Kapitel 4.1 - Sand unter den Füßen
(Bild: Senga an Land - by KareiKite)
62. Jir'Lore, 2145 n.n.O
Obwohl der Wettkampf bereits über zehn Tage her war, ging mir Phias Frage noch immer nicht aus dem Kopf. Weder ihre Formulierung, noch die spöttisch-neugierige Art, wie sie es betont hatte.
>>Na Senga? Was treibt dich so um, dass du mein Training vernachlässigst?<<, witzelte Ricco und ich spürte, wie ich rot wurde.
>>Tue ich nicht!<<, antwortete ich vehement, schließlich ging ich nach wie vor brav jeden zweiten Tag zu seinen Trainingseinheiten. Doch das Gespräch lenkte mich von unserem Übungskampf ab, der diese Stunde auf dem Plan stand. So nutzte er meine Unaufmerksamkeit, umging meine eh schon wackelige Deckung mit Leichtigkeit und gab mir mit der flachen Hand einen spielerischen Stoß gegen meine Seitenkiemen.
Ein unangenehmes Prickeln zog sich durch meinen Körper, als sich meine empfindlichen Kiemen unter dem Druck zusammenpressten, um sich dann flatternd wieder wie gewohnt auszurichten. Es war ein ekelhaftes Gefühl und ich hasste es, wenn er das tat. Doch zugegeben: Wenn ich mit ihm trainierte – was ich oft tat, da noch immer keiner mit mir üben wollte, wenn er oder sie nicht unbedingt musste – lernte ich am meisten. Auch wenn er oft mehr forderte, als ich konnte (>>Nur so können wir besser werden!<<).
Während ich mich von seinem Angriff wieder erholte, schwamm Ricco die anderen übenden Paare mit prüfenden Blick ab, um gegebenenfalls Verbesserungen oder hilfreiche Tipps und Tricks anzumerken. Dann war er wieder bei mir und legte mir eine Hand auf den Unterarm. Rasch zog ich meine mittlerweile doch recht zuverlässige Mauer in meinen Gedanken, um ihn auszugrenzen.
>>Also? Was ist es?<<, hakte er weiter nach und ich seufzte frustriert. So freundlich er auch war – er war so hartnäckig wie ein Kampfhund, der sich in seinen Lieblingsknochen festgebissen hatte, wenn er sich etwas in den Kopf setzte.
>>Nichts. Sei nicht so neugierig<<, grummelte ich leise und ich spürte Riccos Lächeln in meinem Kopf.
>>Gut – dann lass uns weiter machen. Als nächstes wollte ich noch einen Halsgriff demonstrieren.<< Bestürzt sah ich ihn an. Das war eine der Übungen, die ich am meisten hasste. Als ich einen Hauch seiner Selbstzufriedenheit in unserer Gedankenverbindung spürte, war mir klar, dass auch er das ganz genau wusste. >>Willst du es mir vielleicht doch verraten? Oder willst du lieber noch eine Runde mit mir trainieren?<<
Ich sah ihn mit gespielten Entsetzen an. >>Das ist kein Angebot, das ist Erpressung!<<
Ricco lachte und grinste mir ohne den Hauch eines schlechten Gewissens zu. >>Also? Ich höre?<<
Ganz kurz zögerte ich noch. Doch dann gab ich mir einen Ruck. Immerhin wollte ich offener werden, mehr Kontakte aufbauen und am besten fing ich da bei Leuten an, die ich sowieso gut leiden konnte. Also konzentrierte ich mich nun aktiv darauf, meine Mauer ein Stück weit sinken zu lassen und die Erinnerung an Phia heraus zukramen, nur diese Erinnerung, nichts weiter. Ricco brauchte nicht unbedingt sehen, wie verwirrt mich Zacs Verbeugung zurückgelassen hatte.
>>Was meint sie damit? Was ist ein „Gespür"?<<
Mit Riccos Lachen, das wie ein warmer Luftzug durch unsere Gedankenverbindung wehte, hatte ich nicht gerechnet. >>Ach das! Weißt du, dass ihr euch mit dieser Aktion zum Gesprächsthema Nummer eins im Schwarm gemacht habt?<< Er zwinkerte mir zu. >>Mal wieder.<<
Ich wurde rot. Nein. Das wusste ich nicht. >>Schön, dass mein Lebensdrama wenigstens einen Sinn hat...<<, murrte ich zurück, konnte mir ein Schmunzeln aber dennoch nicht verkneifen. Ganz so böse, wie es klang, war es nicht gemeint und dank der Gedankenverbindung wusste Ricco das auch.
