Gefangen - Teil 1
Kapitel 3
Yassmin
Das Seil um ihre Handgelenke war zu fest, dennoch war Yassmin fast dankbar, hier angebunden und allein zu sein und nicht irgendwo im Lager herumgereicht zu werden. So schmerzhaft es auch war, hier stundenlang zu hocken, den Temperaturen und dem schlammigen Boden unter ihren Knien ausgesetzt zu sein, es war besser, als gefoltert zu werden.
Das Zelt war nicht wirklich für Gefangene gemacht, aber es hatte diesen eilig in den Boden gehauenen Balken in der Mitte, der das Stoffdach hielt, unter dem Kisten lagerten. Dort hatte Makkovic sie angebunden und ihrem Schicksal überlassen. Fürs Erste zumindest.
Yassmin hockte auf dem Boden mitten im Dreck und die Feuchtigkeit, die schon lange ihr Nachtgewand durchdrungen hatte, malträtierte ihre Haut. Ihre Füße aber waren dankbar dafür, sie nicht mehr tragen zu müssen. Dennoch empfand sie nichts als Schmerzen.
Yassmins Schädel brummte unaufhörlich, sie schmeckte Blut in ihrem Mund und spürte die Wunde an ihrer Seite. Selbst der relativ kleine Kratzer an ihrem Hals brannte wie die Hölle. Die Kälte in ihren Gliedmaßen verschlimmerte alles und machte nur wenig besser.
Doch Schmerzen waren gut. Schmerzen bedeuteten, dass sie noch nicht tot war, und das wiederum bedeutete, dass Harald oder Demir sie anscheinend nicht sofort töten wollten.
Noch nicht.
Noch hatte sie auch niemand gefoltert oder Antworten auf Fragen verlangt, die sie nicht hatte. Alles, was sie wusste, war, dass die Sonne aufgegangen war und nun langsam wieder unterging. Spätestens jetzt musste irgendjemand ihr Verschwinden bemerkt haben.
Was Adrian jetzt wohl tun würde? Yassmin zweifelte daran, dass er groß wüten würde. Wahrscheinlich würde er mit einer stillen Kühle ihre Abwesenheit registrieren und sich nun darüber Gedanken machen, ob sie entführt worden war oder ihn betrogen hatte. Und sie konnte nur hoffen, dass sie in den letzten Tagen ihn davon hatte überzeugen können, dass sie ihn niemals betrügen würde. Nicht nur weil sie seine Rache fürchtete, sondern vor allem weil sie bei ihm sein wollte.
Jetzt mehr denn je.
Bei dem Gedanken, dass er sie jetzt hassen könnte, wurde Yassmin schwer ums Herz und ihre erhabene Fassade bröckelte wieder leicht. Sie wollte zu Adrian zurück. Sie wollte von ihrem Ehemann in die Arme geschlossen werden und hören, wie er ihr versprach sie zu beschützen. Stattdessen saß sie hier im Schlamm und wartete darauf, dass ihre Entführer ihr Dinge antaten, von denen sie sich vielleicht nie wieder erholen würde.
„Ist Euch kalt?", fragte einer der Soldaten, die den Eingang des Zeltes bewachten, damit niemand herein- oder herauskam.
Auch dafür war Yassmin dankbar, so seltsam es auch war.
Als sie mitangesehen hatte, wie Makkovic ihre Zofe ermordet hatte, und sein Blick auf sie gefallen war, hatte sie fest mit einer oder mehreren Vergewaltigungen gerechnet.
Sie hatte sich vorgenommen es zu ertragen, wusste aber tatsächlich nicht, ob sie das gekonnt hätte.
Die Angst davor lag tief in ihrer Seele, die Schande, die es über sie und Adrian bringen würde, würde etwas in ihr zerstören. Das wusste sie genau. Selbst wenn sie es mutig durchgestanden hätte und Jahrhunderte hatte, um zu heilen.
