Kapitel 2.1 - Varona

(Bild: Varona im Wasser - by KareiKite)


41. Jir'Lore, 2145 n.n.O

Ich schaffte es noch einen halben Tag, dann kam ich um Varona nicht mehr herum.

Ich füllte gerade das Buffet auf, denn ich hatte mir in den letzten Tagen angewöhnt, in der Küche zu helfen, wann immer ich mir Essen holte. Das war besser als kauend in der Ecke zu sitzen und zu grübeln. Außerdem war es eine gute Ausrede, morgens früher aufzustehen – alles, was mich von den Alpträumen fern hielt, war mir willkommen. Sirek und die zwei anderen Küchenverantwortlichen schien es jedenfalls nicht zu stören. Im Gegenteil: Sie antworteten auf meine gerufenen Fragen ohne mich zu berühren, zeigten mir das ein oder andere und ließen mich sonst in Ruhe.

Routiniert befüllte ich also die Buffet-Schalen aus den großen Vorratskrügen. Heute gab es gefüllte Frösche – es klang ekliger als es war, zumindest wenn sie nach Flussmenschenrezept zubereitet wurden. Während ich penibel darauf achtete, dass überall die Deckel an Ort und Stelle saßen, hörte ich sie das erste Mal: >>Seeengaaa!<<

Es schallte durch den See und mein Kopf fuhr hoch. Suchend blickte ich mich um. Vor allem kannte ich die Stimme nicht. Vielleicht hatte ich es mir nur eingebildet?

>> Seeeenngaaa!<<

Doch keine Einbildung. Ich blickte mich wieder um, wieder erfolglos. Das Ding mit dem Rufen war, dass die Richtung der Quelle nicht bestimmt werden konnte. Es war kein Schall, der sich von einem bestimmten Punkt aus ausbreitete und schließlich abebbte. Sondern Gedanken, die sich direkt in die Köpfe des Schwarms übertrugen und in einem bestimmten Radius von allen gleichermaßen gehört wurden. Mal war der Radius größer, mal kleiner, aber weniger als 5 Meter war eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Und gerade gab sich jemand größte Mühe, den maximalen Radius auszuschöpfen.

>>Seeengaaa!<<

Mittlerweile musste das wirklich jeder im See gehört haben. Doch ich konnte noch immer niemanden sehen, zu dem die Stimme gehören könnte. Trotzdem antwortete ich nicht. Zum einen, weil ich für meinen Teil nicht so rumschreien wollte, zum anderen weil mir nach wie vor nicht nach Reden zumute war.

>>Seeengaaa!<<

Endlich konnte ich in der Ferne etwas erkennen: Eine kleine, helle Gestalt, die langsam auf mich zukam. Je mehr ich sah, desto mehr musste ich blinzeln. Die Gestalt war nicht nur wirklich klein. Sie war auch wirklich anders. Geradezu schillernd in den trüben, immerwährenden blau-grünen Farben des Sees. Sie – Ich war mir nicht einmal sicher, ob es wirklich eine „sie" war – war klein, mit kurz geschnittenen, hellblonden Haaren, die es irgendwie schafften, nicht von der Strömung des Sees betroffen zu sein und wie frisiert eng am Kopf anlagen. Und dann war da ihre Fischflosse mit der sie im Gegensatz zu den Bräuten und Bräutigamen mit ihren Froschpaddelfüßen wie ein Flussmensch aussah. Irgendwie. Aber irgendwie auch nicht. Und wenn doch, dann hatte ich bisher noch keinen Flussmenschen wie sie gesehen.

Ganz generell hatte ich noch nie einen Flussmenschen gesehen, der so hell war. Ihre Haut war bleich, fast schon weiß und ihre weit ausladenden, in der Strömung sanft flatternden Flossen waren tatsächlich so weiß wie Schnee. Nicht einmal das trübe grau-blau des Seewassers konnte diese Tatsache ändern. Was das schattige Wasser zu verdecken versuchte, wurde vom Sonnenlicht, das sich hell funkelnd in ihren weißen Schuppen brach, geradezu atemberaubend unterstrichen.