>>Ach<<, seufzte Ricco theatralisch. >>Ich wünschte, Varon würde sich bei Zac was abgucken und sich von einem meiner Zurufe mal so motivieren lassen.<<
>>Ricco?<<, unterbrach ich ihn hastig, bevor er das Thema weiter vertiefen konnte. >>Könntest du meine Frage-? Bitte?<<
Noch immer amüsiert, warf mir der tätowierte Krieger einen belustigten Seitenblick zu, doch dann nickte er. >>Das ist aber gar nicht so leicht zu beantworten<<, setzte er schließlich grübelnd an und suchte nach Worten für etwas, das für ihn wohl selbstverständlich geworden war. >>Stell es dir am ehesten als eine Art Echo einer Gedankenverbindung vor. Wenn sich zwei Personen sehr nahe stehen oder auch sehr gut kennen, entwickeln sie ein Gespür füreinander. Das kann auch einseitig sein. Mütter haben so was in der Regel für ihre Kinder, Geschwister untereinander, wenn sie sich gut verstehen oder auch gute Freunde, so wie Varon und Zacery. Aber am meisten tritt es tatsächlich bei Liebenden auf.<<
Ich zog die Brauen hoch. Jetzt verstand ich, warum Phia so geklungen hatte, wie eine neun-jährige, wenn sie ihre beste Freundin fragte, ob sie nicht in den Jungen aus der Nachbarklasse verliebt sei. Wieder spürte ich Riccos Lachen.
>>Es ist dem Verliebtsein tatsächlich sehr ähnlich. Aber vielleicht noch mehr dem „miteinander vertraut sein", wenn man sich sehr gut kennt. Dementsprechend kann man so ein Gespür zueinander auch wieder verlieren, wenn man sich entfremdet. Aber egal.
Jedenfalls: Wenn du ein Gespür für jemanden hast, entwickelst du einen Art sechsten Sinn für sie oder ihn. Es fällt dir leichter, die Person zu finden. Es fällt dir leichter, die Gedanken und Beweggründe des anderen zu verstehen oder seine Handlungen vorherzusagen. Man ist empathischer füreinander. Freut sich zusammen, leidet zusammen... Manchmal geht es soweit, dass man sogar spürt, wenn der andere Schmerzen hat.<<
An diesem Punkt blinzelte er mich plötzlich an und obwohl er lächelte war etwas in seinen Gedanken seltsam. Doch wegen seiner Mauer konnte ich es nicht zu fassen kriegen. >>Was?<<, fragte ich und musterte ihn forschend.
Doch Ricco zuckte nur mit den Achseln >>Nichts. Ich glaube übrigens nicht, dass du so ein Gespür für Zac hast.<<
Ich schnaubte verächtlich. >>Gut – ich nämlich auch nicht.<<
Immerhin war ich mir ziemlich sicher, dass ich nicht in Zac verliebt war oder so. Das war lächerlich. Da setzte Ricco wieder zu einer Antwort an und ich hob abwehrend eine Hand. Das Thema reichte jetzt wirklich. >>Nebenbei: Hast du nicht noch Unterricht, den du führen musst?<<
Er schnaubte, doch schließlich ließ er mich los, um eine weitere Runde zwischen seinen Schützlingen zu drehen. Während ich ihn dabei beobachtete, rief ich mir wieder den Moment in Erinnerung, wie Zac sich geschmeidig vor mir verbeugte. Lächerlich.
Als ich ein wenig später von Riccos Training zurück zur Schneiderei schwamm, tauchte plötzlich Varons Schatten über mir auf. Intuitiv blieb ich stehen, um ihn vorbei schwimmen zu lassen. Ich hatte mich noch immer nicht daran gewöhnt, dass es absolut nichts Ungewöhnliches war, dass Leute ganz plötzlich über einem auftauchen konnten – oder sogar unter einem, wenn man nicht dicht genug am Seegrund schwamm.
Doch zu meiner Überraschung schwamm er nicht weiter zu Ricco, sondern direkt auf mich zu, während sein Kopf sich umblickte und die Gegend überblickte. Nanu? Wollte er etwa nicht mit mir gesehen werden? Mit einem bitteren Beigeschmack sah auch ich mich um. Aber es war niemand in unmittelbarer Nähe. Trotzdem rief er mich nicht an, sondern schwamm dicht genug zu mir, um mir eine Hand vorsichtig auf den Unterarm zu legen. Sofort gab ich mein Bestes, um meine Wand aufzubauen.
>>Senga, entschuldige bitte. Aber weißt du, wo Varona ist?<<
>>Nein. Worum geht es denn? Soll ich ihr was ausrichten, wenn ich sie sehe?<<
Hastig schüttelte er den Kopf. >>Lass mal, ist nicht so wichtig.<<
Was sollte das? Wollte er nicht, dass jemand wusste, dass er Varona sprechen wollte? Warum rief er nicht einfach nach ihr? Im beständigen Hintergrundrauschen der Rufe hörte ich ständig, wie irgendwelche Namen gerufen wurden und daran die Frage gekoppelt wo die eben gerufene Person steckte.