Wenn niemand zu ihr hereindurfte, dann würde sie davon zumindest verschont bleiben.
Nur ein einziges Mal hatte jemand versucht an diesen Wachen vorbeizukommen und Yassmin hätte diese Stimme unter tausenden wiedererkannt.
Ashaja. Sie war hier.
Es war nicht üblich, dass Frauen in den Krieg zogen. Schon gar nicht, wenn ihre Söhne es taten und damit den Thron unbewacht ließen, der ihnen Macht verlieh. Was also suchte sie hier und was hatte sie von Yassmin gewollt?
Yassmin erinnerte sich an die merkwürdige Andeutung, die Quentin bei der Kriegssitzung mit Adrian gemacht hatte. Dass Ashaja auf persönliche Rache aus war und das wahrscheinlich wegen etwas, das lange vor ihrer Ehe mit ihrem nun verstorbenen Ehemann, dem ehemaligen König, passiert war. Adrian hatte ihren Namen gekannt, aber nicht gewusst, dass sie Demirs Mutter war. Sie kannten sich also vor dieser Zeit.
Vor Jahrhunderten. Und damals musste etwas vorgefallen sein, was noch heute als Motiv dafür gelten könnte, Adrian anzugreifen, doch Yassmin konnte sich nicht vorstellen, was das sein sollte.
Sie hatte wirklich keine Ahnung, wie viele Spiele in diesem Krieg gespielt wurden. Sie wusste nur, dass ihre Flucht zu Adrian nicht wirklich der Grund war. Sie war ein Vorwand und hatte mehrere Parteien gegen Adrian vereint. Harald, Demir, Ashaja und die Adligen der Dunklen Fea. Kein Wunder, dass sie in kürzester Zeit kampfbereit gewesen waren und vor allem so zahlreich. Dennoch war es ein zusammengewürfelter Haufen und Yassmin vermutete, dass das so ganz ohne Probleme ablief.
„Hör auf mit ihr zu sprechen! Willst du die Zunge verlieren?", fauchte der zweite Soldat seinen Kameraden an, doch dieser flüsterte zurück.
„Es hieß, sie sei entführt worden. Findest du es in Ordnung, dass sie dennoch wie eine Feindin behandelt wird?", meinte er und als Yassmin den Blick hob, sah sie ehrliches Bedauern in dem Blick des Soldaten, der zögerlich den Kopf in das Zelt gesteckt hatte.
Wahrscheinlich hatte man viele Soldaten damit mobil gemacht, indem man ihnen gesagt hatte, sie seien auf dem Weg, eine Prinzessin zu retten. Man hatte an dem Ehrgefühl einiger Männer gerüttelt und wenn dieses jetzt immer noch existierte, würde es für diese Männer ein böses Erwachen geben.
An diesem Krieg gab es nichts Ehrenhaftes, das sollte ihnen eigentlich auf dem Weg hierher aufgefallen sein, als Adrian den Weg mit den gekreuzigten Fea geschmückt hatte. Vielleicht hatte es aber auch ihre Überzeugung gestärkt, gegen ein Monster in den Krieg zu ziehen. Wer wusste das schon?
„Dummkopf! Eine Prinzessin stolpert nicht halbnackt durch einen Wald!", meinte der Kamerad und dann hielten beide Männer inne, so wie gefühlt jede Stimme im Lager, als ein entsetzlicher Schrei über das Lager hinwegfegte.
Das war das dritte Mal an diesem Abend. Zumindest vermutete Yassmin das. Aber die anderen beiden Male war es so weit weg gewesen, dass es auch von etwas anderem gewesen sein könnte. Yassmin hatte den Tag über halb ohnmächtig verbracht und wusste nicht, ob diese Geräusche auch am Tag über die Fea hier in Angst und Schrecken versetzt hatten.
Jetzt erst, wo sie das Gesicht der beiden Wachen sah, begann sie zu ahnen, was diese Schreie bedeuteten. Adrian. Er folterte und pfählte jeden fremdländischen Soldaten, dem er auf seinem Territorium habhaft werden würde. Vielleicht aus Rache für seine entführte Ehefrau.
