unfälle passieren

81. Jir'Lore, 2145 n.n.O

Die nächsten Tage waren zermürbend. Ich hatte mir zwar nichts gebrochen, Lore sei dank, aber genug Prellungen, dass es sich wie gebrochen anfühlte. Von den Schürfwunden und den bunt leuchtenden bis fast schon schwarzen Flecken, die sich immer deutlicher auf meinem ganzen Körper abzeichneten, ganz zu schweigen. Dementsprechend hatte ich die Anordnung, mich mit allem zurückzuhalten und mich voll und ganz aufs „Gesund werden" zu konzentrieren.

Das hieß also: Kein Training, keine Arbeit und kaum Beschäftigung im See. Abgesehen von der Tatsache, dass mich tatsächlich noch jede zweite Bewegung schmerzte, war es furchtbar langweilig und ich konnte die sich ruhig in der Strömung bewegenden, Seegraswände von Zacs persönlichen Räumen nicht mehr sehen. Aber immerhin war ich jetzt nicht allein hier, sondern mit Zac.

Am Tag nach dem Unfall hatte Zac kurzerhand beschlossen, dass ich bei ihm einziehen sollte, damit ich nicht allein in meinem „Gästezimmer" hockte. Irgendwie klang es komisch, aber ich hatte nichts dagegen. Im Gegenteil: Ich genoss seine Gegenwart, die Wärme seiner Umarmung, die die beständige Kühle des Sees vertrieb, wenn er mich nur lange genug festhielt. Ich mochte unsere Gespräche, wenn er Abends nach seiner Arbeit in der Tischlerei nach Hause kam und wir zusammen zum Abendessen schwimmen konnten. Und natürlich hatte ich auch nichts gegen die Stunden der Zweisamkeit, die wir uns ab und zu in den wärmer werdenden Nächten auf der Insel erschlichen.

Trotzdem: Nichts davon konnte die gähnende Langeweile vertreiben, die mit erzwungener Tatenlosigkeit einher ging. Und so fiel ich Zac regelrecht um den Hals, als Bewegung in die Seegraswände kam und er den Kopf hineinsteckte.

>>Hey<<, flüsterte ich und er erwiderte meine Umarmung, wobei ich sein Lächeln in unserer Gedankenverbindung spürte. Am liebsten hätte ich ihn nach seinem Tag gefragt, aber er sprach nicht gern über seine Arbeit. Und jedes Mal, wenn wir es doch taten, war da eine unterschwellige Frustration in seinen Gedanken, die auch seine Wand nicht zurück halten konnte. Wenn ich nur wüsste, was es war. Doch er wollte nicht darüber reden. Also lächelte ich und ergänzte meine Begrüßung stattdessen mit einem: >>Ich hab dich vermisst.<<

>>Hey, Liebes<<, antwortete er und strich mir mit einer Hand sanft über die Wange und über die Lippen, was bei Flussmenschen das Äquivalent zu einem Kuss war, da Küsse unter Wasser zwar möglich, aber nicht unbedingt genießbar waren. Dann griff er nach meiner Hand und verschränkte seine Finger sanft mit meinen, um unsere Gedankenverbindung zu festigen. >>Wie war dein Tag?<<

Ich schnitt eine Grimasse und seufzte frustriert. >>Nichtssagend wie sonst auch<<, murrte ich bedrückt. Tatsächlich wurde meine Unruhe mit jedem Tag schlimmer. Ich brauchte dringend wieder was zu tun.

>>Sieh es einmal positiv<<, versuchte mich Zac aufzumuntern und fuhr dabei mit seinem Daumen über meinen Handrücken. >>Du hast frei!<<

Er meinte es nicht böse. Aber die lapidare Art, wie er es sagte, machte mich wütend. >>Und was soll ich mit meiner ach so tollen Freizeit?<<, knurrte ich angriffslustig – und bereute es sofort.

Ich wollte mich nicht mit ihm streiten. Er konnte ja nichts dafür. Im Gegenteil: Er tat so viel für mich, damit es mir besser ging. Ebenso die vielen andere Schwarmmitglieder, die mich besuchen kamen oder denen ich neuerdings bei ihrer Arbeit Gesellschaft leistete. Neben den üblichen Verdächtigen Varona, Ricco und Varon, waren es nun auch Sina, Orell und Gropp. Mit Sicherheit taten sie das auch wegen ihrem schlechtem Gewissen, weil sie die Kontrolle der Versorgungstunnel vergessen hatten. Trotzdem änderte es nichts daran, dass ich mich wirklich gut mit ihnen verstand. Sogar mit Sina, was ich anfangs niemals geglaubt hätte, da sie Doras kleine Schwester war. Das ich mich mit Sina verstand, änderte allerdings nichts daran, dass mich Zacs ehemalige Partnerin nach wie vor gepflegt ignorierte und kaum eines Blickes würdigte. Aber zugegeben: Ich an ihrer Stelle würde es vermutlich ähnlich handhaben.