Doch es war nicht nur die Farbe, die so anders war, als alles, was ich in dieser tristen Welt bisher gesehen hatte. Auch ihre Schwanzflosse war beeindruckend. Sie sah kaum noch wie eine Flosse aus, die in diesem Schwarm zweckmäßig schmal und stromlinienförmig geschnitten waren. Sie wirkte viel mehr wie eines dieser fulminanten, in alle Richtungen ausladenden Kleidern, die man von Bildern vergangener Zeiten kennt. Riesig überragte sie den restlichen, grazilen, schmalen Körper, umtanzte ihn wie ein Hochzeitskleid die Braut umspielt und ihr schmeichelt.

Dazu ihr Gesicht. Nein. Sie konnte einfach kein Flussmensch sein. Die feingeschnittenen Züge waren so ausdrucksstark und gläsern wie die eines Kindes. Und als der Blick ihrer hellen blauen Augenflächen letztlich auf mich fiel, sah sie äußerst pikiert aus.

>>Da bist du ja! Ich hab den ganzen See nach dir abgesucht, ehrlich: Du hättest ruhig mal antworten können<<, rief sie mir zu und ergriff meine Hand.

Ich war noch immer so damit beschäftigt, diese leuchtende Gestalt anzustarren, dass mich das völlig überrumpelte. Im doppelten Sinne, denn ich hatte nicht damit gerechnet. Kaum einer nahm noch eine Gedankenverbindung zu mir auf und nun so plötzlich wieder damit konfrontiert zu werden, erwischte mich kalt. Aber noch mehr als das brachte mich die Verbindung an sich aus dem Konzept – genau wie die Fremde selbst war auch ihre Art zu Kommunizieren anders als alles, was ich bisher hier erlebt hatte.

Es dauerte einen Moment bis ich den Unterschied begriff: Im Gegensatz zu allen anderen hatte sie keine Wand in ihrem Kopf. Jeder ihrer Gedanken lag so offen vor mir, wie meine vor ihr, ebenso ihre Gefühle, die permanent zwischen Sorge und schierer Lebensfreude hin und her zu schwanken schienen. Noch immer überfordert starrte ich die Fremde an, während die Fragen in meinem Kopf kreisten und sich gegenseitig überlagerten. Schließlich entschied ich mich für die Naheliegendste: >>Wer bist Du?<<

Daraufhin spürte ich eine Explosion guter Laune in ihren Gedanken, die wie ein Feuerwerk durch meinen eigenen trüben Geist fegte. >>Ich bin Varona.<<

>>Aha. Das hätte ich mir denken können.<<, antwortete ich noch immer völlig perplex und runzelte die Stirn, um das Nächstbeste zu diesem seltsamen Gespräch beizusteuern, was mir einfiel: >>Bist du irgendwie mit Varon verwandt?<<

Wieder spürte ich ihr unterdrücktes Gelächter und kurz brodelte eine alte Erinnerung von einem schreienden Baby in ihr hoch. >>Naja – wenn überhaupt mehr eine Art entfernte, angeheiratete Tante. Ich habe bei seiner Geburt geholfen. Er lag quer im Bauch. Das war nicht einfach. Hinterher hat Lachsa – seine Mutter – beschlossen, ihn nach mir zu benennen.<<

Warme Zuneigung und bruchstückhafte, unappetitliche Bilder dieser Geburt begleiteten die Erklärung. Urgh – Das waren mehr Details, als ich wollte. Bei meinem Entsetzen flackerte ihre Freude durch meinen Geist. Super. Wieder sah ich sie an und stutzte. Sie hatte Varon auf die Welt geholfen? Wie alt war sie? Sie sah nicht älter als Mitte zwanzig aus.