Yassmin versuchte den Kopf weiter zu heben und darüber nachzudenken, ob sie das alles für sich behalten sollte. Sollte sie diesen Männern verkünden, dass sie tatsächlich die verlorene Prinzessin war? Oder war es besser zu schweigen?
„Ich habe Durst", nuschelte sie und log damit nicht einmal. Ihre Lippen waren spröde, ihre Kehle brannte, sie brauchte was zu trinken.
Tatsächlich verschwand die Wache kurz wieder und kam mit etwas zurück, das wie ein Trinkschlauch aussah.
„Was hast du vor, Dummkopf?", fragte der zweite Soldat, der seinen Kameraden davon abhielt, in das Zelt zu treten.
„Willst du sie verdursten lassen?", fragte dieser wiederum und riss sich dann los, während der andere Mann zurückblieb und fluchte.
Der freundliche Soldat kam zögerlich näher und Yassmin reckte in Erwartung, etwas zu trinken zu bekommen, das Kinn. Tatsächlich setzte er ihr den Trinkschlauch an die Lippen.
Sie schmeckte stark verdünntes, herbes Bier ihre Kehle hinablaufen und musste sich zusammenreißen es bei sich zu behalten, denn es war absolut widerlich. Dennoch war sie dankbar für jeden Schluck, der ihr gewährt wurde. Das Bier würde ihren Magen füllen und ihr zumindest etwas Erleichterung verschaffen.
„Es tut mir leid", gestand der Soldat und als Yassmin ihm in die Augen sah, glaubte sie ihm, aber ihr Herz war so voller Hass, dass sie auch ihm den Tod wünschte. Sie zwang sich zu einem Lächeln und erst als der Soldat zurückzuckte, bemerkte Yassmin die Fänge in ihrem Mund.
Sie hatten sich einmal mehr aus ihrem Kiefer gebohrt und schienen denen von Adrian sehr ähnlich zu sein. Ob sie das ihrer angeblich ursprünglichen Mutter zu verdanken hatte? Steckte das Monster, das in Adrian lebte, auch in ihr?
Yassmin horchte in sich hinein, nahm aber nichts weiter wahr als ihre eigenen Gedanken. Vielleicht musste sie in Gefahr sein, damit es sich erhob. Aber auch daran zweifelte sie ein wenig. Sie war schon oft in Gefahr gewesen und nie hatte sie Klauen und Fänge besessen, erst als dieser Wachmann sie versucht hatte anzufassen, war es kurz hervorgebrochen.
Wenn das Monster in ihr war, dann hatte sie keine Kontrolle darüber.
„Ihr seid belogen worden, Soldat. Man hat dutzende Male versucht mich zu töten. Ich bin vom Hof der Hellen Fea nicht entführt worden, ich bin geflohen und ich liebe meinen Ehemann. Adrian wird diesen albernen, kleinen Versuch, ihn zu besiegen, so zerschlagen wie alle anderen zuvor. Die Festung, vor der ihr lagert, ist uneinnehmbar, verfügt über Nahrung, Wasser und hunderte von Fea, die friedlich in ihren Betten schlafen. Adrian könnte das aussitzen, wenn er wollte, könnte euch dabei zusehen, wie euch die Nahrung ausgeht, wie Epidemien eure Armee dezimieren. Ihr werdet scheitern. Aber wahrscheinlicher ist, dass er wie der Tod selbst über euch hereinbricht. Weil ich hier bin. Er wird niemanden am Leben lassen und umso länger ich hier bin, umso schlimmer wird es für euch", beschwor Yassmin diese Fea und für einen kurzen Moment erstarrten sie und blickten sie geradezu entsetzt an.
Der Soldat, der ihr zu trinken gegeben hatte, erhob sich vorsichtig, als fürchtete er tatsächlich, Yassmin könnte eine Gefahr für ihn darstellen, und kehrte auf seinen Posten zurück.
