Kapitel 11.1 - Täuschung

(Bild: Epoh und Sumsa - zwei Charaktere aus dem ersten Teil, die ich sehr vermisse, aber die derzeit leider keinen Platz in der Geschichte haben.  - by KareiKite)


06. Tas'Saru 2146 n.n.O.

Seitdem ich Papas Nachricht bekommen hatte, wusste ich nicht, wohin mit mir. Ich konnte mich kaum länger als ein paar Minuten auf irgendetwas konzentrieren. Immer wieder trudelten meine Gedanken zu dem Zettel zurück. Ich hatte mich nicht dazu überwinden können, ihn Zac zu zeigen. Stattdessen hatte ich das verräterische Ding noch am gleichen Tag bei erster Gelegenheit unauffällig entsorgt – im Feuer eines Grills. Der Inhalt ging mir trotzdem nicht aus dem Kopf.

Das Treffen war morgen Abend.

Sollte ich doch jemanden davon erzählen? Aber würden sie mich gehen lassen? Ich durfte nicht einmal einen verdammten Brief schreiben, warum sollte mir mein Schwarm dann erlauben, meinen Vater zu treffen? Mürrisch fuhr ich mit meiner Arbeit fort, ein Loch in einer Hose zu flicken. Der Faden war mir mittlerweile schon drei mal gerissen.


Noch immer drehten sich meine Gedanken in den immer gleichen Kreisen, als ich Zac auf mich zu schwimmen sah. >>Na, Liebes?<<, fragte er, als er mir sanft mit einer Hand über die Wange strich, das Unter-Wasser-Äquivalent zu einem Kuss. Trotz des Chaos in meinem Kopf beruhigte mich diese Geste und ich schmiegte intuitiv meine Wange in seine Hände.

In unserer Gedankenverbindung spürte ich sein schwaches Lächeln, das ich halbherzig erwiderte und eine leise Sorge schwappte von seiner Seite her zu mir herüber. >>Alles gut, Senga? Du wirkst die letzten Tage etwas abwesend?<<

Einmal mehr war ich dankbar für meine mittlerweile stabile Wand, die meine Gedanken schützte. Ich wusste, dass er sich Gedanken machte, weil ich die letzten zwei Tage wieder auf Distanz gegangen war. Doch ich konnte nicht anders. Die Sätze auf dem Zettel ließen mich nicht los.

>>Es ist nichts<<, antwortete ich beschwichtigend. Ich war eine schlechte Lügnerin. >>Die anstehende Schwarmversammlung macht mich nervös. Vor allem nach dem letzten Mal.<< Immerhin nicht ganz gelogen, auch wenn es gerade nicht mein Hauptproblem war. Sein Verständnis floss durch unsere Gedankenverbindung und sofort hatte ich ein schlechtes Gewissen wegen meiner Lüge.

>>Ach Liebes... Mach dir keinen Kopf. Sie werden nicht nein sagen. Dieses Ritual ist nicht viel anders als das Erste – nur, dass du diesmal dein "Ja ich will" dazugeben musst."

Ich spürte sein Grinsen in meinen Gedanken, obwohl sein Gesicht weiterhin unbewegt blieb. Irgendwie brachte das sehr gemischte Gefühle in mir hoch – vor allem machte es mich nun tatsächlich nervös. Wollte ich wirklich den Schwarm als meine Familie akzeptieren? Konnte ich diese Entscheidung überhaupt treffen? Oder gehörte ich nicht schon längst dazu?

>>Grübel nicht so viel<<, tröstete mich Zac und strich mir wieder sanft über die Wange, um sich von mir zu verabschieden. >>Ich muss jetzt zur Wache an die Mündung. Wir sehen uns später!<<

Und damit war ich mit meinen Gedanken wieder allein.


Aber nicht für lange.

Nur wenig später gesellte sich Varon zu mir. >>Senga! Hast du einen Moment Zeit?<<

Ich sah zu der Hose in meinen Händen, die ich noch immer leidlich reparierte und nickte. Ich hatte mittlerweile eh das Gefühl, dass ich sie mehr kaputt machte als alles andere. >>Was gibt es?<<

>>Ich wollte fragen, ob du Lust hast, den Kindern von deinem Dorf zu erzählen?<<

Ich blinzelte überrascht. Ich wusste ja, dass Varon mit Erziehung und Betreuung der kleineren Kinder betraut war, aber warum sollte ich ihnen was erzählen? >>Ja, kann ich machen. Aber – wozu?<<

Plötzlich spürte ich ein Stechen in meinem Kopf. Intuitiv rieb ich mir mit den Händen über die Stirn und hörte einen Moment lang nicht auf Varons Antwort. Erst, als sein Griff etwas fester wurde und ich seine Besorgnis spürte, wurde ich wieder aufmerksamer, doch da ließ der Schmerz auch schon wieder nach. >>Senga? Ist alles gut?<<

