Verloren (Buchversion)
Yassmin
Heute,
Hof der hellen Fea, westlich des flüsternden Waldes.
Yassmin weigerte sich, zu weinen. Sie hatte in den letzten Jahren, in denen sie noch gehofft oder geglaubt hatte Demir davon zu überzeugen, dass sie nicht wie ihre Mutter war, genug geweint. Sie hatte alles versucht um sich dem Status als seine Gemahlin würdig zu erweisen und letztendlich festgestellt, dass es nicht an ihr lag. Nicht wirklich zumindest.
Weder hatte Yassmin etwas falsch gemacht, noch warf man ihr die Taten ihrer Mutter wirklich zu Last. Nicht einmal ihre gemischte Herkunft schien wirklich ein Problem zu sein. Dieser Hof, allen voran Demir und seine Mutter, langweilte sich schlicht so dermaßen, dass ihnen jede Ausrede, sie schlecht zu behandeln, recht war.
Yassmin würde ihr Tun nicht legitimieren, indem sie ihnen auch noch Ausreden lieferte, die sie nicht brauchten.
Der Grund für die Brutalität um sie herum waren charakterliche Defizite, mehr nicht. So simpel, so abscheulich, nicht einmal Yassmins offiziellen Erzieher konnten das noch schönreden.
Nein, es waren genug Tränen vergossen worden.
Dennoch lähmte Yassmin die Situation. Sich angesichts der neu über sie hereinbrechenden Katastrophe schlecht zu fühlen und Angst zu haben war wohl normal, aber dass es ihr fast die Luft abschnürte und sie quasi bewegungsunfähig machte, war alles andere als gut. Das durfte nicht passieren. Niemals. Denn wenn Yassmin aufhörte, sich zu bewegen, würde sie dem allen nicht mehr entkommen können.
Sie war eine Prinzessin! Ob Demir, Kronprinz und ihr versprochener, zukünftiger Gemahl, oder seine Mutter das wahrhaben wollten oder nicht: Yassmin würde das auch bleiben, egal ob Demir sie verschmähte oder nicht. Niemand konnte ihr ihren Titel entreißen. Er war ihr Schutzschild in diesem Kampf.
„Das ist eine Katastrophe. Ihr verliert Eure Stellung, Hoheit, wenn der Prinz Euch diesen Ball versagt", plapperte Flora, ihre Kammerzofe panisch, während sie Yassmins Haar bürstete. Flora hatte ebenso wie sie selbst gerade den Worten gelauscht, die Mirael, Yassmins Erzieherin und ehemalige Amme, aus dem Brief vorgelesen hatte. Er war vor nicht einmal einer Stunde aus dem Haupttrakt des Palastes zu ihr gebracht worden und trug das Siegel des neuen Königs des Königreiches der Hellen-Fea.
Ja, es war eine Katastrophe, was da in ihm geschrieben stand, aber Yassmin versuchte tief durchzuatmen und das Positive darin zu sehen, dass dieser Brief ebenfalls versprach. Sie würde nicht die Gemahlin eines kleinlichen und tyrannischen Mannes werden müssen, der sie bloß geehelicht hätte, um sie weiter zu quälen.
„Ich kann nicht verlieren, was ich nie besessen habe, Flora. Es war doch offensichtlich, dass es so weit kommt", entgegnete Yassmin mit immer noch hoch erhobenem Haupt und stolzer Miene.
Der abgesagte Geburtstagsball zu Ehren ihres hundertsten Jahrestages war ihr kleinstes Problem. Es war die Botschaft, die zwischen den Zeilen mitschwang. Die königliche Familie hatte ihren Geburtstagsball stets persönlich für sie abgehalten, um zu demonstrieren, dass sie trotz allem bald zur Familie gehören würde. Wenn das endete, hatte sich auch die Haltung der königlichen Familie gegenüber ihrer Verlobung geändert. Etwas, was Flora nicht klar zu sein schien, aber es genügte ein Blick in den kleinen verputzten Spiegel, der Yassmin bewies, dass zumindest Mirael es wusste. Ihre Amme, die einer Mutter am nächsten kam, war mit den Feinheiten der Politik vertraut genug um diesen Schritt bereits vorausgeahnt zu haben.
„Ich bestaune Eure Haltung, Hoheit. Das muss an Euren dunklen Vorfahren liegen. Eine merkwürdige, weltfremde Eigenschaft. Ihr solltet dem Prinzen, oh, ich meine dem neuen König Eure Zuneigung präsentieren und an sein Gewissen appellieren."