Wieder zerfetzte ein Schrei das Lager und Yassmin lachte leise, sodass die Soldaten es hören mussten und sie sich nur zu gut vorstellen konnte, wie ängstlich sie gerade dreinschauten.
„Er kommt", sagte sie lächelnd und wusste, dass diese Soldaten sich nicht wieder in das Zelt wagen würden. Dafür würden sie aber ab jetzt in Angst davor leben, dass sie die Wahrheit sagen könnte.
Als die Wachen irgendwann wechselten und Yassmin spürte, wie die Monde aufgingen, wusste sie, dass sie eine weitere Nacht hier nicht durchhalten würde. Die Kälte war unerbittlich und der Hunger fraß sich scheinbar ein Loch durch ihren Magen. Sie spürte, wie selbst dieser nun endlich anbrechende Abend, sie nicht mehr mit genug Energie beleben konnte, um sie dazu zu bringen, die Augen offen zu halten.
Sie war solche Strapazen einfach nicht gewohnt und sehnte sich immer öfter Adrian herbei, der tatsächlich kommen und sie retten sollte. Doch auch wenn sie sich gegenüber den Wachen so optimistisch zeigte, hatte sie keine Ahnung, ob sie letztendlich recht behalten würde.
Einzig und allein die besorgten Blicke der neuen Wachen waren ihr ein Trost. Wie es aussah, hatte sich Yassmins Warnung bereits herumgesprochen, denn die Unsicherheit dieser Männer war zum Greifen nahe.
Manchmal glaubte Yassmin leises Tuscheln zu hören und konzentrierte sich auf die Worte der Männer, die einfach an dem Zelt vorbeiliefen. Sie konnte eh nicht mehr tun, außer zu lauschen.
Die Fea redeten darüber, welche Wachen wieder verschwunden waren. Einige seien desertiert, nicht nur jetzt, wo die Schreie den Sumpf zerrissen, sondern auch schon davor. Ob Ehrgefühl oder nicht, viele von diesen Fea waren mit den Horrorgeschichten um Adrian groß geworden und fürchteten ihn wesentlich mehr als Demir. Auch wenn dieser selbst drakonische Strafen verwendete, um Deserteure zur rechenschaft zu ziehen.
Doch furchteinflößender als diese Strafen waren das Klagen und Wehen, das der Wind in dieses Lager trug.
Viele von den Schreien, die man hörte, stammten von den vermissten Kameraden, da waren sich die meisten Soldaten einig. Kaum einer traute sich noch an den Grenzen des Lagers zu patrouillieren. Furcht und Unruhe herrschte in Adrians feindlichem Lager. Aber es reichte nicht. Viele von den Soldaten hier hatten keinen anderen Ausweg, als hier zu sitzen und auf den nächsten Befehl ihres Königs zu warten. Yassmin hatte das Gespräch zweier Soldaten vernommen, die vorhatten zu desertieren, aber nicht nur die Strafe fürchteten, sondern auch den Sumpf, durch den sie sich schlagen müssten und in dem es angeblich spukte. Da war es ihnen lieber, hier zu sitzen und gar nichts zu tun.
Die Furcht vor Adrians Ländereien hielt diesen gemischten Haufen zusammen. Fast schon ironisch. Doch weiter hatte Yassmin nicht darüber nachdenken können, denn irgendwann, als der anbrechende Abend ihr die Energie entzog, verlor sie das Bewusstsein.
Und wurde erst wieder geweckt, als Demir vor ihr stand.
Er hatte sie mit den Stiefeln angestoßen und als Yassmin sich zwang den Kopf zu heben und weniger wehleidig auszusehen, als sie sich fühlte, begegnete sie seinem irdisch schönen Blick.
Wie immer war er ein Mann, der dazu geschaffen schien, der Protagonist einer Heldensage zu sein, aber nichts, absolut gar nichts konnte Yassmin darüber hinwegtäuschen, dass er das wahre Monster in diesem Land war.