Ich nickte abgelenkt. >>Ja. Nur irgendwie Kopfschmerzen. Aber es geht schon wieder.<< Wieder bei der Sache, erwiderte ich seinen besorgten Blick. >>Was sagtest du gerade?<<

>>Ich meinte, dass ich möchte, dass die Kinder eine Vorstellung davon bekommen, was es noch alles außerhalb des Sees gibt. Dazu wollte ich ab nächster Woche jeden Tag eine Person einladen, damit er oder sie ein bisschen was erzählt<< Neugierig sah er mich an. >>Was würdest du erzählen?<<

Uff, das war eine schwierige Frage. Ich dachte an die Umgebung meines Dorfes. Wie wir gemeinsam auf den Feldern arbeiteten, wie ich zur Schule gegangen war, die Irrlichter – ach, von denen wollte ich lieber nicht erzählen. Wie selbstverständlich kamen mir auch meine Freunde in den Sinn. Und Papa. Wieder dachte ich an diese verflixte Nachricht. Gleichzeitig bekam ich so ein Heimweh, dass ich spontan beschloss, morgen Abend zu dem Treffpunkt zu schwimmen.

>>Senga? Sicher, dass alles gut ist?<<

Ich nickte rasch und verscheuchte jegliches Grübeln an diese Nachricht aus meinen Gedanken, zumindest fürs Erste. Stattdessen wollte ich Varon sagen, dass ich sehr gern ein bisschen was über unsere Traditionen wie das Erstbaden erzählen wollte.

Doch ich kam nie dazu.

Als ich zu einer Antwort ansetzte, hörte ich einen Schrei, wie ihn nur ein Flussmensch ausstoßen kann. Ein wütender, rauer Ton, der sich für alle, die ihn hörten, wie ein Beben durch den Körper zog. Ein Kriegsschrei.

Und dann brach das Chaos aus.

Wie ein Stein, der eine Lawine auslöst, erhielt dieser Schrei plötzlich eine vielstimmige Antwort, jede einzelne genauso rau, genauso kriegerisch. Der Schwarm hatte den Ruf gehört. Und er würde Antworten.

Noch während das sonst so ruhige Wasser des Sees allein durch die schiere Menge an Schallwellen in Aufruhr geriet, folgte eine erstaunlich rationale und präzise Warnung: >>Sie kommen. Der Schwarm der Lore-Flüsse.<<

Els.

Einen Augenblick lang sah ich ihn wieder ganz deutlich vor mir, spürte seine Hände brutal um mein Handgelenk und seinen Geist den meinen durchwühlen. Doch wo ich vorher nur Angst hatte, wann immer ich an diese Momente gedacht hatte, kam nun noch ein neues Gefühl dazu: Wut. Wut darüber, dass er mich und meine Wehrlosigkeit so ausgenutzt hatte. Wut darüber, dass ich wegen ihm in manchen Nächten noch immer ängstlich aus meinem Schlaf hochschreckte. Wut darüber, dass ich selbst hier, weit weg von zu Hause, weit weg von den Irrlichtern wieder zu einem „Opfer" geworden war.

Ich schluckte schwer und schob diese Gedanken nur mit Mühe beiseite, um mich wieder auf Varon zu konzentrieren, der still neben mir schwamm und mich stumm beobachtete, seine Hand noch immer auf meiner Hand. Als er sicher war, wieder meine Aufmerksamkeit zu haben, drückte er aufmunternd meinen Handrücken. „Mach dir keinen Kopf, Senga. Schwimm zum Herzplatz. Dort treffen sich alle, die nicht kämpfen können oder dürfen. Soll ich dich begleiten?<<

Ich schüttelte mechanisch den Kopf, als Varon sich auch schon umdrehte und im Höchsttempo verschwand. Mit einem sonderbar unwirklichen Gefühl machte ich mich auf den Weg zum Herzplatz. Wir wurden ernsthaft angegriffen. Wegen Informationen, die Els gestohlen hatte. Von mir gestohlen hatte. Ein flaues Gefühl breitete sich in meinem Magen aus. Und während ich einer weiteren knappen Anweisung lauschte, wurde es noch Stärker. >>Jeder, der nicht kämpft, zum Herzplatz. Der Rest: Ostseite.<<

Mehr war nicht nötig. Alle wusste, wo die verschiedenen Waffenverstecke lagerten, gleichmäßig über den See verteilt, sodass absolut jeder sich innerhalb kürzester Zeit bewaffnen konnte.