Bei diesen Worten schloss Yassmin kurz die Augen, um zu verhindern, dass der Zorn in ihr hinaufstieg, den sie stets in sich spürte, wenn Demir auch nur erwähnt wurde.
Yassmin hatte all das kommen sehen. Genauso wie sie kommen gesehen hatte, dass Demir diesen ersten Schritt zur Auflösung der Verlobung unternehmen würde, sobald er die Gelegenheit dazu bekam. Dennoch schmerzte es zutiefst und machte ihr zeitgleich Angst. Schließlich hatte sie sich nichts zu Schulden kommen lassen und es war nur eine Frage der Zeit, bis das alles eskalieren würde.
Yassmin hatte sich stets bemüht, eine anmutige und perfekte Prinzessin zu werden, die der Stellung gerecht wurde, die sie erwartete. Und tatsächlich hatte der Hof, nach anfänglichen Vorbehalten, sehr positiv auf ihren aufgeschlossenen Geist und ihr Feingefühl reagiert.
Yassmin war beliebt bei Hofe und all jenen, die nicht von Vorurteilen zerfressen waren. Doch diese Zahl dieser Fea ging langsam immer weiter zurück.
Trotz aller Bemühungen des Königs Branmild war das Land gespaltener denn je. Die Zeitenwende, die er versucht hatte, herbei zu erzwingen, war auf stummen Widerstand gestoßen und die erlassenen Gesetze zur Gleichstellung aller Fea, egal ob reinblütig oder nicht, nicht das Pergament wert, auf dem sie geschrieben worden waren. Er hatte sich bemüht und war dennoch gescheitert. Mit seiner Politik, genauso wie mit der symbolischen Verlobung von Demir, seinem Nachfolger, und der Prinzessin der Dunklen-Fea, mit ihrem unreinen Blut.
Banmilds eigene Gemahlin, die Königin-Regentin, hatte alle Gesetze ausgehöhlt, die sie nicht hatte aktiv verhindern können und hatte so viele Fäden gezogen, dass selbst die inhaltslose Hülle der Gesetze nicht einmal beachtet wurden.
Damit alles so blieb, wie es war. Dunkle-Fea waren nicht willkommen und Mischlinge wie Yassmin schon gar nicht. Jede Dienerin war in den Augen der Königin-Regentin mehr wert als Yassmin.
Und nun, da König Branmild tot war und sein Sohn in Kürze gekrönt werden würde, würden auch die letzten fortschrittlichen Stimmen in diesem Land verstummen.
Alles, was nicht den Diktaten von Demir und seiner Mutter folgte, würde auf dem Scheiterhaufen enden.
Zum Schluss gab es dann nur noch eine Hürde, die Demir und seine Mutter zu nehmen hatten: Yassmin. Sie war das letzte Bollwerk, das es zu überwinden galt. Eines von dem die Königin-Regentin überzeugt war, dass dies das eigentliche Problem des Landes waren: Fremdländische, Dunkle-Fea und alles halbblütige. Yassmin, die immer von dem messerscharfen Verstand der Königin-Regentin überzeugt gewesen war, konnte nicht verstehen, was sie hatte dermaßen verblenden können.
Der Wohlstand der Hellen-Fea ging rasant zurück, die Bevölkerung verarmte und die sowieso schon geringe Geburtenrate sank immer weiter. Mischlinge und Dunkle-Fea verließen das Land. Nicht weil sie es wollten, sondern weil die Stimmung in der Bevölkerung sich mehr und mehr gegen sie wandte. Dabei entzogen sie den Hellen-Fea damit die einzige Quelle, die frisches Blut in den viel zu 'reinen' Genpool hätte bringen können. Eine absolute Notwendigkeit, wenn man weiter Jahrhunderte überdauern wollte und nicht, wie bereits einige uralte Adelsfamilien gerüchteweise Kinder zeugten, die zu schnell wuchsen und teilweise in der Altersspanne starben, die Yassmin gerade einmal erwachsen hatte werden lassen.
Die Hellen-Fea vernichteten sich selbst, dabei waren all diese Tatsachen kaum zu verleugnen. Der Zusammenhang zwischen 'zu reinem' Blut, dem Rückgang der Unsterblichkeit und auch dem Rückgang der Geburtenrate, war von den Gelehrten bestätigt worden und sie plädierten lautstark dafür, die Trennung von Hellen-Fea und Dunklen-Fea endlich fallen zu lassen.
Doch auch diese Gelehrten hatten sich bei der Nachricht über den plötzlichen Tod des Königs, in andere Länder aufgemacht. Vielleicht sollte Yassmin es ihnen gleichtun.