„Hallo, meine Liebe", begrüßte sie ihr ehemaliger Verlobter und Yassmin lächelte schwach. Adrian hatte Horrorgeschichten, aber Demirs Boshaftigkeit war dennoch schlimmer, weil er sie mit einer Freude tat, die lediglich ihm selbst diente. Nicht seinem Volk.
„Hallo, Demir. Wie ist es denn so als fünftes Rad am Wagen von deinem besten Freund und deiner Mutter?"
Vielleicht war es zu gewagt, so frech zu ihm zu sein, aber Yassmin wusste, dass sie diesen Krieg nicht überleben würde, wenn Adrian sie hier nicht rausholte. Also hatte sie nichts zu verlieren. Na ja, zumindest nicht mehr viel.
„Also ist es wahr, du drohst meinen Männern trotz deiner Situation. Ich wollte es wahrlich nicht glauben", meinte er und ging vor ihr auf die Knie, um mit ihr auf Augenhöhe zu sein. Yassmin blickte ihm trotzig entgegen und konnte kaum fassen, dass es jemals eine Zeit gegeben hatte, in welcher sie sich von seiner atemberaubenden Schönheit hatte blenden lassen.
Demir war noch ein halbes Kind. Ein tyrannisches, grausames Kind. Seine Wangen zierte nur ein leichter Bartschatten, seine blonden Locken ließen ihn noch jünger erscheinen, als er eh schon war, und diese lächerliche Rüstung, die er trug, sah an ihm aus, als würde er ein Kostüm tragen. Wie könnte irgendjemand diesen Bengel je ernst nehmen? Er war zu jung, um die Krone zu tragen, zu verantwortungslos, zu grausam und zu leichtsinnig. Sonst wäre er nicht hier.
Dass seine Mutter mit in den Krieg zog, war irrelevant, denn er war der König und er hatte sein Land verlassen, um Krieg zu spielen. Das war dumm, denn wenn er hier verlor, war auch sein Reich verloren.
„Ich sagte ihnen nur die Wahrheit. Dieser Wald wird euer Grab sein, ob nun langsam oder schnell", meinte sie und erkannte die Furcht, die in seinen Augen aufblitzte.
Demir hatte schon immer Angst vor Adrian gehabt und diese ganze Idee mit dem Krieg war sicherlich nicht seine gewesen.
Da zog seine Mutter die Fäden oder eben Harald, obwohl sie ihn selbst hier nicht gesehen hatte, und nach allem, was Yassmin gehört hatte, schien er auch nicht hier zu sein. Nur dieser General Titus.
König Harald war definitiv cleverer als Demir, auch wenn das nicht schwer war.
„Adrian wird sterben, denn wir haben jetzt ja dich als Druckmittel, wenn er dich zurückhaben will, muss er ..." Yassmin lachte wieder und unterbrach damit Demir.
War das sein Ernst?
Deswegen war sie noch am Leben, weil sie Adrian mit ihr erpressen wollten? Was dachten sie sich dabei, dass er allein aus der Festung kam und sich im Austausch für ihre Freiheit ausliefern würde? Das war lächerlich.
Vielleicht empfand er genug für Yassmin, um sie freizukaufen oder um den Willen zu haben, sie zu befreien. Yassmin war sich ziemlich sicher, dass sie ihrem Ehemann nicht völlig egal war, aber auch nur zu denken, dass er so selbstlos wäre sein eigenes Leben zu riskieren? Nein. Das würde er nicht und darüber war Yassmin auch eigentlich ganz froh. Natürlich schmerzte es, zu wissen, dass Adrian diese Ehe weniger emotional betrachtete als Yassmin selbst, aber bei dem Gedanken, ihm könnte etwas zustoßen, nur weil sie so dumm gewesen war sich entführen zu lassen, drehte sich ihr der Magen um.