>>Na gut. Dann geh ich mal weiter suchen<<, unterbrach er meine Gedanken und ließ meinen Arm los. Doch in dem Moment wo sich seine Finger von meiner Haut lösten, ließ seine Konzentration bei seiner Wand nach. Plötzlich hatte ich ein Bild vor meinem inneren Auge und das Gefühl unbestimmter Sorge, das ich von Varon auffing.
Ich blinzelte. >>Varon – was?<<, rief ich ihm zu, doch er war schon am Wegschwimmen.
>>Bis später, Senga!<<
Ich starrte ihm sprachlos hinterher, während ich Varons Erinnerung noch immer im Kopf hatte: Es war ein Bild von Zac. Als Mensch. Mit einem leichten Schweißfilm auf der Stirn und bleich wie der Tod selbst. Was war das? War was mit Zac nicht in Ordnung?
Das Bild, das durch Varons Mauer gesickert war, ging mir nicht aus dem Kopf. Zac hatte furchtbar ausgesehen. Ob ihm etwas passiert war? Oder war es eine alte Erinnerung? Aber warum sollte es Varon dann so aufwühlen? Und was hatte Varona damit zu tun?
Es ließ mir den ganzen Nachmittag keine Ruhe. Schon zum dritten mal stach ich mir heute in den Finger und mein Blut quoll langsam als dünner, grüner Faden daraus hervor. Einen Moment lang beobachtete ich das Rinnsal fasziniert. Es war noch immer befremdlich: Hier auf dem Grund des Sees gab es keine roten Farben mehr, weshalb natürlich auch mein Blut ebenso wie meine Haare grünlich schimmerte. Doch da erfasste eine leichte Strömung meine Blutstropfen und hastig hielt ich den Stoff den ich gerade bearbeitete, beiseite, damit die Strömung mein Blut nicht hinein spülte. Die Bewegung musste Lisa aufgefallen sein, denn mit ein paar kurzen Schlägen ihrer Paddelfüße war sie bei mir und nahm mir mein Nähzeug rigoros aus der Hand.
>>Es reicht, Senga<<, rief sie mir zu, ohne mich zu berühren. Mich wunderte das nicht. Außer Varona ging niemand mehr eine Gedankenverbindung mit mir ein und wenn, dann nur zögerlich. >>Wenn ich dich weiter arbeiten lasse, bringst du dich noch aus versehen mit dieser Nadel um. Mach Schluss für heute.<<
>>Aber-<<
>>Nein. Mach Pause. Geh dich ablenken. Helf' in der Küche. Schlaf etwas oder geh trainieren, was du willst. Aber Arbeiten tust du heute nicht mehr.<<
Damit drehte sie sich um und ich war entlassen.
Schlafen. Ich schnaubte ironisch und ein paar verräterische Bläschen stiegen von meinen Kiemen auf. Was gäbe ich für eine Nacht ohne Alpträume! Ob man mir meine Erschöpfung mittlerweile ansah? Bestimmt. Zögerlich begann ich mit dem Aufräumen meines Arbeitsplatzes und überlegte, was ich mit der Zeit anfangen sollte.
Am liebsten würde ich Varona nach Zac fragen.
Aber ich wusste immer noch nicht, wo sie war. Vielleicht würde sie antworten, wenn ich sie laut genug rief? Immerhin schwebte beständig ein gewisses Hintergrundrauschen an gerufenen Nachrichten durch den See. Ob sie es hören würde? Ich zögerte. Allem in mir widerstrebte es, unnötig Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Wieder sah ich Varons Erinnerung vor mir. Ging es mich überhaupt etwas an? Zac und ich hatten ja nicht mehr wirklich was miteinander zu tun – abgesehen von der Tatsache, dass er mich hierher geschleppt hatte. Aber andererseits: Wenn es ihm nicht gut ging, dann wollte ich das wissen.
>>Varona?<<, rief ich laut, war mir aber nicht sicher ob es laut genug war. Also noch mal: >>VARONA!!<< Lauter konnte ich nicht.
Ich wartete und lauschte konzentriert auf das, was gerade von unterschiedlichsten Stimmen durch den See gerufen wurde.
>>Dora! Pass doch auf!<<
>>Wo sind die verdammten Frösche?<<
>>Maaamaaa! MAAAMAAA!<<
>>Du musst links lang!<<
Und ganz plötzlich bekam ich eine Antwort: >>Varona ist bei der Perlenzucht.<<
Das war an der Meermündung, fast am anderen Ende des Sees. Kein Wunder, dass sie mich nicht gehört hatte.
>>DANKE!<<, brüllte ich zurück ohne zu wissen, wer mir geantwortet hatte und machte mich auf dem Weg.
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