Donnergrollen
Sobald ich die windschiefe Holztür unserer winzigen Lehmhütte leise hinter mir schloss, umklammerte ich die kleine Tonscherbe in meiner Hand fester. Sie schnitt mit ihren scharfen Kanten schon richtig in meine Handinnenflächen ein, doch das machte mir nichts aus, denn ich wollte diese kleine Kostbarkeit auf keinen Fall hergeben. Obwohl es kein fein geschliffener Mosaikstein, sondern nur eine dreieckige Scherbe war, freute ich mich darauf, sie meiner Sammlung hinzuzufügen. Sie war so azurblau wie die tiefen Stellen des Meeres draußen vor der Küste.
Sie war ohne Zweifel ganz besonders.
Als ich aber nun, kaum dass ich die Hütte betreten hatte, meinen ältesten Bruder Raed aufspringen und mit großen Schritten auf mich zukommen sah, versteckte ich die Hand mit der Scherbe schnell hinter meinem Rücken und kniff leicht die Augen zusammen während ich Raed nicht aus den Augen ließ.
Raed bedeutet Donner und er machte seinem Namen gerade mal wieder alle Ehre. Ich fürchtete, dass er mir die kleine Scherbe wegnehmen könnte, so aufgebracht, wie er gerade war.
Ich starrte ihn an und überlegte, wann er nur so geworden ist?
Seine Gesichtszüge..., so fest, so starr und unnachgiebig?
Er war doch früher immer so sanft und lieb zu mir gewesen. Ernst war er ja schon immer und pflichtbewusst. Der Stolz unserer Eltern und ein toller großer Bruder.
Jetzt jedoch, sah ich eine dunkle, tobende Gewitterwolke vor mir.
Seine achatbraunen Augen blitzten und funkelten vor Zorn. Seine schmale Oberlippe zitterte leicht, so geladen war er. "Was hast du dir nur dabei gedacht?" donnerte er nun auch schon los. "Du kannst Mutter nicht ständig alleine lassen und dich draußen herumtreiben!"
"Aber ich..." begann ich zaghaft, doch sein stechender Blick brachte mich zum schweigen, denn seine Botschaft war unmissverständlich:
Raed wollte keine Widerworte. Schlimmer noch: Ihn interessierten weder meine Gründe, noch wo ich war und warum und was ich gemacht hatte. Als kleine Schwester hatte ich ihm zu folgen, so einfach war das.
Na toll. Mein früher so liebenswerter, ältester Bruder ist zum Macho mutiert. Das hätte ich nie für möglich gehalten. Meine Hand umfasste die Scherbe noch fester, jetzt nicht mehr aus Angst, dass er sie mir wegnimmt, sondern mehr aus Wut, weil er mich so behandelte.
"Ich kümmere mich gut um sie!", rief ich mit fester Stimme. "Ich.." eine sachte Berührung an meiner rechten Schulter ließ mich zur Seite blicken. Halim, mein zweitältester Bruder sah mich mit seinen sanften, olivbraunen Augen bittend an.
Ich schluckte.
Er hatte sich nicht verändert.
Als Kind hatte ich die tollsten Brüder der Welt.
Sie spielten mit mir, bauten mit mir Luftdrachen, nahmen mich mit in den Suq*und schenkten mir herrliche Mosaiksteine in den schönsten Farben.
"Sie hat die Wäsche im Waschhaus gewaschen und Kräuter für Mutter geholt", ergriff Halim nun Partei für mich und legte Raed ebenfalls eine Hand auf die Schulter. Er stand nun zwischen uns, seine linke Hand lag auf meiner Schulter, die andere auf Raeds. Er war schon immer der Vermittler in der Familie gewesen, vielleicht lag es daran, dass er der Mittlere von uns drei Geschwisterkindern ist.
Raed sog scharf die Luft ein, sagte aber erstmal nichts.
"Andere Mädchen in deinem Alter sind schon verheiratet", zischte er dann aber doch. Hätte mich auch gewundert, wenn er nicht das letzte Wort gehabt hätte.
Dennoch verstand ich plötzlich, woher der Wind kam, der die Gewitterwolken herangepustet hat. Mein Griff um die kleine Tonscherbe lockerte sich etwas und ich senkte traurig den Kopf.