„Betteln soll ich? Soll der neue König doch seine reinblütigen Konkubinen behalten und für immer kinderlos bleiben, mir ist das egal!", entfuhr es Yassmin, obwohl sie sich dazu eigentlich nicht hatte herablassen wollen. Schon gar nicht gegenüber Flora, die von diesem Ausbruch sicherlich das gesamte Personal des Hofes in Kenntnis setzen würde.
»Eine Dame ging nicht aufgebracht auf und ab und schon gar nicht eine Prinzessin.« Vermittelte ihre engste Vertraute ihr ohne Worte.
Also ließ sich Yassmin auf ihrem Platz vor dem Kamin fallen und betrachtete das prasselnde Feuer darin.
Währenddessen winkte Mirael Flora mit einer Handbewegung fort und wartete mit ihrem Tadel, bis sie alleine in Yassmins Schlafgemächern waren.
„Es gibt einen Grund für die Trennung, meine Liebe, das vergesst Ihr stets!", sprach Mirael und setzte sich neben Yassmin um ihren Arm zu berühren, was tatsächlich tröstlich zu sein schien.
Dennoch schüttelte Yassmin aufgebracht die Hände ihrer Kammerzofe ab und stand auf, um ziellos hin und her zu gehen, bis Miraels tadelnder Blick sie traf.
Ja, es gab einen Grund für die Trennung der Fea, ein Märchen, das alle Fea-Kinder bereits früh zu hören bekamen und an das Yassmin nicht eine Sekunde lang geglaubt hatte. Nie. Sie liebte Mirael wie eine Mutter und hatte stets auf ihre mahnenden Worte gehört, aber sie hatte schon vor langer Zeit angefangen, Dinge zu hinterfragen. Einer ihrer weitsichtigen Hauslehrer hatte ihr beigebracht, dass sie Mirael lieben konnte, ohne mit ihr immer einer Meinung sein zu müssen. Er hatte sie befähigt, sich ihres Verstandes zu bedienen. Ohne Zwänge. Etwas, was Mirael nicht gut hieß, aber irgendwann akzeptiert hatte.
„Natürlich. Der Fluch. Ich habe vergessen, dass ich ja laut dieser Verwünschung, die auf unserer Spezies liegt, gar nicht existieren dürfte. Tut mir leid, dass meine Existenz die Gelehrten quasi bestätigt. Ich werde mich sofort der Sterblichkeit ergeben und dahinraffen", gab Yassmin trotzig von sich.
Denn genau das besagte dieses Märchen: Dass die beiden Untergruppen der Spezies Fea dazu verdammt waren, sich aus dem Weg zu gehen, denn sonst würden ihre Kinder ihre Unsterblichkeit verlieren. Was auch immer das bedeuten möge.
Nach der offensichtlichen Interpretation sollten Mischlinge damit kurzlebiger sein als reine Fea, doch das ist nie beweisen worden. Ganz im Gegenteil. Alles, was man bisher tatsächlich beobachtet hatte, sah sogar so aus, als wäre die Reinblütigkeit das Problem, auch wenn viele Adelsfamilien das verleugneten.
Nur eines konnten die Gläubigen dieses Märchens nicht als Lüge betiteln: Viel zu wenige Geburten, die die Todeszahlen ihres Volkes unmöglich ausgleichen konnten. Obwohl auch da viele Gelehrten meinten, dass einige Fea Familien ihre viel zu kurzlebigen Kinder einfach versteckten und die Geburt nie meldeten. Aus Yassmins Sicht könnte das zumindest ein Teil der Wahrheit sein. Fea mochten ja nicht altern, doch sie waren nicht unverwundbar und zudem ständig in Kriege untereinander verwickelt. Die Todeszahlen waren in den letzten fünfzig Jahren extrem angestiegen, gerade weil wieder einige andere Reiche der Hellen-Fea, südlich von dem, in dem sie lebte, einmal mehr Anspruch auf die Krone erhoben. Das führte zu ständigen Reibereien in den Grenzregionen.
„Das ist keine Frage des Stolzes, junge Dame! Ihr müsst den neuen König dazu bekommen, Euren Volljährigkeitsball zu veranstalten. Seine Absage kommt einer Lösung der Verlobung gleich und das würde alles zerstören."
Yassmin wusste, dass nur allzu gut und obwohl es weh tat und sie sich einmal mehr von Demir gedemütigt fühlte, konnte sie sich doch nicht daran hindern, auch aufatmen. Sie war dazu erzogen worden, Demir zu lieben, doch nun da sie erwachsen wurde, erkannte sie, dass es absolut nichts Liebenswertes am Prinzen der Hellen-Fea gab.
