Kapitel 1.1 - Wiedersehen macht Freude - aber nicht lange

(Bild: Senga im Wasser als Flussbraut - by KareiKite)


36. Jir'Lore, 2145 n.n.O

Der Tag begann wie jeder andere seit Els mich überfallen hatte: Ich erwachte von einem Alptraum. Ich hatte schon vorher nicht sonderlich gut zu geschlafen. Doch mittlerweile glich Schlaf einer täglichen Folterroutine.

Erschöpft schüttelte ich meinen Kopf und im dämmrigen Licht des Morgens beobachtete ich, wie meine Haare dieser Bewegung träge folgten. Es war eine alberne Geste, doch sie half mir, meine Gedanken zu ordnen und meinen müden Geist zu klären. Kurz war ich versucht, es trotzdem noch einmal mit Schlafen zu probieren, doch dann entschied ich mich dagegen. Die Erfahrung der letzten Tage lehrte mich, dass ich nur wieder Träumen würde, meistens sogar noch schlimmer als vorher. Stattdessen raffte ich mich zu meiner Morgenroutine und dann dem Gang zum Frühstück auf.


Als ich in der Küche ankam, war außer Sirek, der das Essen vorbereitete, noch niemand da. Es war wirklich früh. Unschlüssig starrte ich den fülligen Flussbräutigam einen Moment lang an und schwamm vorsichtig näher. >>Brauchst du Hilfe?<<, rief ich ihm zu und sein Kopf fuhr überrascht nach oben. Kurz musterte er mich, dann nickte er und streckte die Hand nach mir aus um eine stillere Gedankenverbindung einzugehen.

Doch ich zuckte intuitiv zurück. Einen Moment lang sah ich wieder Els Gesicht vor mir und spürte seinen Geist in meinem, während die Panik zu mir zurückflutete. So ging es mir bei jeder Berührung. >>Bitte – können wir nicht....?<<, setzte ich an, unfähig meinen Wunsch als vernünftigen Satz zu formulieren, während ich mit meiner Angst kämpfte.

Sirek verstand mich trotzdem. >>Du kannst die Krüge dort drüben hierher bringen. Aber achte darauf, dass die Deckel zubleiben. Ich will mein Essen nicht mit Fischen teilen. Danach kannst du die Steinplatten dort drüben vom Sand befreien. Es ist lästig, ich weiß, aber was will man machen, wenn die Strömung ständig neuen Sand anschleppt?<<

Ich nickte und begann die Anweisungen, die der Koch mir zurief, einfach abzuarbeiten. Dabei konzentrierte ich mich auf nichts anderen, damit meine Überlegungen nicht wieder begannen, sich sinnlos im Kreis zu drehen. Schließlich war alles getan und es kamen auch die ersten Flussmenschen zum Frühstück.

Vielleicht sollte ich auch etwas essen? Zögernd betrachtete ich die Auslage vor mir. Allein bei deren Anblick wurde mir fast schlecht. In den letzten Tagen war mir der Appetit komplett vergangen. Doch meine Vernunft sagte mir, dass ich essen musste. Also griff ich wahllos nach irgendetwas. Als ich mir einen ungestörten Platz suchen wollte, an dem ich mir das Zeug rein quälen konnte, sah ich aus den Augenwinkel heraus eine Bewegung: Im trüben Licht des Morgens schwamm eine kleine Fünfer-Gruppe auf den Herzplatz zu. Als sie näher kamen, erkannte ich Zacs Umrisse und Riccos muskulösen, dunklen Körper, sowie seinen kahlen, tätowierten Kopf. Ich schluckte leer als ich an das letzte Mal dachte, dass ich die beiden zusammen gesehen hatte.


Ricco war noch bei mir geblieben, weil er mich nicht allein lassen wollte, obwohl jede einzelne seiner Bewegungen eine tiefe Unruhe ausdrückte. Sicher sorgte er sich um Varon. Die zwei schienen enge Freunde zu sein. Trotzdem war ich dankbar, dass er nicht einfach wegschwamm und stattdessen still und trostspendend neben mir schwebte, obwohl ich die Berührung einer Gedankenverbindung in diesem Moment nicht ertrug.

