Kapitel 3.1 - Der Wettkampf

(Bild: Zacery in Flussmenschengestalt by KareiKite)


51. Jir'Lore, 2145 n.n.O

Gedankenverloren blickte ich auf das Seegrasfeld um mich herum – eines von dutzenden, die vor allem in den Flüssen lagen, die den See des Schwarms mit Wasser speisten, ehe er ins offene Meer mündete. Wozu brauchten Flussmenschen eigentlich solche Mengen an Seegras?

Plötzlich spürte ich eine Hand in meinem Rücken und zuckte zusammen. Augenblicklich versuchte ich, meine Wand hochzuziehen, doch ich spürte Varona trotzdem in meinem Verstand, meine letzte Überlegung mitverfolgend.

>>Zum einen, weil wir ziemlich viel daraus herstellen. Aber vor allem, weil sie den Sauerstoff liefern, den wir brauchen, um im Wasser am Leben zu bleiben.<<

Ich stöhnte. Seit sieben Tagen übte ich nun schon mit Varona, eine Mauer in meinem Kopf zu ziehen und ich fand nicht, dass ich nennenswerte Fortschritte gemacht hatte.

>>Sei nicht so hart mit dir, Senga<<, tröstete mich Varona. >>Das war auch ein Überraschungsmoment aus dem Hinterhalt. Du wirst wirklich besser. Du musst nur noch lernen, in deinem Unterbewusstsein zu verankern, dass diese Wand immer aufrecht gehalten werden muss.<<

Genau das meinte ich. Sie hätte das gar nicht mitkriegen dürfen. Frustriert starrte ich auf das Seegrasfeld um uns herum, wo uns Sirek hingeschickt hatte, damit wir ein paar Netze voll von dem Zeug pflückten. Was auch immer er damit vorhatte. Ich wollte es eigentlich gar nicht so genau wissen, solange es hinterher schmeckte – und das tat es meistens.

>>Oh die Rezepte sind gar nicht so schwer. Du musst nur...<<, begann sie, als ihre Hand von meinem Rücken zu meinem Unterarm rutschte. Dabei ließ sie ihr Netz offen in der anderen Hand baumeln, damit Suriki ein paar Stengel Seegras hineinschieben konnte, die der Fisch zuvor abgerissen hatte.

>>Ah! Nein!<<, wehrte ich sie rasch ab. >>Ich will es wirklich nicht wissen!<< Es war schon schlimm genug, dass ich mich halbwegs an rohen Fisch und Froschschenkel gewöhnt hatte.

Varonas Lachen hallte in meinem Geist wieder und ich seufzte erneut. Sie war mir innerhalb dieser kurzen Zeit so vertraut geworden, wie andere Menschen es mein ganzes Leben lang nicht waren. Vielleicht weil Varona ihre Gedanken und Gefühle kaum abschottete. Hatte das Zac nicht einmal gesagt? Dass er unter normalen Menschen die Nähe vermisst, die mit der Gedankenverbindung kommt? In dem Moment hatte ich das erste Mal den Hauch einer Ahnung, was er tatsächlich damit gemeint haben könnte.

>>Oder ich bin einfach nur eine unglaublich liebenswerte Persönlichkeit?<<, schlug Varona mir mit einem gewinnenden Lächeln vor. Dabei entblößte sie übrigens eine Reihe äußerst menschlich wirkende Zähne – und nicht die spitzen haifischartigen Reißer, die die Flussmenschen hatten. Ob Zac auch solche gruseligen Zähne hatte?

>>Gewiss. Warum sollte es bei ihm anders sein?<<

Die Antwort wurde begleitet von der Erinnerung an einen kleinen Flussmenschen-Jungen mit Zacs Augenflächen, der tatsächlich lachte – mit genau diesen spitzen Zähnen im Mund. Verblüfft starrte ich auf diese Erinnerung. War das wirklich...?

>>Zac hat sich erst spät das Lachen abgewöhnt<<, bestätigte Varona meine Vermutung und ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Doch irgendwie bekam ich das Bild nicht mehr aus meinem Kopf heraus.

Immer noch irritiert konzentrierte ich mich wieder auf meine Mauer. Die Grundlagen dafür waren tatsächlich recht einfach. Die Schwierigkeit war, die Konzentration aufrecht zu halten, damit diese dumme Wand immer da war. Es war wie doppeltes Denken. Ein Gedanken immer bei der Mauer, die anderen auf das Gespräch fixiert. Das Schlimmste war, dass es immer schwerer wurde, diese Wand stabil zu halten, umso näher man seinem Gesprächspartner stand.

>>Ich glaube nicht, dass ich das je schaffen werde<<, dachte ich wieder frustriert und Varona drückte meinen Arm etwas fester, um mir Mut zu machen.

>>Das wird schon. Jemanden, der dich nicht kennt, könntest du schon ausschließen.<<

Solange er nicht aktiv versucht, deine Mauer zum Einsturz zu bringen', dachte sie und es überlief mich kalt. Sie meinte Els. Da Varona wie versprochen noch immer keine absolut undurchdringliche Wand zwischen uns zog, bekam ich ihre Gedanken meist eins zu eins mit – und sie war der festen Meinung, dass Els genau das getan hätte, wäre ich damals im Stande gewesen, eine Mauer zu ziehen. Ich hätte nichts tun können, konnte es immer noch nicht. Ich war noch immer so wehrlos wie ein Kind.