Und wenn mein Schwarm eines hatte, dann Waffen: Harpunen, Speere, Dolche, Netze mit dutzenden widerlichen kleinen Haken darin, die sich in Haut, Kleidung und Haaren schmerzhaft verfingen – alles, was für die Kampfbedingungen unter Wasser irgendwie brauchbar war. Natürlich wusste das auch Els. Er hatte die Waffenverstecke in meinem Kopf gesehen. Doch er kannte immerhin keine der neuen Lagerorte, die seit seiner Flucht ausgewählt worden waren.


Mittlerweile war ich beim Herzplatz angelangt, wo sich alle Bewohner des Sees sammelten, die nicht kämpfen konnten oder sollten: Alte, Kranke, Kinder und ein Elternteil pro Kind, damit es im Zweifelsfall nicht als Waise aufwuchs. Und damit genug erwachsene Kämpfer bei den Schwachen waren, falls die erste Linie fiel.

Eine Waffe hatte trotzdem jeder von ihnen in der Hand, auch die Kinder. Beim Anblick dieser kleinen, entschlossen Gesichter zog sich mein Herz zusammen und wieder kam mir der Gedanke, dass das alles doch irgendwie meine Schuld war. Mit flauem Gefühl nahm ich einen Dolch entgegen und schnallte ihn mir um den Oberschenkel, genauso wie es Ricco uns wieder und wieder hatte üben lassen – inklusive der Kunst des schnellen und effizienten Dolchziehens. Mir war auch ein Speer angeboten worden, doch ich blieb beim Dolch. Im Laufe vieler Trainingsstunden hatte ich oft genug feststellen müssen, dass das die einzige Waffe war, mit der ich wirklich etwas anfangen konnte.

Und dann warteten wir.

Es machte mich schier wahnsinnig. Was, wenn wirklich jemand verletzt wurde – oder sogar starb? Ich musste mich regelrecht zwingen, diesen Gedanken zu verdrängen.

Mittlerweile wusste ich, dass der fremde Schwarm zu Fuß bis zur Ostseite gewandert und von da aus ins Wasser gesprungen war, um seinen Angriff zu starten. Jetzt kämpfte dort mein Schwarm gegen die Fremden. Aber was war mit der Westseite? Sie war ungeschützt, oder? Wenn das alles ein Ablenkungsmanöver war? Wenn der Raubzug auf die Schätze meines Schwarms erst noch kam? Schließlich lag der Eingag der Vorratstunnel näher an der Westseite.

Aus dem Impuls heraus, irgendetwas tun zu müssen, setzte ich mich in Bewegung.

Plötzlich griff eine Hand fest nach meinem Handgelenk. >>Senga! Wo willst du hin?<<, zischte Phias Stimme scharf und angespannt durch meinen Geist.

>>Zur Westseite.<<

>>Aber-<<

>>Phia!<<, unterbrach ich sie ungeduldig. >>Ich habe jedes Recht, meinen Schwarm in Kampfhandlungen zu unterstützen!<<

>>Aber-<<

>>Nein. Ich bin weder alt, noch krank, noch habe ich ein Kind<< Bedeutungsschwer sah ich auf ihren sich rundenden Bauch. Ich spürte, wie gern sie selbst ihren Schwarm verteidigen, ihre Lieben beschützen wollte. Doch im Gegensatz zu mir, war ihr das Teilnehmen an Kampfhandlungen tatsächlich verboten. Mit einem energischem Ruck löste ich mich aus ihrem Griff und schwamm davon, ehe sie auch nur versuchen konnte, mich mit weiteren Einwänden aufzuhalten.


Ich hatte mich noch nie so unwohl und so verletzlich gefühlt wie jetzt, als ich allein durch den See schwamm und die ganze Zeit auf die unterschiedlichsten Rufe lauschte, die mich von der Ostseite her erreichten. Beleidigungen, Flüche, Hilferufe, ich konnte nicht einmal sagen, ob sie von den Fremden oder meinem eigenen Schwarm kamen. Mit stetig wachsender Angst schwamm ich weiter und versuchte die ganze Zeit, meine Umgebung genau im Auge zu behalten, um fremden Flussmenschen rechtzeitig ausweichen zu können.

Bis ich die Vorratstunnel an der Westseite des Sees erreichte, sah ich niemanden. Ich konnte mir das kaum vorstellen. Vorsichtshalber suchte ich mir ein Versteck im Schatten der Felswand, nicht weit von den Tunneleingang entfernt, um die Gegend im Auge behalten zu können. Sicher war sicher.

Plötzlich schoss aus dem nacktem Stein eine Hand hervor und packte mich hart am Arm.

Entsetzt schrie ich auf.