Plötzlich tauchte über uns ein Schatten auf und ich zuckte schreckhaft zusammen. Mein verstörter Geist hatte mir einen Moment lang vorgegaukelt, Els sei zurück. Instinktiv schwamm ich näher zu Ricco. Doch es war nicht Els, natürlich nicht.

Es war Zac.

Als ich ihn erkannte, atmete ein dummer, törichter Teil von mir erleichtert auf. Ich wollte bei ihm sein. Völlig überrumpelt von der Erkenntnis, dass ich genau jetzt zu ihm schwimmen und in seiner Gegenwart Trost suchen wollte, starrte ich Zac entgegen, wie er mit wenigen starken Bewegungen direkt auf mich zu schwamm. Als er in Reichweite war, streckte er die Hand nach mir aus und einen kurzen Moment lang wollte ich sie greifen, mich in seine Arme flüchten und hören, dass alles bald wieder gut wäre.

Dann sah ich wieder Els vor mir. Wieder spürte ich seine Erregung, als er meinen Geist durchsuchte und die Erinnerungen an meinen Ex und mich hervorzog. Instinktiv wich ich Zacs ausgestreckter Hand aus. Ich wollte ihn nicht in meinem Geist, nicht jetzt. Vielleicht würde Zac meine Erinnerungen sehen. Die Vorstellung, dass er oder jemand anderes die Dinge sah, die Els hervorgezerrt hatte, machte mich panisch. Zac sah mich einen Moment lang stumm an. Dann ließ er die Hand langsam sinken und griff stattdessen nach Riccos Schulter, während er mich mit seinem steinernen Gesicht nicht aus den Augen ließ.

>>Was hat er wissen wollen?<<, rief er mir schließlich zu und ich zuckte zusammen. Diesmal versuchte er nicht, mich zu berühren. Ich war gleichzeitig erleichtert und verzweifelt. Erleichtert, dass er nicht in meine Gedanken sehen konnte. Verzweifelt, weil ich in diesem einen Moment nichts mehr wollte, als seine tröstende Nähe.

Ich schluckte schwer, ehe ich mich zu einer Antwort durchrang: >>Alles über den Schwarm. Wo der Besitz lagert, Waffen, Krieger... alles.<<

Alles über mich. Aber das sagte ich nicht. Vielleicht wusste er es trotzdem. Er hatte mit Ricco gesprochen und der hatte es gesehen. Aber auch dann ließ Zac sich nichts anmerken und nickte nur wieder: >>Er ist an Land geflüchtet. Die Suche läuft.<<

Auch ich nickte. Aber was sollte ich mit der Aussage anfangen? Ich wusste nicht einmal, was ich darauf antworten sollte und wir schwiegen einander ein paar Herzschläge lang an. Schließlich wandte Zac sich ab und schwamm davon, während ich ihm mit wachsender Verzweiflung hinterher sah.


Das war vor drei Tagen gewesen. Seitdem hatte ich ihn nicht mehr gesehen.

Mittlerweile waren die fünf nah genug, dass ich auch die anderen erkennen konnte: Zac, Koral, die Schwestern Sina und Dora und – als einziger Mensch in der Runde – Ricco. Unruhig beobachtete ich die kleine Gruppe, von der jeder einzelne irgendwie bewaffnet war, und einen kurzen, dummen Moment lang, fragte ich mich, warum Zac mit seiner ehemaligen Partnerin Dora unterwegs war? Doch schnell schlug ich mir diese Frage wieder aus dem Kopf. Erstens ging es mich nichts an, zweitens sollte die Frage eher lauten: Warum war Zac mit Koral, Sina, Dora und Ricco unterwegs? Allesamt offensichtlich bewaffnet und zum Kampf bereit.

Unruhig beobachtete ich die kleine Gruppe von der mich Sina, Dora und Koralwie erwartet ignorierten und direkt zum Frühstück schwammen – sie alle hatten bei der letzten Schwarmversammlung klar zu verstehen gegeben, wie sie zu mir standen. Doch etwas in ihren Bewegungen ließ sie müde wirken und kurz fragte ich mich wieder, was sie wohl getan hatten.