Er versuchte mich zu schützen. Er wollte, dass ich drinnen bei Mutter blieb, damit ich niemanden auffiel.
Aber das war doch voll übertrieben!
Und selbst wenn, dann könnte er doch bestimmt immer noch für mich verhandeln. Ich hatte schon mitbekommen, dass einige Nachbarn bereits tuschelten. Immerhin war ich schon 16. Hier bei uns im Viertel wurden manche Mädchen bereits mit dreizehn oder vierzehn jemandem versprochen. Meine Eltern waren da zum Glück nicht so forsch gewesen. Der Lieblingsspruch meines Vaters war sowieso immer "Kommt Zeit, kommt Rat".
Seit Vater jedoch tot ist, ist nun aber Raed das Familienoberhaupt. Ich vermisste Vater sehr. Bei dem Gedanken an ihn stiegen mir Tränen in die Augen und ich fühlte mich augenblicklich schlecht behandelt. Vater hätte mich niemals einsperren wollen!
Er hatte mich zuweilen auch Ta'ir genannt, was soviel wie Vogel bedeutet. Nein, er hätte mich niemals eingesperrt, das wusste ich sicher.
"Tajra?" die schwache Stimme unserer Mutter aus dem Nebenraum riss mich aus meinen Gedanken. Sogar Raed wirkte überrascht, er hatte wohl nicht die Absicht gehabt, sie mit unserem Streit zu stören.
Kein Wunder, dass sie alles mitbekommen hat. Unsere Hütte maß gerade mal 38 m², auf zwei kleine Räume verteilt, die noch nicht mal durch eine Tür, sondern nur durch einen dunkelgrünen, mit goldenen Fäden durchwebten Seidenvorhang voneinander getrennt waren. Dieser Vorhang war das kostbarste in diesem kalten Lehmverbau.
Raed wollte ihn schon immer zu Geld machen, doch damit konnte er sich nicht durchsetzen. Allzuviel würde der Vorhang auch nicht einbringen und dann wäre unser Zuhause vollends trostlos. Ich liebte diesen Vorhang, sowie ich alle schönen Dinge liebte.
Außerdem war er ein Andenken an Vater. Er hatte ihn einmal auf seiner Arbeit von einem reichen Kaufmann geschenkt bekommen in dessen riyad* er ein Mosaik gefertigt hat. Der Kaufmann war von der filigranen Mosaikkunst unseres Vaters so beieindruckt gewesen, dass er ihm diesen Vorhang als Zeichen seiner Anerkennung geschenkt hatte.
Vater hatte ihn stets in Ehren gehalten und sich jeden Tag darüber gefreut. Er hat seine Arbeit als Mosaikleger stets geliebt, auch wenn es ein recht brotloser Handwerksberuf war. Als er den Auftrag erhielt mehrere Mosaike zu Ehren des Sultans an die Pfeiler und den Brückenkopf der neuen Brücke am Medjerda anzubringen, stürzte er ab, da plötzlich ein Unwetter heraufzog und der Fluss aufgrund des starken Regens so schnell und heftig anschwoll, dass die Baugerüste und Stützpfeiler von den Fluten weggerissen wurden.
Ein Tippen an meiner Schulter brachte mich zurück in unsere kleine Lehmhütte. Ich sah hoch und Halim nickte mir aufmunternd zu. Auch Raed trat einen Schritt zurück. Das Zeichen für mich, dass ich von unserer Auseinandersetzung entlassen war.
Ich beeilte mich also und huschte durch den seidig grünen Vorhang zu meiner Mutter hinüber.
"Ja, Mutter?", fragte ich und bemühte mich um ein Lächeln auf meinen trockenen Lippen. Ich wollte sie mit meinen Nöten und Sorgen nicht belasten.
Doch ein Blick in ihre sanften, graublauen Augen, die noch einige Sprenkel ihres ursprünglichen ägäisblaus besaßen, verriet mir, dass sie alles mitbekommen hatte.
Unsere Mutter war durch ihre chronische Krankheit, die durch den unerwarteten, tragischen Tod unseres Vaters nochmal einen richtigen Schub bekommen hat, zwar deutlich geschwächt aber dennoch noch Herrin ihrer Sinne und ihres wachen Verstandes.