Ich seufzte. Im versuch meine chaotischen Gedanken und Gefühle wieder in den Griff zu kriegen, strich ich mir meine grünlich schimmernden Haarsträhnen aus dem Gesicht. Ich hatte mich schon fast an die Farbe gewöhnt, solange ich nicht zu sehr darüber nachdachte. >>Es tut mir leid. Ich – wenn ich wenigstens ein paar Bücher lesen könnte.<<

Ich vermisste das Lesen mehr denn je. Vor allem, da ich wusste, dass der Schwarm oben in den Häusern zumindest ein paar Bücher hatte. Sofort spürte ich sein Mitleid in unseren Gedanken und irgendwie machte mich das schon wieder fuchsig. Ich wollte nett fragen, wirklich, doch selbst in meinen Ohren hörten sich meine Gedanken eher wie das wütende Knurren eines Hundes an. >>Kann ich nicht wenigstens auch auf die Insel? So wie du als du deine Gehirnerschütterung hattest?<<

>>Und dann?<<, fragte er nun deutlich kühler, wegen meines nicht ganz so netten Tonfalls. >>Sitzt du da genauso fest wie hier, nur, dass noch weniger Leute vorbeikommen, um dich zu besuchen.<<

>>Wie wäre es damit, dass ich dann wenigstens mal wieder Luft atmen könnte?<<

Allein, dass ich den Gedanken aussprach, verstärkte meine Sehnsucht danach. Endlich wieder Wind in meinen Haaren spüren. Endlich wieder andere Farben als das matte grau-grün des Sees sehen. Sich einfach wieder wie ein richtiger Mensch fühlen...

Doch daraus würde wohl nichts werden, das merkte ich schon allein daran, wie sich Zacs Hand in meiner verkrampfte. >>Würdest du mal bitte von deinem Egotrip herunterkommen?<<, zischte es plötzlich in meinen Gedanken und ich spürte seine Wut heiß auflodern, was meine eigene Frustration noch weiter anstachelte.

>>Vielen Dank für dein Verständnis. Aber soweit ich das sehe, kannst du wenigstens hingehen, wohin du willst. Reden mit wem du willst. Und überhaupt: Tun, was du willst, während ich seit Monaten hier rumtreibe und nun nicht einmal das bisschen machen kann, was ich bisher gemacht habe, um nicht komplett wahnsinnig zu werden!<<

>>Ja ich weiß: Du bist so ein armes, armes Mädchen – aber könntest du nur für einen Moment mal in Betracht ziehen, dass du nicht die Einzige bist, die hier Probleme hat?<<

Ich prallte vor diesen Worten zurück, als hätte er mich geohrfeigt. Auch ohne dass er es aussprach, wusste ich, dass er die Sache meinte, die ihn schon beschäftigte seit ich ihm einen Krankenbesuch abgestattet hatte.

>>Das könnte ich!<<, zischte ich wütend zurück. >>Wenn du nur mal mit mir reden würdest!<< Der Satz hallte in unseren Köpfen nach, während sich unsere Hände krampfhaft ineinander verschränkten, nicht bereit den anderen gehen zu lassen, obwohl unser beider Wut hitzig durch unsere Gedanken raste und sich gegenseitig anstachelte.

Doch Zac schwieg. Mal wieder.

Wütend riss ich mich los und sei es nur, um mich irgendwie zu bewegen, denn ich schaffte es nicht mehr, ruhig an einer Stelle zu bleiben. Also schwamm ich zwei Meter und wirbelte wieder zu ihm herum, nur um ihn abermals in sein ausdrucksloses Gesicht zu starren, das mich fixierte. Sein Schweigen war noch schlimmer, als seine Worte.

>>Verdammt noch mal, Zac! Rede mit mir!<<, schrie ich ihn an. Mittlerweile war es mir egal, ob es jemand anderes oder auch der ganze Schwarm mitbekam. Laut Varon waren wir ja so oder so oft genug Gesprächsthema Nummer eins.