Abermals heftete sich mein Blick auf Zac, der noch immer bei Ricco schwamm und nun mit seiner ausdrucksloser Miene in meine Richtung blickte, während der Schatten eines Fischerbootes, das über den See tuckerte, über ihn hinwegglitt. Erst als Ricco ihm kurz auf die Schulter klopfte, gab er sich einen Ruck und straffte die Schultern. Dann drückte er dem Flussbräutigam seinen Speer in die Hand und schwamm nun wieder entwaffnet auf mich zu.

Als er vor mir schwebte streckte er seine Hand nach meinem Arm aus und ich zuckte instinktiv zurück. Ich bekam noch immer Panik, wann immer jemand eine Gedankenverbindung zu mir aufbauen wollte. Er zögerte, griff dann trotzdem nach meinem Handgelenk. Die blauen Flecken, die Els' Griff dort hinterlassen hatte, waren noch immer empfindlich und ein sanfter Schmerz zog sich meinen Arm hinauf, als ich Zacs Geist plötzlich in meinem spürte.

Ich erstarrte. Sofort flutete die Angst in mir hoch und ich erinnerte mich wieder an das Gefühl, als Els sich durch meine Gedanken gebohrt und jede Gegenwehr im Keim erstickt hatte. Wie er mich festgehalten hatte und immer weiter und weiter....

>>Senga. Senga! Es ist gut! Shhhh<<

Abermals hatte ich das Gefühl hilflos zu sein, während all die Erinnerungen auf mich einstürzen: Was Els hatte wissen wollen. Welche Erinnerungen er sich sonst noch genommen hatte. Mein Blickfeld verengte sich und wieder war ich allein, spürte nur Els brutalen Griff an meinen Handgelenken und die Panik, die mich erstarren ließ, während eigentlich jede Faser meines Körpers fliehen wollte. Doch wohin? Ich konnte nicht weg. Er hielt mich unbarmherzig und bewegungslos, nicht nur meinen Körper, sondern auch meinem Geist, während er weiter und weiter bohrte...


Ganz plötzlich war ich nicht mehr allein. Da waren zwei starke Arme um mich, die mich festhielten und meinen zitternden Körper zur Ruhe brachten. Da war ein anderer Geist, der mir Sicherheit zuflüsterte. Ein ganz kleines bisschen entspannte ich mich. Das erste Mal seit Tagen. Erschöpft schloss ich die Augen und sperrte damit alle neugierigen Blicke der Umstehenden aus. Sie waren mir egal. Stattdessen sackte ich kraftlos gegen Zacs Schulter, ließ mich treiben und von ihm festhalten. >>Er ist weg, Senga. Er wird dir nichts mehr tun. Niemand hier wird dir etwas tun. Du bist in Sicherheit. Vertrau uns. Vertrau mir... bitte...<<

Seine Worte waren warm wie Balsam und süß wie Honig. Ich glaubte ihm. Ich wollte ihm glauben und alles vergessen. Der Übergriff war ein einmaliger Unfall. So etwas würde nie wieder geschehen, weder mir noch anderen. Ich brauchte keine Angst haben.

Scharf wie ein Messer tauchten Riccos Worte aus meiner Erinnerung auf: Wer ihn findet, darf ihn umbringen. Plötzlich wusste ich, was die Aufgabe der kleinen Gruppe war und warum ich Zac die letzten Tage nicht gesehen hatte. Ich stockte.

>>Habt ihr ihn gefunden?<<, flüsterte ich leise und spürte ein tiefes Bedauern, das durch Zacs Wand hindurch glitt.

>>Nein. Er ist entkommen. Aber es wird der Tag kommen, an dem ich das nachhole.<<

Ich zuckte zurück, entwand mich seiner Umarmung, sodass wir nur noch lose verbunden waren durch eine Hand, die Zac noch auf meinem Oberarm liegen hatte. >>Das kann nicht dein Ernst sein?!<<, fragte ich gepresst und schüttelte verständnislos den Kopf, während meine Gedanken zwischen dem schieren Wahnsinn dieser Situation und der Sorge um gerade dieser hin und her huschten.

