Kapitel 6

Lea

Lea schaffte den nächsten Tag.
Sie bekam sicher drei Sätze der Vorlesung mit, immerhin.
Sie schaufelte die verkochten Makkaroni in der Mensa in sich rein, ignorierte flirtende Blicke einiger Kommilitonen.

Es hatte schon die Runde gemacht, dass der blöde Oliver jetzt mit Dolly zusammen und die wunderschöne Lea wieder frei war.

Sie bemerkte die laut lachende Dolly, die sich demonstrativ auf Olivers Schoß niedergelassen hatte und ihn fütterte.
Ihn fütterte!

Du kannst ihn haben! wollte sie der anderen zurufen. Ich kann ihm auch noch eine Schleife um den Hals binden! Da kannst du dein Hündchen dann dran spazieren führen!

Genervt sprang sie auf, dass der Stuhl umfiel. Oliver bezog ihren Ausbruch auf sich, schob Dolly weg, lief Lea nach.

„Lea! Warte!" rief er, hatte wieder Hoffnung geschöpft.
„Was?" schrie sie ihn an. „Lass mich in Ruhe!"
„Rede doch mit mir!" bat er.
„Worüber? Über dein Schoßhündchen oder über ihres? Du bist mir herzlich egal, Oliver! Ich hätte sowieso Schluss gemacht in nächster Zeit! Du hast es mir leicht gemacht!"

Damit ließ sie ihn stehen, lief zur Bushaltestelle. Unterwegs erinnerte sie sich, dass sie ja noch ein Seminar hatte.
Sie ließ sich auf eine Bank fallen. Mein Gott, wo hatte sie nur ihren Kopf?
Was war denn nur los mit ihr?
Es war eine Nacht gewesen.
Aber was für eine.

Doch sie wusste gar nichts von ihm.
Er konnte ein Volltrottel sein.
Arrogant.
Eingebildet auf seine Erfolge.

Er konnte ein Langweiler sein.
Er konnte eine Träne sein.
Ja, er war bestimmt ein Volltrottel, der eben gut im Bett war.
Im Bett.
Ja, im Bett war er gut!
Womit wir wieder beim Thema wären! dachte sie sarkastisch.

Aber die Sehnsucht nach seinem Körper, seinen Händen, seinen Lippen würde vergehen.
Wenn es ihr Herz erwischt hätte, wäre es schlimmer.
Und das hatte es ja zum Glück nicht.
Nicht im Geringsten.

Ihr Herz hatte gar nichts mit den Tränen zu tun, die ihr übers Gesicht liefen.
Ihr Herz!
Ihr Herz schrie!
Nein! Tut es nicht!
Es blutet!
Nein, niemals!

Taumelig stand sie auf, machte sich auf den Weg zum Seminar. Sie musste sich konzentrieren, musste sich ablenken.
Tränenblind lief sie direkt in David hinein, den Doktoranden, der die Veranstaltung leitete und der sie schon eine Weile vorsichtig und zurückhaltend anschmachtete.

„Hoppala!" rief er erstaunt aus und hielt sie etwas länger fest, als es nötig gewesen wäre. Dann sah er, dass sie weinte.
„Was... was...was ist denn los?" stotterte er. 

Da er alles, was Lea betraf, mit offenen Augen und Ohren wahrnahm, hatte er schon mitgekriegt, dass Oliver mit Dolly rummachte.

„Du weinst doch nicht um diesen Trottel?" fragte er ungewöhnlich mutig.
Lea befreite sich aus seiner Umarmung. Das war jetzt schon etwas peinlich.
„Um Oliver? Nein! Um Gottes willen!" wies sie schniefend weit von sich.

„Aber.... aber du weinst um einen Mann?" druckste David heraus.
Sie sah in seine traurigen braunen Augen. „Ja!" stieß sie hervor und hatte keine Ahnung, warum sie ihn damit quälen musste.
Geteiltes Leid ist halbes Leid? dachte sie. Schön wär's!

„Willst du darüber reden?" fragte der junge Mann und wusste nicht, warum er sich damit quälen lassen sollte. Aber sie schien einen Freund bitter nötig zu haben, und ihr Freund zu werden, war mehr, als er je zu hoffen gewagt hatte.

„Es ist eine uralte, immer wieder kehrende Geschichte!" Sie konnte sogar lächeln. „Ich habe einen verheirateten Mann angebaggert, mit ihm eine wunderbare Nacht verbracht, und jetzt ist er wieder zu seiner Frau zurück. Also, ich wusste das von Anfang an. Er hat mit offenen Karten gespielt, und ich habe ihn trotzdem mitgenommen."

Warum hatte sie das jetzt erzählt? dachte sie verwundert.
Aber der Mann mit den traurigen Augen, der sie immer ein wenig wie ein Dackel angesehen hatte, schien sie zu verstehen. 