Da senkte er endlich den Blick und seine Hände zuckten kurz, als wollten sie nach mir greifen. Intuitiv schwamm ich das kurze Stück zu ihm zurück und griff nach ihnen. Jetzt war da keine Wut mehr in seinen Gedanken, nur noch Erschöpfung – und Ratlosigkeit. Ganz automatisch beruhigte auch ich mich ein Stück weit. Wie konnte man schließlich auf jemanden wütend sein, der selbst am Rand der Verzweiflung stand? Dann gab er sich einen Ruck. Ich konnte regelrecht sehen, wie sich Zacs ganzer Körper erst anspannte, er dann eine Entscheidung traf und wieder entspannte, während er mit seiner Hand unruhig durch seine Haare fuhr.

>>Ich habe einen Flussbräutigam.<<

Äh – bitte was?

Ungläubig starrte ich ihn an, während sich auch der Rest meiner Wut in schiere Überraschung auflöste. >>Wie? Du meinst... so wie bei Varon und Ricco?<<, stotterte ich völlig aus dem Konzept geworfen. Wie konnte das sein? Seit wann war er denn mit einem Kerl...? >>Ich wusste nicht, dass-<<

Ich konnte nicht weitersprechen, denn bei dem Gedanken, dass jemand anderes Zac so berührte, wie ich ihn, wurde mir regelrecht schlecht vor Eifersucht. Und überhaupt, wenn...

>>Senga!<<, durchbrach plötzlich Zacs Stimme meine sich immer schneller drehenden Gedanken. >>Nein, verdammt. Hör auf! So ist es nicht!<<

Rasch überprüfte ich meine Mauer. Sie war intakt. >>Woher weißt du, was ich denke?<<, erwiderte ich mit einem Hauch von sich anbahnender Panik, während ich gegen einen plötzlichen Fluchtimpuls ankämpfte. Doch Zacs Hand hielt mich weiterhin fest.

>>Ruhig, Liebes. Ich weiß es nicht. Aber ich spüre deine Gefühle. Und es gibt wirklich keinen Grund für Eifersucht!<<

Bildete ich mir das ein oder zuckten seine Lippen? Ein Hauch von Belustigung war definitiv in seinen Gedanken. Idiot. Mühsam schob ich meine Überlegungen beiseite und versuchte mich in Geduld. >>Willst du mir vielleicht auch sagen, was es sonst ist?<<

Wieder spürte ich seine Ratlosigkeit und wieder schwieg er, was meine Geduld schon jetzt auf eine harte Probe stellte.

>>Es ist echt schwer – ich weiß nicht, wo ich anfangen soll<<, murmelte er schließlich ausweichend, als wolle er das Thema am liebsten wieder fallen lassen. Doch das kam nicht in Frage, den ich war die ewige Ungewissheit so leid. Und mit der Information, die ich jetzt hatte, würde es definitiv nicht besser werden. In meinem Kopf sah ich noch immer, einen namenlosen Schönling an Zacs Seite, der sich vorbeugte und... NEIN! Resolut verdrängte ich diesen Gedanken wieder und ermahnte mich zur Geduld. >>Versuch es am Besten am Anfang<<, schlug ich also ganz simpel vor.

Daraufhin bekam ich das geistige Gegenstück zu einem ironischem „pfft" als Antwort. Trotzdem versuchte er es: >>Naja – Du weißt ja, dass die Beziehung zwischen normalen Menschen und Flussmenschen von jeher – nun – schwierig ist, trotz des Jelena-Raoren-Vertrages<<, begann er schließlich nachdenklich, als müsse er seine Überlegungen erst selbst ordnen. >>Meine Eltern versuchen schon seit ich denken kann, dagegen zusteuern und setzen sich für eine Art friedliches Miteinander ein.<<

Er zögerte, während er begann, sich eine meiner Haarsträhnen geistesabwesend um den Finger zu wickeln und wieder zu entwickeln, ehe er langsam fortfuhr: >>Früher wollte ich das auch. Das war einer der Gründe, warum ich mich für eine Lehre bei Menschen entschieden habe, außerhalb des Flusses. Aber jetzt ...<<

Zac seufzte abermals leise und schwieg. Als sich die Stille in die Länge zog, nahm ich die Hand, die meine Haare bearbeitete, vorsichtig in die meine, sodass ich nun die Finger beiden Hände betrachtete, während wir uns gegenüber saßen. >>Was ist passiert?<<

Daraufhin bekam ich ein deprimiertes, gedankliches Achselzucken. >>Menschen eben. Für sie sind wir immer zweite Klasse, niemals gut genug. Meine Arbeit wird immer daran gemessen, dass ich ein Flussmensch bin, nicht an der Arbeit an sich. Es gibt in den Werkstätten nur wenige, die sich länger mit mir unterhalten wollen.<<