>>Doch. Natürlich<<, antwortete Zac und die Selbstverständlichkeit, die bei diesen Worten mitschwang, war ebenso furchteinflößend wie die Worte selbst. >>Er hat unser Vertrauen missbraucht. Er hat Varon betäubt und dich misshandelt. Welchen Grund gäbe es, sein Leben zu schonen?<<

>>Oh – dann macht es dich zu einem besseren Monster, wenn du ihn tötest?<<, knurrte ich schnippisch zurück, woraufhin völliges Unverständnis zu mir zurückflutete und seine Hand langsam nach unten sank und sich jegliche Verbindung zwischen uns in Luft auflöste. >>Was ist denn jetzt dein Problem?<<, rief er mir zu, sodass uns wieder alle im näheren Umkreis hören konnten und wir nun mit Sicherheit wieder der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit waren. Sogar die Rufe, die sonst als beständiges Hintergrundrauschen durch den See hallten, wenn sich zwei Schwarmmitglieder auf Distanz irgendwie austauschten, schienen verstummt zu sein. Doch ehrlich gesagt war mir das in meiner aufkeimenden Wut egal.

>>Mein Problem? Mein Problem!<<, keifte ich zurück. >>Ich sag dir, was mein "Problem" ist: Els ist verheiratet.<<

>>Ja, mit dieser Schlampe Ari. Und?<<

Ungläubig sah ich ihn an. Die Tatsache, dass er es gewusst hatte und es noch immer nicht verstand, machte mich nur noch wütender. >>Begreifst du es denn nicht? Els hat das nur getan, weil du seine Ari angegriffen hast.<<

>>Ja. Nachdem sie dich geschlagen hat. Willst du mir jetzt etwa sagen, es sei meine Schuld, dass Els dich angegriffen hat?<<, zischte er zurück und sein Tonfall klang genauso aggressiv wie meiner.

>>Ich will dir sagen, dass es zu weiteren Vergeltungen kommen wird, wenn ihr Els nicht ziehen lasst! Und das nächste Mal gibt es vielleicht wirklich Tote. Varon oder Ricco oder Phia oder...<<

Dich. Aber das konnte ich ihm nicht sagen. Stattdessen konzentrierte ich mich auf meinen eigentlichen Gedanken: >>Das ist dann quasi meine Schuld. Willst du mir das wirklich aufbürden?<<

>>Senga.<< Er kämpfte um Ruhe. Das konnte ich sogar ohne Gedankenverbindung sehen. >>Der Schwarm der Lore Flüsse wird so oder so angreifen. Das Els mit all den Informationen entkommen ist, ist eine Schwäche, die uns nicht verziehen wird. Hätten wir ihn erwischt, wäre es ein Krieger weniger, der uns gefährlich werden würde.<<

>>Das ist doch abartig! Dieses ganze System aus Vergeltungsschlägen und – und Raubtiermentalität!<<

Einen, kurzen Moment lang herrschte Stille und fast hätte ich gehofft, das meine Worte zu ihm durchgedrungen waren. Fast.

>>Willst du mir damit sagen, dass du uns alle für Monster hältst?<<

Er hatte nichts von dem verstanden, was ich hatte sagen wollen. Gar nichts. >>Ja<<, fauchte ich wütend zurück. >>Wenn ihr es nicht schafft über euren Tümpel hinauszuschauen und ein friedliches Miteinander hinzubekommen, seit ihr auch nur triebgesteuerte Haie!<<

Plötzlich war er dicht bei mir und seine ganze Präsenz baute sich durch seine schiere Nähe drohend und angsteinflößend vor mir auf, doch er fasste mich nicht an. Musste er auch nicht. Ich konnte seine Wut auch so sehen – jeder Muskel seines Körpers war zum Zerreißen gespannt. >>Zügle Deine Zunge, Weib<<, zischte es in meinem Kopf.

Doch ich wich nicht zurück. Ich war kein Haustier, das man nach Belieben durch die Gegend schubste. Die Zeiten, in denen mir jeder drohen konnte, wie er wollte, waren vorbei.

>>Ich lasse mir nicht den Mund verbieten!<<, schrie ich ihn an. >>Von. Dir. Nicht!<<

Damit drehte ich mich um und schwamm davon. Nicht weil ich Angst hatte, sondern weil jedes weitere Wort Verschwendung war.

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