>>Senga, das bist du nicht<<, hörte ich Varonas Gedanken sanft in den meinen widerhallen. >>Vergiss nicht: Du konntest ihn abschütteln, um nach Hilfe zu rufen.<<

>>Das war ein dummer, glücklicher Zufall gewesen.<<

>>Das sind die Siege oder Niederlagen fast aller Kämpfe. Das wirst du nachher bei den Wettkämpfen sehen.<<

Ach ja – das hatte ich ganz vergessen: nach dem Mittagessen fanden die schwarminternen Wettkämpfe statt. Ich war mir nicht einmal sicher, ob ich mir das wirklich ansehen wollte.

>>Du musst, das weißt du? Diesem Ereignis beizuwohnen ist obligatorisch für alle, wenn man nicht gerade schwerkrank in der Praxis liegt.<<

Innerlich seufzte ich und nickte, während ich die letzten Stengel Seegras in mein Netz stopfte. Das würde sicher reichen. Varona hatte ihre zwei Netze auch schon gefüllt. >>Komm, lass uns zurück gehen, bevor Sirek noch ausflippt, weil wir zu lange brauchen.<< Varona kicherte und lies mich los, um ihre Netze sicher zu verschließen. Auch sie wusste aus eigener Erfahrung, wir grantig der sonst so liebenswerte korpulente Flussbräutigam werden konnte, wenn seine Küchenabläufe nicht reibungslos liefen.

Zusammen machten wir uns auf den Weg zurück durch die drei steinernen Statuen von Lazar, die den Eingang zum See markierten und dann weiter zum Herzplatz. Ich beeilte mich jetzt mehr, denn ich wollte noch ein paar Handgriffe in der Schneiderei schaffen, wenn ich wegen diesem dummen Wettkampf am Nachmittag schon keine Zeit dazu hatte.

Innerlich seufzte ich wieder bei dem Gedanken an diese Zeitverschwendung. Aber notfalls würde ich einfach abwesend starrend daneben schwimmen, während ich meine mentalen Übungen zum Wände bauen machte. Denn egal, wie schwer es war, das zu lernen: Nie wieder wollte ich zulassen, dass jemand so tief in meinen Gedanken wühlen konnte.


Umso höher die Sonne stieg, desto größer wurde die Aufregung im See bis sie fast schon greifbar im Wasser waberte. Seit Tagen schon veränderten sich die laut gerufenen Botschaften zusehends. Normalerweise war der See beständig von alltäglichen Zurufen erfüllt, die alle im Schwarm hörten. Es war wie ein Radio, das immer eingeschaltet war und entweder man beachtete es oder eben nicht. Am Anfang fand ich das seltsam, doch mittlerweile hatte ich mich daran gewöhnt, genauso, wie man sich an morgendliches Vogelgezwitscher gewöhnt und es irgendwann nicht mehr wahrnimmt.

Doch jetzt war es anders. Die Nachrichten waren im Unterton herausfordernder geworden, voller spielerischer Drohungen und neckender Beleidigungen. Und immer wieder verwiesen sie einander auf den Wettkampf. Überraschenderweise nahmen sich da die Männer und Frauen der Flussmenschen nichts. Sie alle fieberten dem Ereignis gleichermaßen entgegen, wenn sie ihre Kräfte und ihr Geschick messen konnten.

Innerlich schüttelte ich den Kopf und schwamm Richtung Herzplatz, wo demnächst die ersten Kämpfe stattfinden würden. Soviel Aufregung um ein bisschen Prügel. Aber ich wollte mich nicht beklagen: Schließlich mussten Flussbräute und -bräutigame nur zusehen und nicht mitmachen, wenn sie nicht wollten. Im Gegensatz zu allen Flussmenschen zwischen vierzehn und fünfzig, deren Teilnahme grundsätzlich und ausnahmslos verpflichtend war.

Suchend blickte ich mich nach Varona um. Immerhin war sie die einzige, mit der ich mich tatsächlich unterhielt. Mit allen anderen traute ich mich nach wie vor kaum zu sprechen, obwohl meine Mauer von Tag zu Tag stabiler wurde. Doch statt Varona fand ich Zacery, wie er kaum zehn Meter von mir entfernt im Wasser schwebte und in eine Unterhaltung mit Uhna vertieft schien. Ich hatte ihn seit der Schwarmversammlung nicht gesprochen und noch weniger gesehen als vorher. Dass er jetzt so unverhofft vor mir auftauchte, ließ mich innerlich zusammenzucken.

Da ruckte sein Kopf nach oben und in meine Richtung. Er hatte mich gesehen. Am liebsten hätte ich einfach so getan, als hätte ich ihn nicht bemerkt, doch das wäre eine so offensichtliche Lüge gewesen, dass nicht einmal die Seeschnecken mir das geglaubt hätten. Also tat ich das Nächstbeste, was mir einfiel: Ich nickte ihm grüßend zu. Zu meiner grenzenlosen Überraschung erwiderte er meinen Gruß. Dann wendeten wir uns wie abgesprochen gleichzeitig voneinander ab. Das war die beste Kommunikation, die wir in den vergangenen Zyklen hinbekommen hatten.

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