Der Fluch
Als der Zug der Reisenden am fünften Tage erschöpft die Burg des Fürsten erreichte, war ihnen die Nachricht vom Überfall sowie der verbotenen Liebe vorausgeeilt. Außer sich vor Wut über seinen Ritter und in bitterster Enttäuschung über seine Braut, kannte der Fürst nur noch den Gedanken daran, welche die härteste Strafe für beider Verrat wäre. Der Tod, selbst der grausamste, kam ihm noch zu milde vor. So hatte er sich mit seinem Schwarzmagier beraten, von dem er wusste, dass diese große Macht besaß und grauenvolle Flüche beherrschte. Ihm hatte er den höchsten Lohn versprochen für die ärgste Rache, zu der seine Kunst fähig wäre.
Und so geschah es. Ebenso taub wie blind für die Beteuerungen Lears auf Knien und das Flehen Marisandes zu seinen Füßen, befahl der Fürst seinem Hexer den Fluch zu erwirken. Den Rest ihres Lebens sollten die beiden in Gestalt wilder Tiere zubringen. Getrennt, verzweifelt und unbewusst ihrer menschlichen Art. Bei Tag und bei Nacht ausgeliefert den Gewalten der Natur, den Jägern der Menschen und ihren tierischen Instinkten.
Doch der böse Zauber gelang nicht vollständig. Es mochte ihre Liebe gewesen sein, die sie zu einem Teil schützte oder ihre Unschuld, der Umstand, dass sie ihre Keuschheit bewahrt hatten, solange sie nicht Gnade und Verzicht auf die Hochzeit vom Fürsten hatten erbitten können. Sowie der Fluch sie traf, durchfuhr es Marisande mit einem Zucken und Zerren, sie fiel zu Boden, krümmte sich, wand sich, schrumpfte und alsbald erhob sie sich hoch in die Lüfte in Gestalt einer Sperbereule. Entsetzt und hilflos, weil man ihn festhielt, hatte Lear dies mitangesehen, doch er blieb menschlich und riss sich schließlich los, um dem Vogel nachzulaufen. Zuerst wollte der Fürst ihm die Wachen hinterherschicken, um ihn zu ergreifen und zu töten. Doch der Magier hielt ihn zurück. „Keine Sorge, mein Herr und Gebieter", sprach er, „sie sind getroffen und vielleicht so noch mehr als in eurer Absicht lag."
Der Fürst war darum zufrieden, denn er verstand, dass es für Lear unendlich qualvoll sein musste, die Liebste durch seine Schuld in der Gestalt der Eule zu wissen. So gebot der Rachsüchtige seinen Männern Einhalt.
Lear jedoch rannte und verlor den Vogel, der ängstlich immer weiterflog, nicht aus dem Blick. Er wollte zu Marisande, sie trösten, sie beschützen. Endlich, am späten Nachmittag, erreichten sie einen Wald und da setzte sich die Eule im Schatten der Bäume auf einen Ast. Von dort sah sie herab auf den Mann, der ihr gefolgt war. Es waren Marisandes Augen, die ihn erblickten und da erkannte sie ihn. Sogleich flog sie herab, doch im selben Augenblick ging die Sonne unter und abermals setzte eine Verwandlung ein. Kaum hatte sie den Waldboden unter ihren Füßen, da krümmte sie sich, es zerrte an ihr und sie erhielt ihre menschliche Gestalt zurück. Zuerst wollte sie jubeln, sich ihrem Geliebten in die Arme werfen, doch sie erschrak. Wo er zuvor gewesen war, kauerte nun ein großer Wolf, der sie mit Lears Augen ansah. Nun erkannten beide, welches Schicksal ihnen bevorstand. Marisande schlang ihre Arme um den Hals des Wolfes und weinte heiße Tränen. Er stieß ein Geheul aus, das ihr Herz erzittern ließ. So würde es von nun an sein: Am Tag war er ein Mann und sie die Sperbereule, des nachts wurde er zum Wolf und sie zur Frau. Niemals könnten sie so zusammen sein, auch wenn nichts sie trennen konnte.
https://youtu.be/5rQdSRdH-EA
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