„Das ist der große Plan, Demir? Oder ist das nur das, was dir deine Mutter und die anderen Wachen erzählen, weil sie dich für ein dummes Kind halten?" Sie sah die Wut in seinen Augen und in dem Moment, wo er die Hand erhob und ihr damit so fest ins Gesicht schlug, dass sie im wahrsten Sinne des Wortes Sternchen sah, spürte sie, wie ihre Fänge sich erneut aus ihrem Kiefer bohrten.
Trotzig und absolut nicht dazu bereit, ihm gegenüber auch nur eine Sekunde lang Schwäche zu zeigen, spuckte sie ihm das Blut vor die Füße und redete weiter, als wäre gar nichts gewesen.
„Du hast gesehen, wozu Adrian in der Lage ist. Ihr habt gesehen, was euch erwartet, aufgeknüpft am Straßenrand, während ihr dieses Land geplündert habt. Du hast es gesehen und deine Männer auch. Du hörst, was passiert. Ganz, ganz langsam. Adrian wird sich nicht erpressen lassen, er wird über euch kommen wie ein Orkan und hier seinen neuen Garten aus Pfählen aufstellen. Ihr habt keine Chance zu gewinnen und eigentlich weißt du das auch. Frag deine Mutter, wieso sie wirklich hier ist, das hat nämlich nichts mit mir oder dir zu tun. Und Harald, ich weiß nicht, welche Lügen er dir erzählt hat, aber er will nur seinen Thron sichern. Ihn als Verbündeten zu betrachten, ist Wahnsinn. Du bist Mittel zum Zweck und ein sehr einfältiges noch dazu. Wenn du überleben und deine Krone behalten willst, solltest du es deinen Männern gleichtun und aus diesem Land verschwinden und hoffen, dass Adrian zumindest dich verschont, wenn du mich zurückbringst", sagte sie und war stolz auf sich, dass sie es schaffte, jedes Wort klar und deutlich hervorzubringen, obwohl ihr Kiefer wieder stärker schmerzte als zuvor. Aber es würde heilen. Alles, was er ihr antat, würde heilen und irgendwann nur noch eine ferne Erinnerung sein.
Vielleicht ahnte genau das auch Demir, denn er wirkte zum ersten Mal in seinem Leben wirklich nachdenklich. Er betrachtete seine ehemalige, verhasste Verlobte trotzig, beschloss dann aber lieber auf die Worte anderer zu vertrauen, als auf das, was sein eigener Verstand ihm sagte. Yassmin konnte ihm das nicht mal vorhalten. Demir war noch nie dazu imstande gewesen, über seine eigenen Bedürfnisse hinauszudenken und war es gewohnt, dass andere um ihn herum die Entscheidungen trafen. Deswegen hatte es Harald wohl auch so leicht bei ihm. Schließlich war dieser ein fremdländischer Herrscher eines für Demir unbekannten Landes und dennoch führten sie plötzlich gemeinsam Krieg gegen jemanden wie Adrian. Das war doch verrückt.
„Netter Versuch, Yassmin, wirklich, aber für wie dumm hältst du mich?"
„Für dumm genug, einen Krieg gegen einen Fea zu führen, der keine Krone braucht, um ein König zu sein, und dich lediglich regieren lässt, weil es ihm zu mühselig ist, es selbst zu tun", konterte sie scharf.
Ihre Wut übernahm wieder. Die Frechheit dieser Leute, die hier auf ihrem Land waren und es gewagt hatten, sie anzugreifen, das Land zu verwüsten, sie zu entführen, und für ihre aktuellen Schmerzen verantwortlich waren.
Wieder hob er die Hand und wollte sie schlagen. Als sie seinem Blick einfach standhielt und darauf wartete, ohne auch nur den Hauch von Angst zu zeigen, nahm er sie wieder runter.
„Ich könnte dich hier und jetzt töten!", spuckte er ihr entgegen, weil ihm anscheinend nichts mehr weiter einfiel und brachte Yassmin erneut zum Lachen.