Er war gemein, falsch und absolut niederträchtig. Sein größtes Vergnügen war es, sie zu quälen und jetzt, wo er kurz vor der Krönung stand und keinen mehr hatte, der ihn dabei zurückhielt, könnte er sogar noch grausamer werden. Ihm jetzt unter die Augen zu treten, war mit Sicherheit keine gute Idee. Er könnte sie an Ort und Stelle entehren, ohne dass ihn jemand aufhalten würde.
Eine öffentliche Vergewaltigung, die er ihr schon oft angedroht hatte, wenn sie einige Momente alleine gewesen waren. Zu oft, als dass Yassmin es nur als Drohung betrachten könnte, es war eine seiner besonderen Vorlieben, die sie ernsthaft zu fürchten hatte. Nein. Das durfte sie nicht zulassen. Aber von ihren Ängsten musste Mirael nichts wissen.
Niemand tat das.
„Er würde nur dafür sorgen, dass meine Bezüge noch weiter gekürzt und du dir eine neue Anstellung suchen müsstest, geehrte Mirael. Meinen Titel kann er mir nicht nehmen. Ich bin eine Prinzessin und an meiner Abstammung kann er nichts ändern. Alles andere schon."
Ja, sie war eine Prinzessin. Tochter der ehemaligen dunklen Fea-Königin Isolde. Aber ihre Mutter war keine beliebte Regentin gewesen, Isolde war wahnsinnig geworden und hatte ihr Volk aufgrund von purer Kriegstreiberei hungern lassen. Doch ihre Herrschaft beendet hatte etwas anderes: Lord Adrian.
Ein uralter Dunkler-Fea, dessen Reichtum Yassmins Mutter scheinbar für sich gewollt hatte, oder einfach nur weil sie gegen irgendjemanden hatte Krieg führen wollen. Lord Adrian hatte Isolde angeblich den Kopf abgeschlagen, nachdem er zuvor Yassmins Vater getötet hatte. Yassmin selbst hatte nur überlebt, weil Mirael bei Lord Adrian um ihr Leben gebettelt und er sie mit dem Säugling hatte ziehen lassen.
Danach war das ehemalige Reich der dunklen Königin zersplittert. Die Überreste des Adels hatten es nie geschafft einen Nachfolger auf den Thron zu bringen, schlicht weil jeder der Anspruch erhob, sich damit konfrontiert sah, dass Yassmin noch lebte. Für die Dunklen-Fea wäre es sicher ein Segen, wenn Yassmin endlich verheiratet war und damit ihren Thronanspruch verlöre oder noch besser: Starb, damit auch eventuelle männliche Nachfolger von ihr keinen Anspruch mehr erheben konnten.
„In der Tat, an Eurer Abstammung kann er nichts ändern."
Mit diesen wüsten Worten verbeugte sich Yassmins Erzieherin Mirael brüsk, legte den Brief auf einem Tisch nieder und stürmte aus Yassmins Gemächern. Yassmin sah ihr nach und hatte sofort ein schlechtes Gewissen. Für Außenstehende mochte Mirael kalt und distanziert wirken, doch ihre ehemalige Amme hatte sie immer nur beschützen wollen, indem sie das Mädchen dazu erzogen hatte, sich ihrer Herkunft bewusst zu sein und auch den Hass, der zusätzlich auf sie zukam, weil sie die Tochter einer grausamen Fea-Königin war. Als Kind hatte Yassmin Mirael für gemein gehalten, weil sie keine Stunde vergehen ließ, in der sie Yassmin nicht daran erinnert hatte, dass sie schwarzes Blut in sich trug. Doch letztendlich war es ihr nur so möglich gewesen, Yassmin aus der Blase herauszuholen, in der sie bis zu ihrem zwölften Lebensjahr gelebt hatte.
'Vergiss niemals, wer du bist, die anderen tun es auch nicht', waren einst ihre Worte gewesen und die hatte Yassmin verinnerlicht. Die Geschichte ihrer Mutter sollte ihr wohl eine Warnung sein, nicht so stolz zu sein. Was sollte Yassmin also machen, wenn Demir sie als Gemahlin verstieß? Sie hatte keine echten Freunde auf dieser Welt. Die meisten die noch bei Hofe waren, verachteten sie und nur wenige respektierten sie überhaupt gut genug sich mit ihr sehen zu lassen. Vor allem jetzt, wo der alte König tot war und der neue einen so radikalen anderen Kurs verfolgte als sein Vater. Vielleicht sollte Yassmin tatsächlich bei Demir um Gnade betteln, denn wenn sie nicht die Gunst der Königsfamilie zurückgewann und die Stimmung im Land weiter so kippte, würde sie schon bald brennen.
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