>>Beruhige Dich, Liebes! Ich bin es!<<, zischte Zacs Stimme scharf in meinen Gedanken, obwohl ich noch immer nicht mehr als seine Hand sah, die aus dem Felsen heraus ragte. Das war nicht beruhigend. Einen Moment lang wollte ich mich weiter wehren, woraufhin eine Mischung aus Frustration und Sorge über mich herüber schwappte, während er mich unsanft in den Stein hinein zerrte. Ich kniff die Augen zusammen. Doch in dem Moment, wo mein Gesicht mit der Felswand kollidieren sollte, war da nichts. Stattdessen stand ich plötzlich einer kleinen Gruppe von Flussmenschen gegenüber, die einen losen Kreis bildeten. Sie waren vorher definitiv nicht da gewesen. Verwirrt drehte ich mich um. Da wo die Wand sein sollte, hing nur ein seltsames Flimmern im Wasser, als würde man in der Mittagshitze eines extrem heißen Sommertages quer über einen zugepflasterten Marktplatz gucken.

>>Was...?<<

>>Eine Wasserillusion<<, beantwortete Zac meine Frage, da er mich noch immer am Handgelenk festhielt und er nickte zu Varon, Orell und Alosa, die sich konzentriert an den Händen hielten, fast wie bei einer Schwarmversammlung. Bis auf Sina und Gropp waren alle drei „reine Flussmenschen" und ihre Fähigkeiten Wassermagie zu wirken waren dementsprechend stärker, als bei anderen Flussmenschen. Wenn sie diese Kräfte auch noch bündelten, schienen sie mehr tun zu können, als ich bisher dachte.

Doch da riss mich Zacs Unmut, den ich deutlich in meinem Geist spürte, wieder aus meinen Gedanken: >>Aber bei Lore: Was genau tust du hier eigentlich?<<

>>Ich – ich dachte, der Angriff könnte eine Ablenkung sein<<, stammelte ich überrumpelt. >>Und, dass sie heimlich hierher kommen, um die Tunnel zu plündern.<< Offenbar war ich nicht die einzige gewesen, die das in Betracht gezogen hatte – sonst wären die fünf nicht hier.

>>Und dann kommst du allein?<<, knurrte Zac und schnaubte abfällig, als sein Blick auf die Waffe fiel, die an meinem Bein befestigt war. >>Du weißt doch kaum, wie rum man den Dolch halten muss!<<

Wut kochte in mir hoch. Er hatte mich nie beim Training gesehen. Er wusste nichts! >>Ich hab das gleiche Recht wie du, meinen Schwarm zu verteidigen!<<, wiederholte ich schnippisch, was ich zuvor schon Phia in den Kopf geworfen hatte. Doch um eine weitere Diskussion darüber zu vermeiden, holte ich zum Gegenschlag aus: >>Und überhaupt – was machst du hier?<<

Tatsächlich hätte ich ihn mitten im Getümmel an der Ostseite erwartet, von wo wir noch immer gerufenen Botschaften beider Schwärme hörten. Einen Moment lang schwieg er. >>Els war nicht da. Ich hab ihn gesucht. Entweder er ist hier oder nirgends.<<

Die Rachsucht, die bei diesem Gedanken mitschwang, ließ mich selbst hier unter Wasser schaudern.

Da schaltete sich plötzlich Varon in unser Gespräch ein, indem er mir die Hand auf die Schulter legte und so Teil unserer Gedankenverbindung wurde. >>Ihr zwei! Still jetzt. Seht ihr das nicht?<<

Überrascht sah ich ihn an. Doch Varon sah nicht mich an, sondern deutete in die Ferne. >>Da sind sie.<<

Jetzt sah ich sie auch.

Sie waren zu zehnt. Das waren nicht viele. Aber trotzdem zu viele für uns sechs. Besonders, da ich und Varon tatsächlich keine guten Kämpfer waren. Nervös sah ich zu Zac, der die Ruhe selbst war, während Varon sich rasch von uns löste, um sich wieder dem Kreis der anderen anzuschließen.

>>Ihr habt einen Plan<<, stellte ich nüchtern fest und Zac nickte knapp, während er sich weiter auf die Näherkommenden fokussierte ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen. Wieder blickte ich den fremden Kriegern entgegen bis ich endlich mehr als nur schemenhafte Umrisse erkannte. Zac hatte Recht gehabt. Els war bei ihnen.

Bei seinem Anblick stieg die Mischung aus Angst und Wut wieder in mir auf. Gleichzeitig spürte ich, wie Zacs Zorn noch weiter wuchs. Ich schluckte leer und versuchte die zusätzlich aufkeimende Sorge beiseite zu schieben. Zac bemerkte sie trotzdem und strich mir mit seinem Daumen tröstetnd über den Handrücken. >>Keine Sorge, Liebes<<, flüsterte er leise in unseren Gedanken. >>Wenn sie erst in den Versorgungstunneln sind, kommen sie nicht mehr heraus.<<

Das war keineswegs beruhigend.

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