„Ja. Nur zu, Demir. Mach Adrian noch wütender, er wird dann immer so unfassbar kreativ, was die Foltermethoden angeht", platzte aus ihr so laut heraus, dass sie ihren Kiefer etwas zu sehr bewegte und der Schmerz ihr die Tränen in die Augen trieb.
Sie war jung, bis ihre Unsterblichkeit diese Wunde vollständig geheilt hatte, würde es sicherlich Tage dauern. Während die leichten Schürfwunden an ihren Füßen bereits jetzt kaum noch zu spüren waren. Allerdings nicht die Schnitte, die sie der Obsidianklinge zu verdanken hatte.
„Du kannst nicht ..." Ein weiterer Schrei glitt durch die Nacht und unterbrach Demir bei dem, was auch immer er ihr hatte entgegnen wollen. Eigentlich waren solche Laute nichts Besonderes, doch dahinter mischte sich das Brüllen und Kreischen eines Monsters und Yassmin wusste instinktiv, dass es zu spät für Demir war, seinen Kopf aus der Schlinge zu holen.
Adrian war hier.
Ihr Monster und Ehemann war gekommen, um sie zu befreien und sie zu rächen.
Demir stellte sich aufrecht hin und schien zwar etwas langsamer, aber dennoch genauso zielsicher zu demselben Schluss zu kommen. Er zog sein Schwert.
Eine Sekunde lang glaubte Yassmin, er würde sie tatsächlich töten, und sie ahnte, dass er selbst darüber nachdachte, aber letztendlich siegte bei ihm die Vernunft. Wenn Adrian hier war und dabei war zu gewinnen, brauchte er sie als Druckmittel.
„Ihr bewacht sie weiterhin!", schnauzte er den Fea entgegen, die das Zelt bewachten, und trat selbst aus ihrem Gefängnis hinaus, um sich anscheinend der Schlacht anzuschließen. Oder um sich selbst in Sicherheit zu bringen. Yassmin traute ihm beides zu.
Doch sie würde nicht einfach hier sitzen bleiben und hoffen, dass sie in diesem Konflikt nicht doch noch zufällig Schaden nahm. Hatte aber keine Ahnung, wie sie das anstellen sollte.
Bis ihre Zunge bei dem Versuch, sich das Blut von den Zähnen zu lecken, wieder diese Fänge berührte.
Wenn sie Fänge hatte, hatte sie vielleicht auch ...
Ja!
Ohne großartig darüber nachzudenken, was es bedeutete, dass mittlerweile auch sie so monströs wurde wie ihr Ehemann, krümmte Yassmin ihre nun mit klauenbesetzten Fingernägel, stellte aber fest, dass sie kaum dazu gemacht waren, das Seil um ihre Handgelenke zu lösen.
Währenddessen hörte sie das Brüllen von Männern, die zum Angriff übergingen, panische Schreie und weiter entfernt die wirklich sehr erschreckenden Geräusche, die sie noch nie zuvor vernommen hatte. Durch einen Spalt, den der Vorhang für den Eingang des Zeltes bildete, sah sie wie ihre Wachen immer nervöser wurden. Würden sie auf Demir hören, wenn es hart auf hart kam? Yassmin zweifelte daran.
Sie riss verzweifelter an den Fesseln, schaffte es nun, beide Hände einzusetzen, um das Seil weiter zu beschädigen, und nahm zum Schluss auch ihre Zähne zu Hilfe, wobei ihr Kiefer schmerzhafte Stöße durch ihren ganzen Körper sandte. Doch das war egal, sie musste hier herauskommen und Adrian finden. Es war zu gefährlich, hierzubleiben zwischen Fea, die sich gegenseitig versuchten abzuschlachten und dabei jede Hemmung verloren.