Wieder schwieg er, während er kurz ins Nichts vor sich starrte. >>Wie anders es sein kann, habe ich erst auf der Waltz gemerkt, als keiner wusste, was ich war und mich alle gleich behandelt haben. So viel Freiheit habe ich unter Menschen nie gekannt.<<

Ich sagte nichts und wartete einfach bis er weitersprechen würde. Mittlerweile war ich mir nicht einmal sicher, ob er sich meiner noch so bewusst war oder ob er gerade einfach nur die Gedanken ordnete, die schon die ganze Zeit in Dauerschleife durch seinen Kopf kreisten. Ich kannte dieses Gefühl nur zu gut.

>>Das alles gipfelte letztens darin, dass mir einer der neuen Lehrlinge ein Brett auf den Kopf geschlagen hat. Einfach so. Stell dir das vor. Ein verdammter, pickeliger Sechzehn-Jähriger hat mir von hinten ein beschissenes Brett über den Schädel gezogen! Nur weil er Lust hatte und glaubte es mit mir machen zu können!<<

Ich zog scharf die Luft ein. Das war dann wohl der „Arbeitsunfall". >>Und den hast du verprügelt?<< Immerhin erwähnte er ja mal etwas von einer Schlägerei.

Zac nickte knapp und über unsere Verbindung spürte ich seine Wut neu aufkochen, wobei sogar ein Bild von einem höhnisch grinsenden Jungen durch seine Wand rutschte. Der war dann wohl die Ursache allen Übels. Nett sah er wirklich nicht aus.

Trotzdem musste ich fragen: >>Und... Wenn es ein... Versehen war?<< Ich konnte mir irgendwie nicht vorstellen, dass jemand aus dem Nichts heraus so etwas tat. Wozu? Welchen Sinn hätte es?

Resignierte Ironie schwappte mir in unserer Gedankenverbindung entgegen. >>Das hab ich überprüft.<<

>>Wie denn?<<

>>Ich hab ihm einen Wasserkuss gegeben und all seine Gedanken zu dem Thema ausgelesen.<< Ganz kurz zuckte eine Erinnerung durch seine Gedanken, die er mit mir teilte. Die Erinnerung an jemanden, der mit einem Brett in der Hand lauernd in der Dunkelheit stand, berauscht von dem Adrenalin und der Macht, die es mit sich brachte, auf einen bewusstlosen Körper vor sich zu blicken – Zacs Körper. Spontan löste sich jegliches Mitgefühl, dass ich vielleicht für den Jungen gehabt haben könnte, in Nichts auf.

>>Du hast ihn geküsst?<<, fragte ich also leise und meine Lippen zuckten unwillkürlich.

Er schnaubte ironisch und ein paar Luftblasen stiegen um uns herum auf. >>Ja, hätte am liebsten wieder gekotzt, aber man tut, was nötig ist, nicht wahr?<<

>>Und dann hast du ihn verprügelt?<<

>>Nein. Das habe ich vorher gemacht.<<

>>Aha.<<

>>Dann habe ich ihm gedroht, ihn an die Haie zu verfüttern, sollte er jemals wieder mich oder jemandem aus meinem Schwarm angreifen.<<

Nun, das war immerhin gründlich. Trotzdem war ich mir nicht sicher, ob das wirklich der richtige Weg war.

>>Ach ja – und ich hab den Wasserkuss nicht zurückgenommen. Deshalb ist er technisch gesehen mein Flussbräutigam.<<

Mit einem Mal spürte ich wieder seine Erschöpfung, als er sich leicht gegen mich lehnte, ganz plötzlich seine Stirn an meiner. >>Das weiß Vater noch nicht einmal<<, gestand er nach einem Moment leise.

Ich kannte noch nicht alle Schwarmgesetze und -traditionen. Trotzdem konnte ich mir vorstellen, dass das durchaus neue Schwierigkeiten mit sich bringen konnte. Trotz allem wurden Menschen nicht einfach so und aus Spaß mit dem Fluss verheiratet. Schon allein, weil sie dadurch quasi sofort zum Schwarm, zur Familie gehörten. Und wer wollte so einen Kerl schon in der Familie haben? Ich nicht.

>>Ach Zac....<<, seufzte ich und drückte seine Hand etwas fester.

>>Pff... Lass das, Du klingst wie meine Mutter.<<

>>Ach Zac....<<

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