"Tajra mein Liebes, Raed meint es nicht so", sagte sie und streckte ihre dünnen, fast schon knöchernen Finger nach meiner Hand aus, wohl um diese sanft zu drücken. Ich spürte die Berührung jedoch kaum, so wenig Kraft, hatte meine Mutter.
Ich lächelte sie an und diesmal kostete es mich keine Mühe. "Ich weiß, Mutter. Sorge dich nicht", antwortete ich.
"Es tut mir leid, dass ich so eine Last für euch bin" ,sagte sie mit schwacher Stimme und ihre graublauen Augen wurden ganz matschgrau vor Traurigkeit.
"Du bist keine Last!", versicherte ich ihr schnell, auch wenn es streng genommen schon ein bisschen so war. Seit Vaters Tod und ihrem schlimmen Krankheitsschub hatte ich den kompletten Haushalt übernommen, war für das Essen zuständig und versorgte meine Mutter, die an schlechten Tagen nur noch im Bett liegen konnte, und an guten Tagen zumindest eine Stunde vor der Hütte auf der kleinen Bank neben dem kleinen Orangenbäumchen sitzen konnte, mit allem, was sie brauchte und was es ihr besser oder angenehmer machen könnte. Dass ging nun schon zwei ganze Jahre so.
Dennoch empfand ich es nie als Last. Ich tat es gern. Sie waren meine Familie. Selbst Raed. Die Vorstellung von Ihnen getrennt zu sein, löste mir irgendwie Angst ein. Außerdem hatte ich so immer einen Grund noch keine Verlobung eingehen zu müssen. Ich musste mich um meine Mutter kümmern. Eine Heirat und damit ein Wegzug in eine andere Familie kam nicht in Frage.
Nur meinem Hobby konnte ich nun nicht mehr nachgehen und das bedauerte ich sehr. Die kleine Scherbe, juckte in meiner Handfläche, wie als wollte sie mich daran erinnern.
"Zeig sie mir", sagte Mutter sanft und blickte neugierig auf meine andere Hand, die ich immer noch ein bisschen hinter meinem Rücken verborgen hielt.
Ich schmunzelte und setzte mich zu ihr auf die Bettkante.
"Hier", ich ließ sie ihr sachte in ihre geöffnete Handfläche gleiten.
"Wunderschön" meine Mutter lächelte und ihre Augen lächelten mit, jetzt konnte ich wieder die ägäisblauen Sprenkel darin sehen. Sie liebte schöne Dinge, genauso sehr wie ich. Sie hatte Vater bei den Motiven für seine Mosaike immer inspiriert und ihn für seine Kunst und sein Handwerk stets bewundert.
So hatte sie auch nichts dagegen gehabt, dass er mich beim Mosaiklegen helfen ließ, kaum dass ich aus den Windeln raus war. Ich hatte von Anfang an eine große Begeisterung für seine Kunst gezeigt und diese kleinen, glänzenden Steine in den schillerndsten Farben hatten eine starke Anziehungskraft auf mich ausgeübt. Schon als Baby krabbelte ich zwischen den Steinen herum, und Mutter und meine Brüder mussten immer aufpassen, dass ich keine in den Mund nahm und verschluckte.
Als ich dann älter wurde, half ich Vater bei seiner Arbeit und mit neun Jahren vollendete ich mein erstes Mosaik in einem Garten. Es zeigte einen kleinen Orangenbaum, so einen wie wir neben unserer Hütte stehen haben.
Seit Vaters Tod hatte ich aber leider keine Zeit mehr um Mosaike zu fertigen. Mein ganzer Tag bestand aus Arbeit und abends war ich zu kaputt, für solche feinen, filigranen Tätigkeiten, mal abgesehen davon, dass es dann eh schon zu dunkel dafür wäre.
Aber schöne Mosaiksteine sammelte ich noch immer, sogar bunte Scherben, wie die kleine Tonscherbe, die ich heute in der Nähe des Waschhauses gefunden hatte.
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*Suq = Geschäftsviertel, dort findet auch der Basar statt
*riyad = tradiotionelles Haus mit Innenhof oder innen liegendem Garten
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