Meine Überlegungen lösten bei ihr eine ganze Kaskade von Assoziationen, Erinnerungen und Gegenüberlegungen aus, die ich so schnell nicht zuordnen konnte. Überhaupt war es sehr anstrengend, all diese Gedanken und Gefühle so ungefiltert von ihr abzubekommen. Umso länger ich mit ihr verbunden war, desto schwerer fiel es mir, meine Gedanken gegen ihre abzugrenzen. War es für andere auch so kraftraubend, sich mit mir zu unterhalten? Warum hatte mir nie jemand gesagt, wie anstrengend das war?

Vermutlich weil sie wissen, wie aufbrausend und ablehnend Senga reagiert hätte', hörte ich Varonas Überlegung als plötzliche klare Antwort auf die meine. Ich warf ihr einen scharfen Blick zu. Aber konnte ich ihr wirklich ihre Gedanken vorwerfen, nur weil sie mir nicht passten? Es war ja nicht so, dass sie direkt etwas gesagt hätte. Es war verwirrend.

Und sie setzte noch einen drauf: >>Aber um deine erste Frage zu beantworten: Das liegt daran, weil ich nicht ganz menschlich bin – also eigentlich gar nicht. Ich bin Earis.<<

Wieder blinzelte ich und starrte sie an. Eine Earis?

Natürlich hatte ich schon von den Eary gehört – in der Schule: Sie waren die „anderen Bewohner". Ein insektenartiges Volk, gänzlich verschieden von den Menschen, das zurückgezogen in ihren Wäldern oder Bergen lebte. Sie beanspruchten sogar zwei der sieben großen Inseln für sich, aus denen der Inselkontinent Karather bestand.

Deshalb gab es in der Regel kaum Kontakt zwischen den Menschen und den Eary, solange die Grenzen gewahrt blieben – und diese Völker waren zu mächtig, zu gefährlich, als dass normale Sterbliche es riskieren könnten, diese Grenzen nicht zu respektieren.

Wieder musterte ich Varona.

So gefährlich sah sie gar nicht aus. Und so insektenartig auch nicht. Hieß es nicht, Eary hätten immer einen Begleiter bei sich?

Varona schien meinen Vergleich mit den Insekten nicht ganz so witzig zu finden. >>Das kannst du vielleicht besser beurteilen, wenn wir uns mal an Land gegenüberstehen<<, erklärte sie leicht pikiert. >>Schließlich bin ich den Gegebenheiten des Flusses hier angepasst. Und was den Begleiter angeht: Darf ich vorstellen? Das ist Suriki.<<

Ein winzig kleiner Fisch schwamm plötzlich aus ihren Haaren hervor, genauso weiß, wie sie und mit einer für seine Größe genauso ausladenden Schwanzflosse. Verblüfft starrte ich auf dieses Vieh. Ich hatte etwas Größeres erwartet.

>>Nun – er ist auch nicht sonderlich beeindruckt von dir.<<

Innerlich seufzte ich. Da wären wir wieder bei dem ungefragten Gedankenlesen. Konnten wir dieses skurille Gespräch nicht endlich beenden?

>>Senga<<, setzte die Earis vorsichtig an. >>Ich habe davon gehört. Wir können das üben, weißt du? Wie du eine Mauer in deine Gedanken ziehst.<<

>>Ich-<< Dann würde ich mit ihr ständig eine Gedankenverbindung eingehen müssen. Alle meine Gedanken, alle meine Gefühle...

>>Ich werde offen für dich sein. Gleichberechtigt. Und ehrlich: Es würde viele deiner Probleme lösen.<<

Am liebsten hätte ich mich losgerissen, um davonzuschwimmen, aber ihr Griff war für so eine kleine, zierliche Person, wie sie es war, erstaunlich stark. Sie ließ nicht locker und würde sich auch nicht abwimmeln lassen. Das spürte ich unter all ihrer guten Laune ebenso deutlich, wie die Sorge, die jede ihrer Überlegungen begleitete.