Während Yassmin den Klang von Schwertern hörte, die gegeneinanderprallten, und das Brüllen der Männer immer verzweifelter klang und immer chaotischer wurde, bemerkte sie irgendwann, dass ihre Wachen es nun tatsächlich vorzogen, Demirs Befehl zu missachten.
Das war ihre Chance!
Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie dasaß und an dem Seil herumnagte und kratzte, aber als die dicken Fesseln sich endlich lösten und sie dann mit einem Ruck freigaben, war Yassmin so überrascht, dass sie nach hinten umstürzte. Fassungslos betrachtete sie eine Weile ihre geschundenen Handgelenke und auch wenn ihre Knie sie eigentlich nicht tragen wollten, rappelte sie sich auf die Füße und wankte auf den Eingang zu.
Vorsichtig zog sie die Plane beiseite, um zu sehen, was vor dem Zelt los war, schreckte aber zurück, als sie eine Gestalt erblickte, die direkt aus einem Alptraum hätte stammen können. Sie torkelte blindwütig herum, hatte einen Kopf, einen Rumpf und zwei Arme und Beine, aber ... keine Haut.
Panisch presste Yassmin sich eine Handfläche auf den Mund, um nicht unbeabsichtigt aufzuschreien und dieses ... Ding auf sich aufmerksam zu machen, vor dem die Soldaten ihres ehemaligen Verlobten panisch Reißaus nahmen.
Yassmin hockte sich hin, spähte durch den kleinen Schlitz zwischen den Stoffen und wartete, bis das Wesen an ihrem Gefängnis vorbeigetorkelt war, bevor sie es wieder wagte, den Kopf hinauszustrecken.
Um sie herum herrschte Chaos, sie sah in einiger Entfernung weitere dieser Monster, allerdings auch viele Männer, die im Zweikampf versuchten sich gegenseitig zu töten und die zu beschäftigt damit schienen, um Yassmin oder andere zu bemerken.
Vorsichtig schob sich Yassmin das Zelt entlang, immer bedacht, nicht ausversehen von einem Soldaten erschlagen zu werden, und war bemüht in dem ganzen Getümmel ein Gesicht auszumachen, das sie kannte.
Doch es war unmöglich. Adrians Soldaten waren beschäftigt und trugen allesamt Helme. Sie würde keinen der Generäle ihres Mannes erkennen und Adrian selbst würde doch nicht so waghalsig sein, um an so einem Gemetzel teilzunehmen. Oder?
Fest entschlossen, trotz allem den Kämpfen aus dem Weg zu gehen und einfach zu entfliehen, damit sie zumindest überlebte, rannte Yassmin von einem Zelt zum nächsten, nutzte jede Deckung, die sie finden konnte, als ihr plötzlich eine Gestalt auffiel, die einfach herausstach.
Vor allem weil sie besser kämpfte als jeder andere Soldat um sie herum. Mit einer Leichtigkeit und Brutalität, die seinesgleichen suchte, metzelte ein Mann sich seinen Weg, seine ehemals reich verzierte Rüstung war voller Matsch und Blut.
Gerade schlug er einem Fea den Arm samt Schwert ab, um mit der Schulter einen zweiten feindlichen Soldaten wieder einen Meter zurückzuwerfen, bevor er auch diesem einfach den Kopf abschlug.
In der fast tänzerischen Drehung sah Yassmin langes, unfassbar dunkles Haar und erkannte das Profil sofort.
Adrian.
Er war hier. Er war persönlich gekommen, um sie zu retten, und für eine Sekunde war Yassmin so erleichtert ihn zu sehen, dass sie jede Vorsicht vergaß, sich aus ihrer Deckung wagte und auf ihn zulaufen wollte. Doch da griff ihr jemand ins Haar und zerrte sie an sich, bevor man ihr eine Obsidianklinge an die Kehle hielt.
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Das vollständige Buch erscheint am 15.12.23 al E-Book, Taschenbuch und Hardcover.
Der Erste Teil ist bereits verfügbar. Die Geschichte ist in 2 Bänden abgeschlossen.
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