"Du hast dich verliebt in ihn?" fragte er

"Nein!" wies sie weit von sich.

Seine Blicke schienen in ihr Inneres zu sehen. Er hob eine Augenbraue, was sie zum Lächeln brachte.
"Vielleicht ein bisschen?" gestand sie sich und ihm ein.

„Und Liebe kann ganz schön wehtun, nicht wahr?" antwortete er.
Lea nickte.
„Aber sie gehört eben zum Leben dazu. Glückliche Liebe - unglückliche Liebe. Man muss alles erfahren. Du bist so jung, Lea, du wirst dich noch oft verlieben. Du wirst Männer glücklich machen und auch unglücklich, du wirst lachen, und du wirst weinen. Freu dich doch darüber, dass du lebendig bist."

Sie sah ihn verblüfft an. Der unscheinbare Mann war ja ein Philosoph!
„Das hast du schön gesagt!" flüsterte sie.
„Das freut mich. Und vielleicht hilft es ja auch ein bisschen!" antwortete er. „Wenn du einen Freund brauchst, Lea, ich bin für dich da. Auch wenn ich verknallt in dich bin, was du sicher schon bemerkt hast."
Er lächelte sie selbstironisch an. „Aber jetzt gehen wir lieber rein. Sonst dichten sie uns gleich eine Affäre an, und das ist ja das Letzte, was wir wollen, nicht wahr?"

Lea lachte.
Der Typ war echt gut drauf.
Das hatte sie gar nicht vermutet. Er hatte sie mitten im tiefsten Weltschmerz tatsächlich zum Lachen gebracht.

David brachte das Seminar aufgekratzt hinter sich.
Er fühlte sich verdammt gut.

Oliver hatte die beiden eifersüchtig beobachtet.
Sollte das der Typ sein, mit dem sie die ganze Nacht gef.... hatte? Er konnte das Wort noch immer nicht denken im Zusammenhang mit ihr.
Lea f..... man nicht!
Lea liebte man!
Vorsichtig, denn sie war sehr kostbar.
Nicht zu wild, nicht dass man ihr wehtat.
Nicht zu oft, man durfte nicht zu viel von ihr verlangen.
Und er verstand nicht, wie falsch er mit seiner Meinung lag.

Einigermaßen getröstet machte sich Lea auf den Heimweg. Sie wollte zu Fuß gehen, in der kleinen Großstadt gab es keine sehr weiten Wege. Von der Uni zur Innenstadt ging es immer bergab, es war ein wunderbarer Sommernachmittag, den sie mit allen Sinnen in sich aufnahm.

Allerdings war hier an der stark befahrenen Einfallstraße, die direkt von der Autobahn an der Uni vorbei in die Innenstadt führte, nichts von Vogelstimmen zu hören oder gar Blumenduft zu riechen. Doch die leichte Brise, die die Schwüle vertrieben hatte, wehte leise Musik aus den offenene Fenstern der Studentenheime herüber. Lachende  Menschen bevölkerten die beiden Biergärten, die an ihrem Weg lagen. Es duftete nach Bratwürsten und gegrilltem Fleisch.

Auch eine Art von Sommerduft! dachte sie lächelnd.

David hatte ihren Schmerz etwas gelindert, sie konnte wieder nach vorne sehen.

 Doch in der Wohnung brach die Schwermut wieder durch.
Sie musste sich beschäftigen. Sie zog das Bett ab, das Kissen war noch feucht von den Tränen der letzten Nacht.
Das Laken duftete nach ihm, sie vergrub das Gesicht darin.

Nein!
Weinen würde sie nicht!
Sie würde sich nur erinnern, an seinen Körper erinnern, der sich so vollkommen angefühlt hatte. An seine Hände, die wie Schmetterlinge gewesen waren.
Mitten in ihren Träumen schlief sie ein.

Als sie aufwachte, hatte sie einen Bärenhunger. Sie bezog das Bett fertig und machte sich auf den Weg zum Imbiss, drehte im Kopf Oliver noch einmal eine lange Nase.

Sie sah ihn schon von weitem. Sie hätte ihn unter Tausenden erkannt.
Er stand am Tisch neben dem Imbiss und ließ sich eine Riesenportion Pommes schmecken.

Sie sollte umdrehen!
Sie sollte weglaufen!
Ganz schnell!
Ganz weit!
Warum war er hier?
Hoffte er darauf, sie wiederzusehen?

Aber das wäre ja schon ein  großer Zufall. Er konnte ja nicht den ganzen Tag hier stehen, weil sie vielleicht Hunger bekam.
Außerdem wusste er, wo sie wohnte.
Wenn er sie sehen wollte.

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