>>Warum?<<, murmelte ich matt, von ihrer Entschlossenheit geradezu überwältigt.

>>Weil du eine Freundin brauchst. Und weil Zacery ein einziger Trauerfisch ist. Ist nicht zum aushalten, wenn man mit ihm redet.<<

Zacs Erwähnung knotete meinen Magen wieder zusammen und ich spürte eine Welle ihres Mitgefühl zu mir herüberschwappen, gefolgt von einem einzigen, alles überlagernden, überraschten Gedanken: ‚Sie ist ja auch traurig...'

Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte, weder auf das, was sie offen ausgesprochen noch auf das, was sie gedacht hatte. Ich wusste nicht einmal, ob ich so etwas wie Mitleid für Zac empfand oder nicht – vor allem, wenn ich an unsere letzten „Gespräche" dachte oder die Tatsache, dass ich nicht einmal hier wäre, hätte er mich nicht mitgeschleppt. Varona seufzte. >>Ich weiß, so eine Opferrolle ist komfortabel oder?<<

Ich blinzelte, während mein Hirn verarbeitete, was es da gerade gehört hatte. Dabei spürte ich keine Böswilligkeit in ihren Gedanken. Für sie war es eine Beobachtung, eine Schlussfolgerung, keine Beleidigung. Das machte es fast noch schlimmer.

>>Was bildest du dir ein?<<, fauchte ich sie an. >>Du redest ein Mal mit mir und glaubst, du wüsstest alles? Als nächstes sagst du mir, es sei meine Schuld, dass mich Zac entführt hat und ich mich jetzt bitte nicht so aufführen soll?<<

Das hatte ich schon öfters gehört – nur netter verpackt. Die Erinnerung an solche Gespräche machten mich erst recht wütend.

>>Senga bitte, es war nicht böse gemeint.<<

Ich spürte wie meine Worte sie verletzten und augenblicklich tat es mir leid. Sie konnte ja nichts dafür. Ich sollte mich nicht an ihr auslassen.

>>Nicht schlimm<<, antwortete die Earis auf mein unausgesprochenes Bedauern, das sie genauso fühlen musste wie ich das ihre. >>Du hast ja Recht. Wir kennen uns nicht, aber – bitte glaub mir, dass ich dir helfen möchte.<<

Ich glaubte ihr.

Wie könnte ich nicht, wenn ich die Wahrheit direkt vor mir sah? Sie zog noch immer keine Wand. Aber – Warum? Dachte ich und hörte das Echo meiner Frage in ihrem Geist. Es war verwirrend, als würde man doppelt denken.

Plötzlich blubberte aus den Tiefen ihrer Erinnerungen ein Lachen heraus, so unbändig und laut, wie es eigentlich nur Kinder können. Und das Gesicht eines Flussmenschen, das sich in pure Freude verzerrte. Überrascht blickte ich auf die Erinnerung – und auf die gruseligen, spitzen Zähne, die dieses Lachen freilegte. Ich hatte noch nie ein so lebhaftes Flussmenschen-Gesicht gesehen. Ich hatte diesen Flussmenschen noch nie gesehen.

>>Wer ist das?<<

Tiefe Trauer flutete zu mir zurück und augenblicklich bereute ich meine Frage. Doch Varona lächelte matt und schüttelte den Kopf. >>Karp. Ein Freund. Er war ... einmalig.<<

Sie trauerte um ihn. Vermisste ihn. Ich erkannte diese Art der Trauer. Sie vergeht nie und wird schließlich ein Teil des Selbst, sodass man einen Weg findet, mit ihr zu leben – aber niemals wieder ohne sie. Ich hatte das jahrelang bei Hannah und Papa gesehen.

Aus einem Impuls heraus, zog ich sie in meine Arme. Um sie zu trösten. Um ihre Trauer zu teilen. Und vielleicht, ganz vielleicht wirklich eine Freundin zu finden.

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